Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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war erbarmungslos. Außerdem hatte er mindestens doppelt so viel Kraft wie sie. Es nützte überhaupt nichts, dass sie die Füße gegen den Boden stemmte – er zog sie einfach weiter, als würde sie sich überhaupt nicht sträuben.

      »Henry!«, schrie er, als sie eine riesige Halle erreichten, in der staubige Spinnweben wie zerschlissene Vorhänge von der Decke und den umlaufenden Galerien hingen und rostige Rüstungen herumstanden. Scheiße, wie viele Typen rannten in diesem gammeligen Kasten denn noch rum?

      »Henry! Henry! Herrgott noch mal! Wo steckt dieser Trottel, wenn man ihn braucht?«

      Da sich der Trottel offenbar in Luft aufgelöst hatte, zerrte der Typ Jessa weiter, durch eine verborgene Tür in einen schmalen und schmucklosen Gang, der durch eine Art Waschküche hinaus ins Freie führte.

      Sie überquerten den mit Unkraut überwachsenen Innenhof und steuerten den Stall an. Mit Wut stieß der Motorradtyp eines der Tore auf, es krachte gegen die Wand und eine riesige Staubwolke wallte auf. Vorbei an mehreren leeren Pferdeboxen zog er sie zu einer, in der sein Motorrad aufgebockt stand.

      »Stehen bleiben da!«, kommandierte er, nachdem er Jessa mitten in den Gang gestellt hatte wie eine Schaufensterpuppe.

      Er holte die Maschine aus der Box, packte einen Helm, der auf einer alten Futterkiste gelegen hatte, und knallte ihn ihr vor den Bauch. »Aufsetzen!«

      »Vergiss es!« Wütend schleuderte sie das Ding fort.

      Er schaute zu, wie es in eine Ecke kullerte. Eine seiner Augenbrauen hob sich. »Also gut. Dann eben ohne.« Mit einer eleganten Bewegung schwang er das Bein über den Sitz. »Aufsteigen!«

      Diesmal gehorchte sie. Es blieb ihr ja schließlich auch nicht viel anderes übrig. Sie legte die Arme um ihn. Er war angespannt. Sein gesamter Körper schien aus Stein zu sein wie die Marmorstatuen dort draußen.

      Er wartete, bis sie sicher saß, startete die Maschine und fuhr durch das offene Tor hinaus in den Nebel.

      Zum zweiten Mal brachte Christopher die Kleine mit den unmöglichen Haaren vom Grundstück und bis zur Straße, doch diesmal begnügte er sich nicht damit, sie in einen Bus zu setzen.

      Diesmal fuhr er sie nach Haworth und während er die fast schnurgerade Landstraße an Watersheddles Reservoir mit überhöhter Geschwindigkeit entlangjagte und dabei ihre Arme um seinen Körper spürte, wurde ihm bewusst, dass er unfassbar leichtsinnig war. Er war es so sehr gewohnt, sorglos zu sein und zu schnell zu fahren, dass er völlig vergessen hatte, wie gefährlich das für dieses Mädchen war. Es war noch immer nebelig und wenn er mit ihr hinter sich auf dem Bike einen Unfall baute, dann würde das nicht so glimpflich für sie ausgehen wie bei ihrem ersten Zusammenstoß. Er drosselte die Geschwindigkeit ein ganzes Stück.

      »Was ist?«, schrie sie gegen den Fahrtwind an. »Hast du Schiss bekommen, oder was?«

      Ihre Coolness nötigte ihm fast so etwas wie Respekt ab und er wusste nicht, was er antworten sollte. Im Grunde hatte sie ja recht: Er hatte Schiss, dass ihr etwas passierte. Aber das konnte er ihr ja wohl kaum sagen. Er schüttelte den Kopf und war froh, dass sie das als Antwort akzeptierte. Den Rest der Fahrt hielt sie zu seiner Erleichterung die Klappe.

      Vor dem Brontë-Hotel hielt er an und wartete, bis sie abgestiegen war. »Heute fährt kein Bus mehr«, erklärte er. »Darum wirst du hier übernachten und morgen dann dorthin zurückfahren, woher du gekommen bist.«

      »Und wer hat dir weisgemacht, dass du das zu bestimmen hast?«

      Herrgott noch mal! Wie konnte man nur so widerspenstig sein? Er kletterte ebenfalls vom Motorradsitz. Leicht breitbeinig baute er sich vor ihr auf und setzte seine finsterste Miene auf. Aber sie ließ sich nicht im Geringsten davon beeindrucken. Mit blitzenden Augen hielt sie seinem Starren stand. Und er war tatsächlich der Erste, der den Blick senkte. Scheiße! Irgendetwas musste er unternehmen, damit sie nicht spätestens morgen erneut auf dem Anwesen aufkreuzte und Adrian und ihn damit in unfassbare Gefahr brachte.

      »Ich will dich nur schützen«, sagte er.

      »Klar. Schützen!« Sie schnaubte spöttisch. »Für wen hältst du dich? Für Robin Hood, oder was?«

      Ihre Frage ließ ihn seufzen. »Glaub mir einfach, wenn ich sage, dass es gefährlich für dich ist, auf High Moor Grange rumzulaufen. Und mit High Moor Grange meine ich alles, was sich von hier aus gesehen jenseits des verschlossenen Tores befindet.« Er hätte sie am liebsten geschüttelt, als sie die Augen verdrehte.

      »Dieser Typ«, sagte sie und bewies damit, dass sie nicht vorhatte nachzugeben, »dieser Adrian. Was ist mit ihm? Warum hockt er in diesem staubigen, verfallenen Gemäuer? Und warum zeigt er sein Gesicht nicht?«

      Weil der Anblick dir den Verstand rauben würde! »Nichts davon geht dich auch nur das Geringste an!«

      Kurz sah sie aus, als wollte sie ihm widersprechen, doch dann zuckte sie ziemlich gleichgültig mit den Schultern. »Logisch.« Ihr Blick wanderte an der Fassade des Hotels hinauf. »Ich habe kein Geld, um hier zu übernachten.«

      Na, was für eine Überraschung! So wie sie aussah, lebte sie sonst vermutlich auf der Straße.

      »Komm mit!« Er marschierte direkt zur Rezeption des Hauses, das im typischen englischen Landhausstil eingerichtet war. Im Gehen zog er eine Geldbörse aus der Hosentasche und entnahm ihr seine schwarze Kreditkarte, die er der Rezeptionistin auf den Tresen legte. »Die junge Lady hier braucht ein Zimmer für eine Nacht.«

      »Ich lasse mich von dir nicht aushal…«

      »Halt einfach die Klappe!«, fuhr er ihr über den Mund. Dann lächelte er die Rezeptionistin an. »Meine Cousine hier sollte eigentlich bei uns übernachten, aber leider haben wir einen Wasserschaden.«

      »Wie ärgerlich!«, flötete die Frau und bekam ganz rote Wangen.

      Jessa musste ein Lachen unterdrücken, als sie sah, wie die Rezeptionistin auf den Blödmann reagierte. Wie alt bist du?, dachte sie. Dreizehn?

      Bis eben war sie voller Widerstand dagegen gewesen, sich das Hotelzimmer von diesem Blödmann bezahlen zu lassen, aber was wäre die Alternative? Irgendwo im Freien auf einer Parkbank zu schlafen, bevor sie sich morgen mit dieser Ms Galloway treffen konnte? Vielleicht sollte sie ja das Zimmer als kleine Wiedergutmachung für die rüde Behandlung des Typen verstehen. Sie rieb sich das Handgelenk, an dem noch die Abdrücke seiner Finger zu sehen waren.

      Der Blödmann sah es und warf ihr einen finsteren Seitenblick zu, der in ihr das Bedürfnis wachrief, ihn zu beleidigen. »Wahrscheinlich bist du es gewohnt, dass alles, was Titten hat, dir in null Komma nichts ohnmächtig vor die Füße sinkt, oder?«

      Die Rezeptionistin schnappte nach Luft. Pamela stand auf einem kleinen Schild an ihrem Revers.

      Der Typ starrte Jessa an. »Ich verstehe das als rhetorische Frage«, erwiderte er.

      »Oh. Sehr bescheiden.« Seine betont überlegene Haltung ging ihr auf die Nerven, aber noch viel mehr ärgerte es sie, dass sie sich überhaupt über ihn aufregte.

      Pamela schien peinlich berührt von ihrer Kabbelei. Sie wandte sich ab und gab ein paar Informationen in einen Computer ein. »Wir haben zwei sehr hübsche Einzelzimmer«, sagte sie geschäftig. »Allerdings liegen sie beide zur Straße raus.«

      »Egal. Eins davon nehmen wir.« Die Worte kamen undeutlich heraus und überrascht stellte Jessa fest, dass der Typ sich auf einmal den rechten Nasenflügel zuhielt. Plötzlich wirkte er hektisch.

      »Mit oder ohne Frühstück?«, fragte Pamela.

      Der Blick des Arschlochs glitt an Jessa hinab. »Mit«, sagte er.

      »Sehr gern.« Mit einem Strahlen nahm Pamela seine Karte, zog sie durch ein Lesegerät. Jessa verrenkte sich fast den Hals, um den Namen zu erkennen, der daraufgedruckt war.

      »Christopher«, half der Typ ihr aus.

      Die Scham, weil er ihre Neugier bemerkt hatte, ließ ihre Wangen glühen. »Bilde dir bloß nichts ein«,


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