Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
gegenüber Weiß. Bliebe Blau. Wieso hatte man nicht Blau gewählt? Blau wäre mir sympathischer. Nach meinen farbpsychologischen Kenntnissen war Blau die Farbe des Intellektes. Aber vielleicht wurde Chirurgen diese Eigenschaft nicht attestiert.
So konnte nur ein Internist denken. Internisten und Chirurgen waren vollkommen unterschiedlich und rivalisierten miteinander. Es waren eben nicht nur die Farben Weiß und Grün, sondern ganze Welten, die sie trennten. Ich war zwar noch weit davon entfernt, selbst ein Internist zu sein, fühlte mich aber täglich mehr in meiner Entscheidung bestätigt.
Die Stelle in der Anästhesie hatte ich angenommen, um etwas vertrauter mit der mysteriösen, grünen Welt der Chirurgie zu werden. Um die Medizin zu verstehen, musste man beide Welten kennen.
Sinnierend saß ich im großen, weitgehend leeren Personalrestaurant und putschte mich mit einem weiteren Kaffee für den Nachtdienst auf. Wie verabredet kam schon bald Walker mit einer Cola an meinen Tisch. Ich freute mich sehr, dass er sich zu mir setzte. Wir sprachen uns manchmal vor unseren Diensten Mut zu.
Thomas Walker erzählte recht zufrieden über seinen Arbeitstag. Ihm gefiel die Anästhesie offenbar, und er schien hier am richtigen Ort zu sein, zumindest unterwegs in die passende Richtung.
„Du hast dich schon besser eingelebt als ich. Mit unseren Oberärzten habe ich meine Mühe. Bei denen muss einfach alles immer schnell gehen. Erste Priorität hat in ihren Augen der reibungslose Ablauf. Wie es den Patienten geht, ist zweitrangig. Die schauen mich schon schief an, wenn ich einen ängstlichen Patienten beruhigen möchte. Das braucht etwas Zeit, aber es lohnt sich, denn ich bin überzeugt, bei entspannten Patienten treten weniger Komplikationen auf. Dies entspricht allerdings nicht den Gepflogenheiten der Herren Oberärzte, denen kann es nicht schnell genug gehen.“
„Das hat was“, antwortete Walker, „das habe ich auch schon beobachtet. Es gibt viele solcher Narkoseärzte. Egal ob es sich um eine Notfallsituation handelt oder nicht, fast immer arbeiten sie mit derselben größtmöglichen Geschwindigkeit, als ob fortwährend der Ernstfall trainiert werden müsste.“
„Fast wie Spitzensportler, für mich sind das Sprinteranästhesisten“, fügte ich hinzu.
„Zu welchem Typ zählst du dich denn?“, fragte Walker.
„Eher zu den Mittelstreckenläufern, die können, falls es die Situation erfordert, auch spurten. Wird aber nur noch gespurtet, bleibt einem bald mal die Luft weg, und Fehler passieren. Ein Gespräch ist bei dieser Achtung-Fertig-Los-Mentalität dann eben gar nicht mehr drin.“
„Du bist mit der Anästhesie offensichtlich nicht so glücklich?“, brachte es Walker auf den Punkt.
„Genau. Mit viel Enthusiasmus habe ich hier begonnen, und nun bin ich doch etwas enttäuscht. Mit dir und unseren Kollegen habe ich Glück. Ich komme bisher mit allen Assistenzärzten und Schwestern sehr gut aus. Doch unsere Arbeit selbst, die empfinde ich als unangenehme Arbeitsbelastung. Häufig passiert während der Narkose gar nichts. Du musst aber trotzdem immer hellwach sein, weil urplötzlich ein unvorhergesehenes Ereignis eintreten könnte, das sofortiges Handeln erfordert. Diese alltägliche Situation finde ich paradox; voll konzentriert zu warten und dann geschieht nichts. Ich sitze nur da, aber höchst unentspannt. Meine aufgestaute Energie kann nicht abfließen, und am Ende habe ich häufig das Gefühl, nichts geleistet zu haben. Die Lorbeeren ernten ohnehin die Chirurgen.“
„Ich sehe das nicht so. Ich bin froh im OPS sein zu können. Später werde ich ja selbst Chirurg.“
Walkers Blick entnahm ich, dass er mir nicht unbedingt folgen konnte. Er trank einen Schluck Cola.
„Hast du nun in der Zwischenzeit eine Stelle für deine Innere Medizin gefunden?“, fragte er mich in die Stille meiner Überlegungen, als könnte er meine Gedanken lesen.
„Leider nicht, stets Absagen.“
„Ja, es ist wirklich sehr schwierig eine Assistentenstelle zu bekommen, noch dazu in der Inneren. Eine Frau zu finden, ist bedeutend einfacher“, meinte Walker.
„Ich weiß nicht, da bin ich ebenfalls noch auf der Suche“, gestand ich, während Walker grinste, wie ich es selten bei ihm gesehen hatte.
„Nur nicht aufgeben! Ich bin sehr froh, habe ich bereits eine chirurgische Anschlussstelle. Wäre das nicht auch etwas für dich.“
„Chirurgie?“, fragte ich ihn. Wahrscheinlich schaute ich ihn an, als hätte er mich gefragt, ob wir zusammen eine Bank ausrauben wollten.
„Ja, Chirurgie“, wiederholte er emotionslos.
„Nein, Chirurgie ist nichts für mich, das weiß ich ganz bestimmt. Alles, was sich in den Operationssälen abspielt, ist einfach nicht meine Welt, wenngleich es mich außerordentlich interessiert.“
„Das ist doch ein Widerspruch!“
„Nein, oder vielleicht doch. Nun, es ist schwierig zu erklären. Es ist so eine Art Hassliebe; die gesamte Medizin fasziniert mich eben, da gehört die Chirurgie natürlich mit dazu. Andererseits ist mir die Mentalität der Chirurgen, der Umgangston und das Klima insgesamt doch sehr fremd, um es mal milde auszudrücken.“
Walker schaute mich an und sagte einen Moment lang nichts, als ließe er meine Worte nachwirken.
„Sagen wir mal, es ist etwas gewöhnungsbedürftig. Auch ich habe eine gewisse Anlaufzeit gebraucht, aber jetzt fühle ich mich hier sehr wohl. Ich bin sicher, auch du wirst dich mit der Zeit immer besser mit deiner Arbeit in der Universitätsklinik identifizieren können“, dozierte Walker.
Mir fiel auf, dass er beim Sprechen die Mundpartie kaum bewegte. Die Mimik spielte sich mehr in der oberen Gesichtshälfte ab. Oft hob er die Brauen, um wichtige Aussagen zu unterstreichen, häufiger senkte er sie, falls ihm etwas unklar schien – oder, um seine Missbilligung anzudeuten.
„Das bezweifle ich. Zum Chirurgen musst du geboren sein. Es ist nicht meine Welt. Zu den Grüngekleideten, Anästhesie eingeschlossen, gehöre ich nicht“, entgegnete ich mit ungewohnt lauter Stimme. Ich hatte mich emotional in ein Feuer gesteigert. Wenn es um Medizin ging, konnte ich mich ereifern.
„Ich frage mich allerdings, wieso du diese Stelle überhaupt angetreten hast?“
Ich trank den letzten Schluck Kaffee und schaute mich um. Im beinahe leeren Personalrestaurant fiel mein Blick auf eine junge Krankenschwester, die weit von uns entfernt im Raucherbereich saß, Sie schaute in unsere Richtung und ließ ihrem Mund langsam eine Rauchwolke entströmen.
„Ich habe keine andere Stelle gefunden und …“, ich machte eine kleine Pause und schaute nochmals zur Seite, „zudem gibt es da noch einen weiteren Grund. Ich habe während des Medizinstudiums eine Anästhesieärztin kennengelernt, die mir sehr gefallen hat. Auch hat sie sofort mein Interesse geweckt. Das Interesse für die Anästhesie, meine ich.“
Walkers matter Blick wurde augenblicklich wacher.
„Während eines Praktikums hat sie mir viel gezeigt und ich wusste, sie würde ins USZ gehen, um dort als Oberärztin zu arbeiten“, fuhr ich fort.
„Und das erzählst du mir erst jetzt? Welche von unseren Oberärztinnen ist es denn?“
„Das ist ja die Tragödie. Mein Engel, wie ich sie nannte, arbeitet nicht mehr hier. Sie hat vor einem halben Jahr gekündigt und ist nun im Stadtspital Triemli.“
Walker sprach noch ein paar Worte des Bedauerns, wünschte mir viel Glück für meinen Dienst und begab sich fröhlich pfeifend auf den Nachhauseweg, wo ihn seine Frau erwartete.
Die einbrechende Dämmerung erinnerte mich daran, dass mein Nachtdienst näher rückte. Mir blieben noch zwanzig Minuten, bis zum Dienstantritt auf der Notfallstation, die nur drei Gehminuten entfernt lag.
In solchen Situationen versuchte ich, mich mit positiven Gedanken zu entspannen.
Ich schaute mich in der Kantine um. Außer mir war nur die Schwester im Raucherabteil anwesend. Aus der Ferne betrachtet hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Engel. Sie drückte ihre Zigarette