Ich darf nichts sagen.. Johanna E. Cosack

Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack


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musste über seine verschwörerische Miene grinsen. »Ja, wer weiß, was Patrick ihm als Belohnung für den Auftrag in Aussicht gestellt hat. Ich vermute, das wird wieder ein Riesenstress mit Nachtschichten, bis der Pitch über die Bühne ist.«

      »Genau so sieht’s aus, Nina-Schatz. Du solltest deinen musikalischen Liebsten zu Hause schon mal vorwarnen.«

      Sie knüllte weitere Post-its zusammen und schmiss sie so fest in den Eimer, dass sie wieder raussprangen und auf dem Boden landeten. »Hab ich schon getan.« Mit ihrer ganzen Selbstbeherrschung schaffte sie es, die Zettel wieder aufzusammeln und in den Papierkorb zu legen. Ferdi sah sie stirnrunzelnd an.

      »Du, ähm Nina … ein paar Kollegen gehen übermorgen in Sachsenhausen was trinken. Magst du mitkommen? Das wär doch mal eine Idee, oder?«

      »Ja, vielleicht. Ich weiß noch nicht. Aber lieb, dass du fragst.« Nina trank den Rest ihres Wellness-Getränks und deutete auf Ferdis leere Flasche. »Soll ich deine mitnehmen?«

      Ferdi schüttelte den Kopf. »Nein, nein, lass nur stehen. Ich räum die gleich weg.« Beim Aufstehen griff er nach Ninas Flasche. »Du … Nina,« er stockte. »Nina, ist alles okay mit dir? Ich meine, wir kennen uns schon, seit ich hier in diesem Laden arbeite, und ich merke, dass etwas dich sehr bedrückt.«

      Erneut riss Nina sich zusammen, was immer schwerer fiel. »Blödsinn, Ferdi! Ich glaube, du hast zu viel von diesem süßen Zeug hier getrunken. Ist möglicherweise leicht narkotisch und du hast Halluzinationen.«

      Mit den beiden leeren Flaschen in den Händen blieb Ferdi vor ihr stehen.

      »Nina, kann ja sein, dass ich mir das alles nur einbilde. Aber …« Er machte eine lange Pause, bevor er weiterredete. »Aber ich will es dir mal so beschreiben, es gibt Ballons, Fußbälle und Tischtennisbälle. Die Ballons sind schön anzusehen, bunt und auffallend schweben sie durch das Gas in der Luft, so wie der dahinten.«

      Ferdi deutete mit dem Kopf in Richtung von Pierres verwaistem Schreibtisch. »Und wenn du das Gas rauslässt, bleibt nur eine leere Hülle zurück. Dann gibt es noch die Fußbälle, die wegen der vielen Tritte eine Lederhaut haben. Aber wir beiden, Nina, wir sind die Tischtennisbälle, flink, schnell und immer auf Achse. Wir kriegen auch manchmal einen kleinen Klaps, aber wir springen über alle Netze hinweg. Also lass dich nicht zu einem Fußball umfunktionieren. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

      »Ach, Ferdi. Du hättest Philosoph werden sollen. Momentan noch nicht, aber ich denke mal darüber nach. Der Vergleich mit dem Luftballon gefällt mir allerdings.«

      Ferdi lachte. »Und wie ein Fußball siehst du ja nun wirklich nicht aus. Also pass auf dich auf.«

      »Es war ein langer Tag, Ferdi. Für uns alle. Ich muss jetzt wirklich los.« Nina rannte aus dem Büro und Ferdi sah ihr hinterher.

      Am selben Nachmittag stand Max mit nacktem Oberkörper im Waschraum der Kfz-Werkstatt. Mit einer Bürste hatte er versucht, die Öl- und Fettschmiere von seinen Händen zu schrubben, aber die Fingernägel blieben schwarz. Er war frisch geduscht und sein Arbeitsoverall hing ordentlich in seinem Spind, ein sauberes Hemd lag griffbereit neben dem Waschbecken.

      »Na, Max, du schon fertig?« Hakim, ein syrischer Junge, der noch im Flüchtlingsheim wohnte und erst seit ein paar Wochen in der Werkstatt arbeitete, boxte fest auf seinen Oberarm. »Kommst du mit, Bier trinken? Ich hab großen Durst.«

      Max trocknete sorgfältig die Hände und schüttelte den Kopf. »Nee du. Heute nicht. Hab keine Zeit.« Er zog sein Hemd an und überprüfte im Spiegel, ob alle Knöpfe auf der richtigen Höhe saßen, denn meistens knöpfte er die Hemden schief zu. Hakim betrachtete ihn von der Seite. »Warum du keine Zeit? Hast du Frau? Wann wir gehen boxen? Ich will so stark wie du sein.«

      Max gab dem schmächtigen Jungen einen leichten Schubs. »Hakim, ich habe versprochen mit dir zu trainieren, und das machen wir auch, aber heute muss ich wirklich etwas anderes erledigen.«

      Der junge Syrer ließ enttäuscht den Kopf hängen. »Dann du musst weg zu Freundin. Du willst nicht mit mir boxen und Bier trinken.«

      »Aber ihr dürft wegen eurer Religion doch gar kein Alkohol trinken.« Max sah erstaunt auf ihn herab.

      »Doch, ich bin Christ, daher ich geflohen.« Hakim stand vor seinem Spind und hielt ein zerknittertes Foto in der Hand. »Aber ich allein fort. Mama und Papa tot in Syrien.«

      »Ich verstehe … Hakim, das tut mir leid … es ist sicher schlimm für dich. Ich verspreche dir, morgen zeige ich dir das Boxstudio und hinterher gehen wir zusammen ein Bier trinken. Aber das mit dem Trinken werden wir nicht übertreiben, mein Freund.« Max nickte dem Jungen aufmunternd zu und trabte zu seinem Wagen.

      Er hatte das alte Mercedes-Coupé einem Kunden für kleines Geld abgekauft und über ein Jahr lang in seiner Freizeit jedes Einzelteil überprüft und repariert. Zufrieden lauschte er dem gleichmäßigen Brummen des Motors, Max liebte dieses alte Auto.

      Auf dem Nachhauseweg verfolgte ihn Hakims Schicksal. Wie einsam der junge Mann war! Vollkommen allein in einem fremden Land zu sein, die Heimat im endlosen Krieg zerstört und die Familie tot oder in andern Flüchtlingsheimen verteilt.

      Er selbst hatte seinen eigenen Vater nie kennengelernt. Nur Nina und später zusammen mit Michael bedeuteten bisher so etwas wie eine Familie für ihn. Die ganzen Jahre war er überzeugt, dass dies sich niemals ändern würde. Aber nun fehlte Michi.

      Zu Hause schloss er leise die Wohnungstür auf und schaute vorsichtig ins Wohnzimmer. »Nima?« Als niemand antwortete, ging er in sein Zimmer und schaltete den Fernseher ein. Ohne die Sportsendung, die gerade lief, bewusst zu verfolgen, starrte er eine ganze Weile auf den Bildschirm. Hakims Einsamkeit und die Ereignisse der letzten Tage hatten einen vollkommen anderen Film in seinem Kopf gestartet und der ließ ihn nicht los, denn seine Schwester spielte die Hauptrolle darin.

      Solange er zurückdenken konnte, war sie die einzige Bezugsperson in seinem Leben. Nina hatte ihn aus dem Kindergarten abgeholt und ihm ein Pflaster auf seine Stirn geklebt, wenn er sich mit den anderen Kindern geprügelt hatte.

      »Das dürfen wir aber nicht der Mama verraten«, hatte sie ihm dann eingeschärft. Mama sollte nicht mit ihren kleinen Problemen belastet werden. Oftmals war ihre Mutter nach der Arbeit so müde, dass sie nicht einmal mit den beiden essen, sondern gleich schlafen wollte und nachts hörte er sie weinen. Nina erklärte ihm, dass ihre Mama so traurig war, weil Papa weggegangen ist, aber sie hatte dabei selbst Tränen in den Augen. Was war sein Vater nur für ein schrecklicher Mensch, dass er die Familie einfach verlassen hatte! Er kannte sein Aussehen nur von ein paar Fotos, aber war überzeugt, dass er ihn heftig verprügeln würde, falls er seinem Vater jemals begegnete.

      Obwohl er seine Schwester dafür oft beschimpft hatte, war Nina es, die ihn später in der Schule zum Lernen ermutigte und mit ihm die Hausaufgaben erledigte. In dieser Zeit erkrankte ihre Mutter. Er wusste zunächst nicht, warum Nina ihn jeden Tag in das Krankenhaus schleppte, nur dass Mama Schmerzen hatte und sie sich über ihren Besuch freute. Er wäre statt dessen lieber zum Boxen gegangen, aber Nina versprach ihm die ersehnten Boxhandschuhe zu kaufen, wenn er mitkäme. Als er elf war, starb sie. Glücklicherweise konnten sie in der kleinen Wohnung in Eschersheim bleiben, denn ein Bruder ihrer Mutter bezahlte weiterhin die Miete und sorgte für ihren Unterhalt. Hin und wieder kam Onkel Jürgen zu Besuch, entschuldigte sich aber meistens schnell, dass er in der Bank zu tun hatte und ließ Geld für sie da.

      Dank Nina schaffte er nach zwei Fehlversuchen einen Realschulabschluss; sie hatte ihn überredet, abends zusammen zu lernen. Nina gab ihm Tipps, wenn er sich mit einem Mädchen verabredete. Sie war seine Vertraute und er ihr Beschützer. Als Nina Michael traf, teilte er ihre überglückliche Freude. Max mochte ihn sofort, obwohl Michael nur seine Musik im Kopf hatte, so verband sie doch – jeden auf seine eigene Art – ihre gemeinsame Zuneigung zu Nina. Die kleine Frau erschien so zerbrechlich und war doch so stark. Max war überzeugt, dass Michi sie niemals verlassen würde. Seine eigenen Phasen der Verliebtheit dauerten selten länger als ein paar stürmische Nächte – alles zarte Wesen mit langen Haaren, die Nina ähnlich sahen. Aber keine hatte bisher sein Herz erobert.

      Nina,


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