Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange


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kalt.

      »Muss ich fragen, was das hier zu bedeuten hat, Christopher?«

      Er entschied sich für die Konfrontation und trat einen Schritt näher an sie heran. »Muss ich dich fragen, warum du in meinem Schlafzimmer rumschnüffelst?«

      Wie es ihre Art war, schien sie kein bisschen beschämt zu sein. Klar, dachte er. Sie nahm ihre Rolle in dieser ganzen beschissenen Geschichte eben sehr ernst. Sie gehörte zur Familie. Einer ihrer Urahnen war ein Bruder seines Vaters gewesen – was bedeutete, dass sie hier auf High Moor Grange festsaß, genau wie er. Seufzend ließ er den Kopf hängen. »Nell, ich weiß, dass du nur auf mich aufpassen willst.«

      Nell schaute ihn an. Schweigend.

      »Ich weiß, dass du das für deine Pflicht hältst, weil …«

      »Ich warte auf eine Antwort, Christopher!«, fiel sie ihm ins Wort. »Warum hast du Revolver unter deinem Bett?«

      Er zwang sich, so gleichmütig wie möglich zu wirken. »Was regst du dich auf? Du weißt, dass ich nicht sterben kann, selbst wenn ich mir eine Kugel in den Kopf jage.« Das war so exakt das, was Adrian eben mit weniger drastischen Worten gesagt hatte, dass Christopher beinahe gelacht hätte.

      Nell machte ein Gesicht, als habe er ihr eine Ohrfeige gegeben. »Denkst du darüber nach?«, flüsterte sie. Ihr Blick wanderte in seinem Gesicht umher und er ahnte, dass sie seine Gedanken lesen konnte. Sie wurde ganz blass, als sie begriff, was hinter seinen Worten steckte. »Ihr könnt euch nicht selbst erschießen, aber wenn ihr … euch gegenseitig im selben Moment …« Ihre Stimme brach.

      Dann würde es endlich zu Ende sein, dachte er.

      »Gott, Christopher!«, stieß sie hervor.

      Er nahm ihr die Kiste aus den Händen, schloss sie und schob sie wieder unter das Bett. »Hör zu, Cousinchen …«

      »Wie lange hast du sie schon dadrunter?«

      Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Er überragte sie auf diese Weise um fast anderthalb Köpfe, aber das kümmerte sie nicht. Mit fassungslos und zugleich zornig blitzenden Augen schaute sie zu ihm auf.

      »Wie lange, Christopher?«

      Er wusste, sie würde ihn nicht um die Antwort herumkommen lassen. Und er wusste auch, dass er sie auf seine Seite ziehen musste, damit sie niemandem von diesen Revolvern erzählte. »Seit das mit Alice passiert ist.« Er wollte nicht weiterreden, aber er wusste auch, dass er es ihr schuldig war. Er hatte ihr das schon viel zu lange verheimlicht, aber, Herrgott, musste sie ausgerechnet heute hier herumschnüffeln, wo er genug mit dieser Jessa zu tun hatte? »Wir haben uns damals geschworen, dass keinem Mädchen jemals das Gleiche passiert wie ihr.«

      Nells Lippen teilten sich leicht. Er hasste es, dabei zuzusehen, wie ihre Augen zu schimmern begannen. Nell war jedoch nicht der Typ, der leicht losflennte. Mit bewundernswert fester Stimme sagte sie: »Du glaubst allen Ernstes, dass ich zulasse, dass ihr beide euch gegenseitig erschießt?«

      »Nein!« Sanft berührte er sie an den Oberarmen. »Mach dir keine Sorgen um uns.« Weil er spürte, dass sie das nicht überzeugte, zwang er sich zu einem Grinsen. »Hey! Wir sind tough, das weißt du doch!«

      Nell runzelte die Stirn. »Was, wenn ich sie dir wegnehme?«

      »Versuch es«, erwiderte er.

      »Wissen Dad und Henry davon?«

      Christopher schüttelte den Kopf. »Von den Revolvern? Nein.« Sie wussten von dem Schwur, das reichte.

      »Scheiße, Christopher.« Sie seufzte. »Ich muss Dad und Henry davon erzählen, das ist dir klar, oder?«

      »Nein!« Das eine Wort kam sehr viel schärfer aus seinem Mund, als er beabsichtigt hatte.

      Nell zuckte tatsächlich zusammen.

      Christopher schämte sich. »Hör zu, Nell. Es würde ihnen nur schlaflose Nächte bereiten. Das ist nicht nötig, glaub mir! Solange kein Mädchen hier auftaucht, ist alles gut.« Er zwang sich zu einem Lächeln, von dem er wusste, dass Nell ihm kaum widerstehen konnte. Wie gut, dass sie keine Ahnung von Jessa hatte.

      »Das ist nicht sehr beruhigend!«, klagte sie, aber an der Art, wie sie es sagte, wusste er, dass er gewonnen hatte. Sie würde den Mund halten.

      Vorerst zumindest.

      Das Zimmer war klein, aber gemütlich eingerichtet. An der Wand über dem Bett hing eine Kopie des Gemäldes mit den Schwestern Brontë, das sich auch auf Alice’ Taschenbuch befand. Jessa blieb eine Weile lang mitten im Raum stehen und betrachtete den gelblichen Fleck, wo sich ursprünglich Branwell Brontë befunden hatte. Aus irgendeinem Grund musste sie dabei an den Nebel rund um High Moor Grange denken.

      Dann jedoch wanderten ihre Gedanken zu diesem Motorradtypen. Christopher.

      Seine Nase hatte ziemlich plötzlich angefangen zu bluten. Vor allem aber ohne ersichtlichen Grund. Außerdem ließ die Art, wie er bleich geworden war, auf Schlimmeres schließen. Ob er krank war?

      Vielleicht war es ja das, wovor er sie schützen wollte: eine ansteckende Krankheit, die die Gegend rund um das Herrenhaus verseucht hatte. Und vielleicht war die auch der Grund dafür, dass dieser Adrian, der Typ mit der Kapuze, sein Gesicht nicht zeigen wollte.

      Nachdenklich strich Jessa über ihr Handgelenk. Die Stelle, wo der Blödmann sie gepackt hatte, war immer noch rot. Missmutig zog sie ihre Lederjacke aus, legte sie über den geblümten Sessel und streifte sich die Schuhe von den Füßen. Dann warf sie sich auf das Bett und nahm sich vor, keine weiteren Gedanken an diese beiden Kerle zu verschwenden.

      Sie war schließlich wegen Alice hier. Morgen würde sie in die Bibliothek gehen und mit dieser Clarice Galloway reden. Was aber, wenn sie keine Spur von ihrer Schwester fand? Würde sie dann unverrichteter Dinge nach London zurückfahren? Ihr Geld reichte gerade noch für eine Zugfahrkarte.

      Einen Schritt nach dem anderen, dachte sie. Sie rollte sich auf die Seite, angelte nach ihrem Rucksack und nahm Sturmhöhe heraus. Grübelnd strich Jessa über den hellgrünen Einband. Alice hatte dieses Buch geliebt. Es war kaum vorstellbar, dass sie sich freiwillig davon getrennt hatte. Warum aber hatte sie es dann in diese Bibliothek gestellt, wo Ms Galloway es offenbar gefunden hatte? Hatte sie es vielleicht vergessen? Auch das glaubte Jessa nicht. Alice hatte früher immer Bücher mit sich rumgeschleppt. Und sie hatte nicht ein einziges Mal eines irgendwo aus Versehen liegen lassen. Warum also ausgerechnet dieses, das ihr so wichtig gewesen war?

      »Ach, Mist!«

      Es brachte gar nichts, jetzt zu grübeln. Morgen um diese Zeit wüsste sie vielleicht schon mehr. Und bis es Zeit war, Ms Galloway aufzusuchen, konnte sie genauso gut die Annehmlichkeiten dieses Hotels nutzen. Immerhin blechte dieser Christopher dafür, was die Sache noch angenehmer machte. Sie stand auf und ging ins Badezimmer, das mit einer auf Klauenfüßen stehenden Badewanne gleichzeitig altmodisch und charmant wirkte. Auf dem Duschvorhang war eine altertümliche Handschrift abgebildet. Jessa versuchte, die krakelige Schrift zu lesen, aber sie konnte kein einziges Wort entziffern. Sie runzelte die Stirn.

      Eine ganze Batterie von Pflegeprodukten stand auf dem Bord über dem Waschbecken. Jessa nahm sie der Reihe nach in die Hand. Es gab Duschgel, Shampoo, Conditioner, Bodylotion und sogar ein Schaumbad für eine Wannenfüllung. Auf jeder einzelnen der kleinen Fläschchen war das Gesicht einer blassen, jungen Frau mit halblangen Haaren und einem Samtband um den Hals abgebildet. Vermutlich eine der Brontë-Schwestern. Denen entging man hier offenbar nicht mal im Bad.

      Jessas Blick wanderte von dem Fläschchen in ihrer Hand zu der Wanne und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie stöpselte den Abfluss zu und drehte das heiße Wasser auf. Als sie das Schaumbad in den Strahl gab, begann es, köstlich nach Sandelholz zu duften.

      Sie blieb über eine Stunde in der Wanne, wusch sich die Haare und behandelte sie mit dem Conditioner, was die blauen Spitzen wunderbar weich und geschmeidig


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