Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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bis der Nebel den unmöglichen Typen verschluckt hatte. Sie konnte hören, wie er das Bike anwarf, und war schon froh, dass sie ihn los war. Aber zu ihrem Ärger näherte sich das Geräusch. Er kam ihr nach!

      Wollte er kontrollieren, ob sie wirklich verschwand?

      Offenbar.

      Sie beschloss, so würdevoll wie nur möglich weiterzugehen. Stur schaute sie geradeaus und auch als er langsam neben ihr herfuhr, würdigte sie ihn keines Blickes. Na ja, wenn sie ehrlich war, stimmte das nicht ganz. Aus dem Augenwinkel schielte sie ein-, zweimal zu ihm hinüber, betrachtete sein Profil. Er war ganz schön blass, dachte sie. Die Schrammen in seinem Gesicht hoben sich grell gegen seine Haut ab. An seinem Mittelfinger der rechten Hand glänzte ein breiter Silberring mit verschlungenen, sehr alt aussehenden Mustern. Irgendwie gefiel ihr das Teil.

      Wütend über ihn, über sich selbst und darüber, dass sie überhaupt irgendwas an ihm gut fand, marschierte sie neben seiner Maschine her, bis sie zu dem Tor kamen.

      »Wie bist du da nur drübergekommen?«, fragte er mehr sich selbst, während er einen Schlüssel aus der Tasche nestelte und das Tor aufschloss.

      »Ich bin geflogen.«

      Er sah sie abschätzig an und stieß das Tor auf. »Raus!«

      Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen, immerhin war sie unrechtmäßig auf seinem Land. »Na dann, schönes Leben noch«, sagte sie, weil sie dachte, er würde hinter ihr wieder abschließen und verschwinden. Doch er dachte nicht daran. Er schob seine Enduro durch das Tor und machte sich erst danach daran, es wieder zu verschließen.

      »Du willst aber nicht den ganzen Weg bis zur Straße mitkommen!«, entfuhr es Jessa.

      Mit einem undurchdringlichen Blick sah er sie an. »Doch. Nur zur Sicherheit, falls dir wieder Flügel wachsen.«

      Sie war drauf und dran, ihm die Zunge rauszustrecken. Gerade noch konnte sie sich davon abhalten.

      Er lachte leise und begleitete sie bis hinunter zur Straße. Dort blieb er bei ihr, bis der Überlandbus sich näherte. In Jessa kochte es, trotzdem erschrak sie, als er unvermittelt mit erhobenem Arm auf die Straße trat. Er überfährt dich! Aber der Busfahrer sah ihn rechtzeitig, bremste und hielt an. Es war ein anderer Bus als der, mit dem sie vorhin gefahren war. Dieser Fahrer wirkte weitaus weniger freundlich und schien nicht besonders amüsiert darüber zu sein, dass er auf freier Strecke halten musste. Trotzdem öffnete er die Türen.

      »Einsteigen!«, befahl der Motorradtyp Jessa und schob sie die Stufen hinauf. Er selbst stieg hinter ihr ein. »Die junge Dame fährt bis Haworth«, sagte er, zog eine schmale Börse aus seiner Hosentasche und bezahlte die Fahrt.

      Der Fahrer musterte sie abschätzig und aus irgendeinem bescheuerten Grund kam Jessa sich in ihren abgetragenen Klamotten plötzlich schäbig vor. Die Sachen, die der Typ trug, wirkten teuer und elegant.

      Sie verdrehte die Augen. Was war das denn plötzlich für eine seltsame Anwandlung? Sie gab doch sonst nichts auf ihr Äußeres. Ganz im Gegenteil. Das Leben auf der Straße hatte ihr beigebracht, dass es nicht darauf ankam, was man besaß oder am Leib trug.

      »Setz dich lieber!«, riet der Typ ihr. »Die fahren hier manchmal einen ziemlich heißen Reifen.« Er nickte dem Fahrer knapp zu und stieg wieder aus.

      Die Türen schlossen sich mit einem Zischen hinter ihm.

      Durch die Scheibe hindurch starrte Jessa ihn wütend an. Täuschte sie sich oder waren die Striemen in seinem Gesicht plötzlich weg? Vermutlich war es doch kein Blut gewesen, das sie da vorhin gesehen hatte, sondern einfach nur Dreck, den er weggewischt hatte. Sie sah zu, wie er sich seiner Maschine zuwandte. Er schien sie schon vergessen zu haben. Sein Humpeln war jetzt deutlicher zu sehen.

      Zornig warf sie sich auf einen freien Sitz. »Was für ein Blödmann!«, grummelte sie und als der Bus die nächste Kurve umrundet hatte und der Typ außer Sichtweite war, sprang sie auf. »Bitte halten Sie noch mal an!«, rief sie.

      Dieser Idiot würde sie nicht davon abhalten, nach High Moor Grange zu gehen und dort nach ihrer Schwester zu suchen!

      Das zweite Mal über den Zaun zu kommen, war mühsamer als zuvor, weil ihr Knie von dem Zusammenprall mit dem Idioten noch ein bisschen schmerzte. Aber sie hatte schon Schlimmeres ausgehalten, darum gelang es ihr auch diesmal, auf die andere Seite zu klettern. Der Weg dahinter allerdings zog sich jetzt wie Kaugummi. Nässe drang durch Jessas Stiefel und machte ihre Socken rau und klebrig. Die Haare hingen ihr in wirren, feuchten Strähnen ins Gesicht. Ihre Schultern schmerzten, obwohl ihr Rucksack nur wenige Habseligkeiten enthielt. Sollte sie vielleicht doch lieber umkehren? Was zog sie schließlich hierher außer einem vagen Gefühl aus einem Traum?

      Sie blieb stehen. Es waren Meilen zurück bis nach Haworth und ein weiterer Bus würde so schnell vermutlich nicht kommen. Außerdem wollte sie diesem arroganten Arsch auf keinen Fall die Genugtuung gönnen, sie vertrieben zu haben.

      Also marschierte sie weiter. So weit konnte es schließlich bis zu dieser bescheuerten Ruine nicht mehr sein.

      Irgendwann machte der Weg eine Biegung. Wenn High Moor Grange nach der nächsten Kurve nicht auftauchte, würde sie wirklich umdrehen.

      Die nächste Kurve kam, in der Mauer direkt dahinter wuchs ein krüppelig aussehender Busch. Missmutig starrte Jessa die Nebelfetzen an, die in den nassen Zweigen hingen, und dann zuckte sie zusammen, weil sich direkt vor ihr eine Gestalt aus dem Nebel schälte. Im ersten Moment sah es so aus, als habe sie keinen Kopf, doch als Jessa genauer hinsah, erkannte sie, dass die Gestalt eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.

      Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen.

      »Hallo?«, rief sie. Ihre Stimme kam ihr piepsig vor, das ärgerte sie.

      Die Gestalt regte sich nicht. In dem einheitlichen, konturlosen Grau wirkte sie knochenbleich und schweigsam.

      Zögernd machte Jessa den nächsten Schritt. »Entschuldigen Sie …«, begann sie und dann musste sie über sich selbst lachen, als sie erkannte, was sie da vor sich hatte.

      Es war eine Marmorstatue! Wie peinlich!

      Sie ging näher heran, schaute der Skulptur ins Gesicht. Es war die Darstellung einer Frau in antiken Gewändern. Das, was Jessa für eine Kapuze gehalten hatte, war eine Art Schleier, der die Haare und auch die Stirn der Figur bedeckte. Ihre Züge wirkten edel und sehr traurig – fast wie die einer Grabstatue.

      Als der Nebel sich kurz lichtete, schweifte Jessas Blick nach links.

      Eine ganze Reihe dieser kalten Marmorgestalten säumten den Weg, alle hielten sie die Köpfe gesenkt, alle sahen sie so betrübt und verloren aus wie die erste. Jessa musste an eine Armee verzauberter Jungfrauen denken, die von einem unheilvollen Fluch auf ewig hier an diesen trostlosen Ort gebannt worden waren.

      »Sei nicht albern!«, ermahnte sie sich. Gruselig, wie der Nebel ihre Stimme erstickte!

      Sie folgte der Reihe der Statuen eine kleine Anhöhe hinauf und endlich schälten sich Gebäudeumrisse aus dem Nebel. Gleich darauf stand sie vor einer Ruine. Sie sah verfallene Gebäudeteile ohne Dächer, leere Fensterhöhlen und eine Freitreppe, der wie einem schadhaften Gebiss ganze Teile fehlten. Ein halb eingestürzter Turm überragte all das.

      Es sah unheimlich aus, wie die Fassade sich hinter den Nebelschwaden verbarg, freigegeben wurde, wieder verschwand. Die leeren Fenster wirkten wie blinde Augen und es fiel Jessa nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Wind in ihnen sang, wenn es einmal nicht neblig war. Für eine Sekunde glaubte sie, Stimmen und Gelächter von längst verstorbenen Menschen zu hören, die durch die Jahrhunderte zu ihr wehten.

      Sie fröstelte. Was jetzt?

      Da war keine Spur von dem Gefühl von Alice’ Nähe. Was hatte sie auch erwartet?

      Jessa überlegte. Das Gemäuer war gruselig. Sollte sie es sich trotzdem genauer ansehen? Unentschlossen biss sie sich auf die


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