Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
Ton.
Nell wedelte ärgerlich mit beiden Händen. »Ich weiß, dass Dienstag ist! Was ich sagen will, ist: Du kannst heute nicht zu Elizabeth fahren!«
Er war schon drauf und dran gewesen, ein Bein über den Bock zu schwingen. Jetzt wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Ach? Und warum nicht?«
»Weil die Gefahr besteht, dass du im Dorf dieser Jessa begegnest?« Sie schien fassungslos, dass sie ihm das überhaupt sagen musste.
»Genau deswegen ist dein Bruder da draußen und passt auf, wo Jessa sich rumtreibt.«
»Henry ist …«
»Henry ist bei Jessa!«, fiel Christopher Nell ins Wort. »Und er warnt mich, wenn die Gefahr besteht, ihr noch mal zu begegnen.« Er schwang sich auf das Motorrad. »Auch wenn es, genau genommen, keinen Grund dafür gibt, dass ich ihr aus dem Weg gehe.«
»Jaja«, grummelte sie. »Du hast alles im Griff, wie immer.«
Nichts hatte er im Griff, aber er würde den Teufel tun und mit ihr darüber diskutieren.
»Es gefällt mir nicht, wie du das Schicksal herausforderst, wenn du jetzt in dieses Altersheim fährst!«, sagte sie.
Er seufzte erneut, diesmal übertrieben resigniert, und er sah den Ärger hinter der Sorge in ihren Augen aufblitzen. Sie hasste es, wenn er so tat, als würde er mit einem kleinen Kind reden. Genau das war der Grund, warum er es getan hatte: um sie abzulenken. Dabei hatte sie nur Angst um ihn. Sie hatte es nicht verdient, dass er sie herablassend behandelte oder auch nur im Dunkeln tappen ließ.
»Diese Dienstage bei Elizabeth, Nell«, sagte er so ruhig, wie er konnte, »sind die einzigen Stunden, in denen ich mir einreden kann, dass das Ding hier drinnen vielleicht doch nicht so kaputt ist, wie es scheint.« Er tippte gegen die Stelle, hinter der sein Herz saß.
Oh Gott, hatte er das wirklich gesagt? Was für ein melodramatischer Schwachsinn, für den er sich umso mehr schämte, als er sah, wie es in Nells Augen zu glitzern begann. Scheiße! Wieso nur schaffte sie es immer wieder, dass er seine Deckung fallen ließ?
Er startete die Enduro und machte, dass er davonkam.
»Im nächsten Leben mache ich was ohne Idioten, das schwöre ich dir!«, schrie sie ihm nach.
»Er braucht das.«
Nell zuckte zusammen, als Adrian hinter sie trat, und er biss die Zähne zusammen. Wie immer hatte sie nicht gehört, dass er sich ihr näherte.
»Entschuldige«, sagte er.
»Schon gut.« Sie schaute noch einmal in die Richtung, in der Christopher verschwunden war. »Ich ertrage es einfach nicht, dass er immer noch denkt, dass er innerlich abgestorben ist. Ich meine: Allein Elizabeth ist doch der Beweis, dass das Unsinn ist.«
»Wie gesagt: Er braucht das, um weiterzumachen.«
Nell biss sich auf die Lippe und er konnte die Traurigkeit sehen, die seine Worte in ihr auslösten. »Ich habe Angst, dass ihr euch was antut«, flüsterte sie.
Ihm wurde die Brust eng. »Das werden wir nicht!« Er hasste es, sie anzulügen, doch er wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten. Aber war das fair? Er dachte an die Waffe, die Christopher ihm weggenommen hatte. Ein paar Tage lang hatte er sich über sich selbst gewundert, hatte sich gefragt, warum auf einmal er so erpicht darauf gewesen war, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Er räusperte sich. »Es gibt da diese Revolver …«
Zu seiner Verblüffung nickte Nell. Und als sie sagte: »Ja. Ich weiß. Christopher hat sie unter seinem Bett«, da wurde ihm ganz kalt vor Schrecken.
»Du weißt von den Waffen?«
»Ich weiß ja auch von eurem Schwur. Hast du echt geglaubt, dass ihr so was vor uns verheimlichen könnt?«
Nein. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, hatte er das nicht. »Wir müssen die Dinger aus Christophers Nähe schaffen.«
Da nickte sie zufrieden. »Endlich eine vernünftige Idee!«
Jessa überlegte, ob sie in der Bibliothek auf Ms Galloways Mittagspause warten sollte, aber während sie darüber noch nachdachte, fiel ihr Blick durch eines der Fenster und sie traute ihren Augen nicht.
Dieser Henry lungerte vor dem Gebäude herum! Und er beobachtete den Ausgang. Verfolgte er sie etwa? Es sah fast so aus.
Sie wandte sich an Ms Galloway. »Wie heißt das Seniorenheim, in dem Ihre Tante wohnt?«
»Golden Age Residence. Wieso?«
Jessa behielt die Eingangstür im Auge. »Können wir uns da treffen? Ich fürchte, ich habe noch was zu erledigen.«
»Natürlich.« Ms Galloway nannte ihr die Adresse.
»Ich bin rechtzeitig da«, versprach Jessa, dann verabschiedete sie sich und verließ die Bibliothek.
Henry wich in den Schatten von ein paar Büschen zurück, als sie ins Freie trat. Und tatsächlich: Als sie sich von der Bibliothek entfernte und durch die Gassen des Ortes streifte, folgte er ihr! In ziemlich großem Abstand zwar, aber da sie nun wusste, dass er ihr an den Hacken klebte, war es leicht, ihn im Auge zu behalten.
Sie tat, als würde sie sich ein bisschen im Ort umsehen wollen. Sie ging langsam, hielt immer wieder an den Schaufenstern der Souvenirläden an. Jedes Mal blieb auch Henry stehen. Mal wich er hinter eine Hausecke zurück, mal versteckte er sich in der Touristenmenge.
Fast machte es Jessa Spaß, mit ihm zu spielen. Sie suchte sich einen Laden, der ihr aussichtsreich für ein Fluchtmanöver erschien – ein Teegeschäft, in dem es so intensiv nach allen möglichen Aromen roch, dass es kaum auszuhalten war. Durch das Schaufenster konnte sie beobachten, wie Henry vor einem Buchladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite Position bezog. Mit zwei Schachteln Tee in der Hand trat sie an das Kassentischchen. Auf einem Stuhl dahinter saß eine Frau, die vielleicht Mitte dreißig war. Sie trug eine dicke Strickjacke und einen extrem kurzen Pixieschnitt, der ihr schmales Gesicht streng wirken ließ.
»Entschuldigung«, sprach Jessa sie an und gab ihrer Stimme einen leicht panischen Klang. »Dürfte ich Sie um Hilfe bitten?« Bevor die Frau überhaupt wusste, wie ihr geschah, deutete Jessa durchs Fenster nach draußen. »Mein Ex-Freund dahinten rückt mir nicht von der Pelle.«
Die Frau folgte ihrem Fingerzeig. Henry hatte ein zerfleddertes Taschenbuch aus einer der Kisten vor dem Laden genommen und blätterte darin herum. Immer wieder schweifte sein Blick wie zufällig zu ihnen herüber. »Verfolgt er Sie?«, fragte die Frau fürsorglich.
Jessa nickte und tat so, als habe ihr Atem sich beschleunigt.
»Soll ich die Polizei …«
»Nein! Nein, das ist nicht nötig. Darf ich einfach Ihren Hinterausgang benutzen, um ihn abzuschütteln?«
Der Blick der Frau wanderte über Jessas Klamotten, ihre blauen Haare, ihr Nasenpiercing.
»Er ist …« Jessa zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist er ja ganz lieb …« Sie blickte zu Boden und ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.
»Aber?«, fragte die Frau.
Okay. Das würde jetzt ziemlich gemein werden. Jessa stellte die Teepackungen ab. Die Geste, mit der sie sich die Haare zurückstrich, wirkte schüchtern, das wusste sie. Vor allem aber zeigte diese Geste der Frau den blau schillernden Abdruck von Christophers Fingern an ihrem Handgelenk.
Volltreffer!
Die Frau nickte betroffen. »Sie sollten die Polizei informieren«, riet sie, während sie einen Vorhang zur Seite zog, der den hinteren Teil des Ladens vom vorderen abtrennte. Von dort aus ging es in einen Gang, der durch das schmale Haus führte und an einer Hintertür endete. Dahinter lag ein Hof mit Mülltonnen und Fahrrädern, die an die Geländer der Kellertreppen gekettet waren. »Sie sollten die Polizei informieren«, wiederholte die Frau.
»Mache