Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
in London gewesen. Wie lange war das jetzt her? Sie sammelte die leeren Fläschchen ein, warf sie in den Mülleimer und schlüpfte dann in saubere Unterwäsche. Danach kramte sie in ihrem Rucksack nach zwei Müsliriegeln, die sie vom Frühstückstisch in Children’s Retreat hatte mitgehen lassen. Die und ein Zahnputzbecher voll mit Leitungswasser mussten als Abendessen reichen, aber das war nicht weiter schlimm. Sie war schon länger mit weniger ausgekommen.
Zum Ausgleich für das karge Mahl lümmelte sie sich vor den Fernseher. Endlich mal konnte sie sich durch sämtliche TV-Kanäle zappen, ohne dass eine Erzieherin ihr befahl, ins Bett zu gehen.
In dieser Nacht träumte sie erneut, dass sie durch das Moor lief. Diesmal jedoch stieß sie im Traum nicht zufällig auf das Herrenhaus, sondern sie suchte gezielt danach, denn sie hatte das unbändige Gefühl, dass Alice wollte, dass sie das tat. Im Traum war es, als würde ihre Seele sie zu diesem Haus treiben, weil sie die von Alice suchte, weil sie wieder ganz sein wollte. Bevor sie Alice jedoch fand, wachte sie schweißgebadet auf.
Als es Zeit für das Frühstück war, duschte sie, dann zog sie sich an. Im Licht der Badezimmerlampe wirkten die Abdrücke von Christophers Fingern an ihrem Handgelenk lila, was fieser aussah, als es war. Die Prellung tat kaum weh und Jessa hatte sie beinahe sofort wieder vergessen. In dem Moment, als sie die Zimmertür öffnete, um hinunter in den Frühstücksraum zu gehen, kam ein junger Mann aus dem Nachbarzimmer.
»Oh. Guten Morgen«, grüßte er. Er war einen ganzen Kopf größer als sie und sah auf eine kompakte Art stark und sportlich aus. Er hatte einen dichten roten Hipsterbart, einen von der Sorte, die Jessa unfassbar albern fand. »Auch so früh aus dem Bett gefallen?«, erkundigte sich der Typ.
Sie nickte nur.
Er ließ sich davon nicht beirren. »Mein Name ist Henry«, stellte er sich vor und hielt ihr eine Zwischentür auf.
»Danke«, murmelte sie, ging hindurch und verzichtete darauf, ihm zu sagen, wie sie hieß.
Wenn es ihn ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken. Er hielt ihr ebenso galant auch noch die Tür des Frühstücksraums auf und zu ihrer Erleichterung suchte er sich einen Tisch in einigem Abstand von ihrem.
Am Frühstücksbüfett allerdings traf sie ihn wieder.
»Gerade erst angekommen?«, fragte er.
Wieder nickte sie nur. Vielleicht kapierte er ja irgendwann, dass sie nicht mit ihm quatschen wollte.
Er grinste breit. »Wie eine Touristin siehst du nicht aus.«
»Bin ich auch nicht.« Sie biss sich auf die Lippe und lud sich Eier und Speck auf einen Teller.
»Sondern?« Er wartete auf eine Antwort und als sie einfach schwieg, setzte er nach: »Was hast du heute so vor, meine ich.«
Ihr Blick huschte durch das Fenster in die Ferne auf der Suche nach einer passenden Antwort. »Ich mache einen Spaziergang durchs Moor und suche mir einen Felsen, von dem ich mich stürzen kann, um keine dummen Fragen mehr beantworten zu müssen.«
»Oha.« Er lachte. »Kapiert. Sorry, ich lass dich schon in Ruhe.«
Sie sah ihm ins Gesicht. Er wirkte eigentlich ganz nett, aber um ihn das nicht merken zu lassen, wandte sie ihm den Rücken zu. Mit ihrem Teller kehrte sie zu ihrem Platz zurück und ließ es sich schmecken. Nachdem sie alles restlos verputzt hatte, ging sie ein zweites Mal, um sich Früchte und Joghurt zu holen. Beim dritten Gang, bei dem sie sich für Toast mit Marmelade entschied, nickte Henry ihr anerkennend zu. »Gesunder Appetit«, kommentierte er.
Darauf reagierte sie gar nicht. Sie hatte eigentlich vorgehabt, das Frühstück so lange auszudehnen, bis die Bibliothek öffnen würde, aber irgendwann hielt sie Henrys ständige, betont unauffälligen Blicke nicht mehr aus und beschloss zu gehen.
»Schönen Tag noch«, wünschte er, als sie schon an der Tür war.
Sie zwang sich zu einem einigermaßen freundlichen Tonfall. »Dir auch.«
Sie ging auf ihr Zimmer, putzte sich die Zähne und ging auschecken.
An Pamelas Stelle saß heute Morgen ein freundlicher junger Mann, der ihr mit einem strahlenden Zahnpastalächeln einen »wundervollen Tag« wünschte. Draußen auf dem Parkplatz gab Jessa die Adresse der Bibliothek in ihr Handy ein. Das Gebäude war ganz in der Nähe, aber das war hier wohl alles.
Haworth war sehr viel kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, und das bedeutete, sie würde keine fünf Minuten brauchen, um bei der Bibliothek anzukommen. Sie beschloss, die Zeit, bis die öffnete, mit einem Spaziergang rumzubringen.
Die Luft über dem Moor war so früh am Morgen glasklar, sodass es schien, als wolle das Wetter den Nebel und damit den gestrigen Tag wiedergutmachen. Der Himmel hatte die Farbe einer tausendmal gewaschenen Jeans und die wenigen Wolken, die darüber hinsegelten, sahen aus wie schneeweiße Wattebälle. Zu alldem bildete die Heide mit ihrem flammenden Violett einen scharfen Kontrast. Der einsame Baum, der auf dem höchsten der Hügel stand, reckte seine Zweige Richtung Osten, als wolle er nach dem Horizont greifen.
Christopher stützte den Unterarm gegen das Fenster des Speisezimmers und lehnte die Stirn gegen den Handrücken. Er hielt sein Smartphone in der Hand, aber er zögerte, Henry anzurufen. Der würde sich schon darum kümmern, dass Jessa nicht wieder auf die Idee kam, hierher zurückzukehren. Es war nicht nötig, sich dessen ständig zu versichern, auch wenn das Bedürfnis danach groß war.
»Idiot!«, murmelte er zu sich selbst.
»Wer?«, fragte Adrian hinter seinem Rücken. »Du? Oder ich?«
Christopher wandte nur kurz den Kopf zu ihm. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Schädel und er war er unendlich müde. Er hatte die Nacht so gut wie gar nicht geschlafen, hatte sich ruhelos herumgewälzt und darüber nachgegrübelt, wie Alice’ Schwester hierhergefunden hatte. Ob sie ahnte, dass Alice hier gewesen war. Was er tun sollte, wenn sie noch mal herkam. Und nicht zuletzt: was er und Adrian machen sollten, würde es wieder von vorn losgehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Adrian. Er saß am Esstisch und versuchte zu frühstücken. Aber nach der Rühreimenge zu urteilen, die noch immer auf seinem Teller lag, hatte er ebenso wenig Appetit wie Christopher. Kein Wunder. Jessas Auftauchen hatte auch ihn bis ins Mark erschüttert. Christopher hätte zu gern gewusst, wie er die Nacht verbracht hatte, aber er traute sich nicht zu fragen.
Um ihm auszuweichen, ließ er den Blick durch das Speisezimmer schweifen. Der Kontrast zwischen den antiken Seidentapeten und Möbeln und der billigen Pfanne, aus der Adrian aß, war irgendwie lächerlich. Christopher schaute wieder hinaus auf das Moor. »Die Heide steht in Flammen. Heather hätte jetzt ihre Staffelei geholt und gemalt.« Es fühlte sich auf perverse Weise gut an, ihren Namen zu erwähnen. Es ließ den gleichmäßigen, dumpfen und dadurch so unerträglichen Kummer in seinem Inneren für eine Sekunde zu einem grellen, reinigenden Brennen werden. Er unterdrückte den Wunsch, hinaus auf den Friedhof zu Heathers Grab zu gehen.
Er hörte, wie Adrian die Gabel auf dem Pfannenrand ablegte. Sein Schweigen war vorwurfsvoll.
Christopher schloss die Augen. Verdammt! Seit Jessas Auftauchen fühlte er sich dünnhäutig, nein, mehr noch, es war, als hätte er überhaupt keine Haut mehr. Als würde ihn der kleinste Luftzug schreien lassen. Mit der flachen Hand rieb er sich über das Gesicht.
»Du machst dir Sorgen, dass sie zurückkommt, stimmt’s?«
»Henry überwacht sie«, sagte er. »Er sorgt dafür, dass sie nicht wieder hier auftaucht.«
Wen wollte er damit beruhigen? Adrian? Oder doch eher sich selbst? Er hatte Jessa kennengelernt und er hätte ein Volltrottel sein müssen, um zu glauben, dass sie sich so einfach von High Moor Grange fernhalten lassen würde.
Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus. Schließlich war es Adrian, der als Erster wieder sprach. »Wo hast du die Revolver, Christopher?«
Die Worte ließen Christopher beinahe in die Knie gehen. Seit fünf Jahren war da dieses ständige Wispern in ihm, dieses permanente: