Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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Sie rieb sich das schmerzende Knie, dann trat sie mit einem Anflug von Nervosität näher an das verfallene Anwesen heran. Obwohl die Sonne nicht schien, fühlte es sich an, als falle ein Schatten auf sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ein schwaches Kribbeln erfasste ihre Haut, aber das war vermutlich nur die Aufregung.

      Bei der Freitreppe wandte sie sich nach links. Der Nebel war so nah beim Gebäude nicht mehr ganz so dicht, trotzdem suchte Jessa mit einer Hand an der Mauer Orientierung. Sie kam an eine Hausecke, umrundete sie und kurze Zeit später erreichte sie eine Treppe, die zu einer Terrasse hinaufführte, auf der die kaputten Fenster bodentief waren. Die Stufen der Treppe waren mit Terracottafliesen belegt, von denen keine einzige mehr intakt war. Einen Fuß vor den anderen setzend, tastete Jessa sich nach oben und dort bis zu einem der leeren Fenster.

      Glasscherben knirschten unter ihren Stiefeln. Vor ihr befand sich ein altmodischer Salon. Jessas Blick wanderte über Polstermöbel, deren geblümter Stoff verblasst und modrig wirkte. Auf einem Tisch lag fingerdicker Schmutz, genauso wie auf dem benutzten Teegeschirr und der Etagere mit längst verrotteten Sandwiches.

      Es sah aus, als seien die Bewohner vor Jahrzehnten nur mal eben zu einem Spaziergang ins Moor aufgebrochen und nie wieder zurückgekommen. In einem Kamin, in dem bestimmt schon seit hundert Jahren kein Feuer mehr gebrannt hatte, lag ein Haufen hereingewehter Blätter. Der Spiegel über dem Kaminsims war erblindet. Unheimlich!

      Jessa musste sich ein Herz fassen, um durch den leeren Fensterrahmen ins Haus zu steigen. Auch drinnen knirschten Glasscherben unter ihren Sohlen. Es herrschte eine dumpfe, undurchdringliche Stille, die fast etwas Lebendiges hatte. Lauschend blieb Jessa stehen. Täuschte sie sich oder sang da jemand? Ganz kurz glaubte sie, die Melodie eines alten Kinderliedes zu hören, das Alice früher immer gesungen hatte. Aber als sie die Luft anhielt, war da nur das Blut, das in ihren Ohren rauschte.

      Sie setzte einen Fuß vorwärts … und brach durch das morsche Parkett. Ihr Schienbein schrammte schmerzhaft an der Holzkante entlang, aber zum Glück stieß ihr Fuß nach kaum zwanzig Zentimetern auf irgendein Hindernis, sodass sie nicht stürzte.

      Leise fluchend zog sie ihr Bein aus dem Loch und untersuchte es. Sie hatte sich die Haut aufgeschürft, doch das meiste hatte ihre Jeans abgekriegt. Nicht weiter schlimm.

      Sie richtete sich auf und sah sich um. Plötzlich kam sie sich unendlich albern vor, weil sie sich von einem Gefühl aus einem Traum hierher hatte locken lassen.

      Kopfschüttelnd durchquerte sie den kleinen Salon und verließ ihn durch eine Tür, die schief in den Angeln hing. Ein breiter Gang erstreckte sich in beide Richtungen. Der Boden war mit einem langen rostroten Läufer bedeckt. Mehrere Türen gingen von dem Flur ab und zwischen ihnen hingen Gemälde mit den Porträts von schlecht gelaunten Herren und Damen aus früheren Jahrhunderten.

      Am Ende des Ganges lag eine Tür mit Glaseinsätzen, in die stilisierte Bücher geätzt worden waren. Aus irgendeinem Grund kam ihr der Anblick bekannt vor.

      Erneut fröstelte sie.

      »Alice?« Bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie den Namen ihrer Schwester geflüstert.

      Es schien, als würde das Wort von den Wänden widerhallen.

      »Alter!«, murmelte Jessa.

      Dann ging sie zu der Tür mit den Büchern darauf.

      Der Geruch der alten Bücher, dieses feine Aroma von Leder und Papier, war einer von Adrians Lieblingsgerüchen, darum hielt er sich oft allein in der Bibliothek auf. Er stand an einem der bodentiefen Sprossenfenster und sah zu, wie der Nebel vor der Scheibe waberte. Er wusste, dass Christopher bei diesem Wetter unruhig und reizbar war, und er war froh, dass es ihm vorhin gelungen war, ihn mit dem Schachspiel wenigstens für ein paar Stunden abzulenken. Aber jetzt war dieser Idiot mit seinem Motorrad dort draußen und Adrian machte sich Sorgen um ihn. Zwar gab es nicht wirklich einen Grund dafür, schließlich würde Christopher selbst bei einem schweren Unfall nicht sterben, aber trotzdem erfüllte es Adrian mit Grauen, wenn er daran dachte, wie Christopher durch den dichten Nebel bretterte.

      Er schüttelte den Kopf, wandte sich vom Anblick des Nebels ab und trat vor das Regal mit naturwissenschaftlichen Büchern, die noch sein Vater gesammelt hatte. Langsam ließ er die Fingerkuppen über die Rücken wandern. Bei der Erstausgabe von Darwins Über die Entstehung der Arten, von der er Christopher vorhin erzählt hatte, hielt er inne. Ein wehmütiges Gefühl stieg in seinem Innersten auf. Wie stolz sein Vater gewesen war, dieses Buch zu besitzen! Darwin persönlich hatte es signiert.

      Adrian zog den schweren Band heraus und nahm ihn mit zu der Ledercouch vor dem Kamin. Das Feuer im Kamin, das er entzündet hatte, um die klamme Kälte aus dem Raum zu vertreiben, knackte leise. Er setzte sich und schlug die erste Seite auf. Eine Weile betrachtete er die verschnörkelten Buchstaben von Darwins Handschrift, dann blätterte er weiter. Er wollte gerade anfangen zu lesen, als er glaubte, eine Stimme zu hören.

       »Alice?«

      Adrians Kopf ruckte hoch. »Nein!«, keuchte er.

      Die Glastüren schwangen mit einem durchdringenden Quietschen auf. Jessas Blick fiel auf hohe Bücherregale, deren Inhalt teilweise herausgerissen und zu Haufen auf dem staubigen Boden aufgeschichtet dalag. Die gerafften Vorhänge an den zerborstenen Fenstern waren zerschlissen, ihre Farbe kaum noch zu erkennen. Ein riesiger, seit Jahrhunderten erkalteter Kamin war mit Spinnweben überzogen, überall lag der Staub fingerdick und etliche der Bücher, die noch in den Regalen standen, schienen von einer grünen Schicht überzogen zu sein, die wie Moos aussah. Jessa glaubte, Wasser von den Wänden tropfen zu hören. Ihr Blick glitt zu einer uralten, rissigen Ledercouch, aus der die Polsterung quoll. Genau in diesem Augenblick erstarrte sie.

      Denn vor dem Sofa stand jemand.

      Als ihr Blick ihn streifte, wandte er ihr wie von der Tarantel gestochen den Rücken zu. Alles, was sie zu sehen bekam, war ein dunkelgrauer Hoodie, dessen Kapuze der Typ hastig über den Kopf zog. Seine Haltung wirkte irgendwie eigenartig: leicht vorgebeugt wie bei einem alten Mann und gleichzeitig sprungbereit und voller Spannung. Eines der alten Bücher lag aufgeschlagen auf der zerschlissenen Couch. Hatte der Typ etwa hier in all diesem Dreck gesessen und gelesen?

      »Bitte«, stieß er eigenartig flehentlich hervor. »Geh! Verlass diesen Ort so schnell es geht!«

      Vor lauter Verwirrung rettete sich Jessa in das Mittel, das ihr schon oft in brenzligen Situationen geholfen hatte. Sie stellte sich stur. »Und wieso?«, gab sie ziemlich unfreundlich zurück. Sie erwartete, dass der Typ sich zu ihr umdrehen würde, aber das tat er nicht.

      »Weil du uns in Gefahr bringst«, sagte er. Er hatte eine unheimliche Stimme, flach, irgendwie wie ein Rascheln. »Vor allem meinen Bruder.«

      »Ich bringe niemanden in …«, setzte Jessa an, aber sie wurde rüde unterbrochen, weil der Motorradtyp plötzlich auf der anderen Seite des Raumes auftauchte.

      »Was zur Hölle machst du hier?« Auch seine Stimme war flach und tonlos, aber im Gegensatz zu dem anderen klang er zornig.

      »Wer ist sie?«, stieß der Typ mit der Kapuze hervor. »Was sucht sie hier?«

      »Ganz ruhig, Adrian«, sagte der Motorradtyp. »Ich sorge dafür, dass sie sofort wieder verschwindet.« Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er auf Jessa zu und seine Stiefel wirbelten dabei eine Menge Staub auf. »Ich habe dir gesagt, dass das hier Privatbesitz ist!«, fauchte er und bedrängte sie mit dem ganzen Körper. »Wie kannst du es wagen, hier trotzdem …«

      »Ist ja schon gut!«, fiel Jessa ihm ins Wort. Sie wusste, sie war in der Defensive, und so reagierte sie auf die einzig mögliche Weise. Mit erhobenen Händen wich sie zurück. »Ich wollte …«

      »Interessiert mich nicht! Verschwinde von hier!« Sein verzerrtes Gesicht und das fassungslos-zornige Funkeln in seinen Augen machten ihr Angst. Weil sie nicht sofort kehrtmachte, packte er sie grob am Arm.

      »Aua!«, protestierte sie. »Du tust mir weh!«

      »Umso besser! Dann merkst du’s dir hoffentlich diesmal.« Er warf dem Kapuzentypen, den er Adrian genannt


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