Ich darf nichts sagen.. Johanna E. Cosack

Ich darf nichts sagen. - Johanna E. Cosack


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      Sie war hilflos.

      Nina schloss die Augen und atmete. Als sie sie nach ein paar Minuten wieder öffnete, wanderte ihr Blick umher. Seltsam, erst jetzt erkannte sie, dass der Flügel weg und alles sauber und aufgeräumt war! An der Stelle, an der heute früh der zerbrochene Deckel und Bruchstücke des Musikinstruments gelegen hatten, stand nur der Klavierhocker. Auf ihm lagen ein paar dicht beschriebene Notenblätter. Es waren aber keine Noten eines Musikstücks, sondern Michis Handschrift. Langsam wankte sie zu dem Hocker, doch mit jedem Schritt wuchs ihre Angst.

       Liebste Nina,

       Ich muss gehen, weil ich Dich liebe. Du wirst dies nicht verstehen, noch nicht. Daher müssen wir beide uns Zeit lassen und ich glaube, dass in der jetzigen Situation nur die Zeit, und eine räumliche Distanz hilft, einander wiederzufinden.

      Ich habe alle Termine und Kurse abgesagt und wenn Du diese Zeilen liest, bin ich schon auf dem Weg nach Rom. Es ist eine wundervolle Stadt und bin überzeugt, dass es uns dort gefallen würde. Sobald ich ein kleines Hotel in der Nähe der Musikhochschule gefunden habe, lasse ich Dir die Adresse zukommen. Außerdem werde ich in den Semesterferien nochmals zurückkommen, um ein paar persönliche Dinge aus dem Frankfurter Konservatorium abzuholen.

       Erinnerst Du Dich, als wir uns das erste Mal dort trafen? Du bist mit Deinem kleinen Bruder im Schlepptau in das Konservatorium gekommen und hast mich gebeten, ihm Klavierunterricht zu geben. Max hatte überhaupt kein Interesse an der Musik, aber ich war sofort von Dir fasziniert. In Dir schlummerte so viel Energie und zugleich so viel verborgener Schmerz. Deine Mutter war damals bereits sehr krank, Du hast Dich um sie gekümmert, Deinen kleinen Bruder versorgt und noch nebenbei Deine Marketingausbildung gemacht. Und – erinnerst Du Dich an unseren ersten Kuss am Mainufer, als wir Max mit ein paar Münzen zum Eisladen geschickt haben? Seit den ersten Treffen und unserer Hochzeit hatte ich Dich nie längere Zeit für mich ganz allein. Trotz alledem war ich bereits seit der ersten Begegnung so sehr in Dich verliebt, dass ich auch auf Max Rücksicht nahm, nur um Dich nicht wieder zu verlieren. Selbst wenn Du mitten in der Nacht fortgerannt bist, um Max von der Polizeistation abzuholen, wenn er wegen irgendeiner Schlägerei wieder einmal Deine Hilfe brauchte, habe ich auf Dich gewartet.

      Doch das gestrige Ereignis hat mir deutlich gemacht, dass es nicht länger so weitergehen kann. Seit wir zusammen sind, habe ich versucht, mit Deiner übertriebenen Fürsorge für Max zu leben, auch wenn ich sie bis heute noch nicht verstehen kann, aber ich liebe Dich zu sehr. Die Erfahrungen der letzten Jahre und mein immer stärkerer Wunsch nach einer bislang kaum vorhandenen Zweisamkeit zwingen mich dazu, dich vor die Wahl zwischen Deinem Bruder oder unserer Liebe zu stellen. Maxis Anwesenheit verursacht Aggressionen in mir und zerstört die Harmonie, die ich brauche für meine Kompositionen. Liebste Nina, und ich brauche vor allem dich und Deine wirkliche Persönlichkeit, die Du so erfolgreich vor allen versteckst. Du warst es, der mich dazu befähigte, in immer weitere Höhen der Musik zu schweben, denn Dein geheimnisvoller Schmerz und Deine Liebe, verliehen mir die Flügel dafür. Max hat diese Schwingen mehr und mehr zerstört. Als er gestern Abend auch noch in den Musikflügel gefallen ist, stand es für mich fest, dass nunmehr eine Entscheidung getroffen werden muss.

       Am römischen Konservatorium werde ich an meiner Symphonie weiterschreiben. Sie wird Dir gewidmet sein, denn nur durch Dich und die Musik lebe, liebe und atme ich.

       Auch wenn es für mich unerträglich sein wird, dich nicht in meiner Nähe zu wissen, so hoffe ich, dass Du mich irgendwann verstehst. Bitte rufe mich nicht an, denn ich habe Angst zurückzukehren in eine Situation, die ich nicht länger ertragen kann.

       Ich liebe Dich.

       Michael

      Ihre Hände umklammerten das Notenblatt, sie stürzte in eine bodenlose Tiefe. Nina fiel in sich zusammen wie die Hoffnung, alles würde sich an diesem Abend wieder zum Guten wenden. Bilder von Michi tauchten auf und verschwanden.

      Nein, dies musste ein Albtraum sein, aus dem sie gleich aufwachen würde, und Michi saß wie gewohnt am Flügel. Nina schloss die Augen und versuchte zu atmen.

      Als sie sie nach ein paar Sekunden wieder öffnete, drehten die Wände sich um sie herum wie ein Karussell. Sie taumelte zu einem Sessel, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Eine Flut von Tränen wollte den unerträglichen Schmerz aus ihrem Herz hinwegspülen und eine ohnmächtige Verzweiflung kroch kalt durch ihren Körper. Ihre Welt war zerbrochen.

      Stundenlang saß sie zitternd da, bis sie keine Tränen mehr hatte, und es wagte die Hände von ihrem Gesicht herunter zu nehmen. Es war stockdunkel.

      Aus dem Nachbarzimmer ertönten laute TV-Geräusche und Max hantierte in der Küche. Kleiner Max, schoss ihr in den Sinn, er würde sich Vorwürfe machen, wenn er von Michis Weggang erfährt. Nina sprang auf, um im Badezimmer ihr Gesicht wieder in Ordnung zu bringen, als er leise an der Tür klopfte.

      »Hallo, jemand zu Hause bei euch?« Ihr Bruder streckte den Kopf durch den Türspalt. »Nina? … Michi? Hier ist ja alles dunkel. Kann ich reinkommen?«

      »Ja … aber klar, Maxi«, antwortete sie und wischte schnell über die Augen.

      Max’ schwarze Silhouette wirkte riesig vor dem hell erleuchteten Flur. Er schaltete das Licht an, blieb aber neben der Tür stehen, in der Hand einen Strauß Blumen. »Nima für dich!« Freudestrahlend hielt er ihr den Strauß entgegen, ließ ihn aber sofort sinken, als er Ninas verweintes Gesicht sah.

      »Um Himmels willen was ist denn mit dir? Ist irgendwas passiert?« Max kam näher und legte die Blumen auf ein Tischchen. Sein entsetzter Blick ließ sie nicht los. »Wo ist Michi? Nina, was ist los?«

      »Ach, nichts, Maxi … du … du kannst nichts dafür.« Wieder schluchzte Nina.

      »Aber Du weinst ja! Hat dich jemand geärgert? Glaub mir, den mache fertig, und zwar krankenhausreif.« Sofort ballte Max die Fäuste, aber dann lockerte er sie wieder und umfasste vorsichtig ihre Schultern. »Oder … Nina, hast du wegen dem Klavier geweint?«

      »Nein, Max, du darfst niemand prügeln. Es ist …« Ihre Stimme versagte.

      »Doch wegen dem Klavier, hab ich recht?«

      Nina umarmte ihn. Max war wesentlich größer als seine Schwester, stämmig und durch sein jahrelanges Boxtraining hatte er breite muskulöse Schultern und Arme. Die schwarzen, sehr kurz geschorenen Haare und tief liegende, dunkle Augen verliehen ihm ein gewalttätiges Aussehen, aber in seiner einfältigen Persönlichkeit steckte ein weicher, gutmütiger Charakter. Nein, Max trägt keine Schuld, dass Michael weggegangen ist. Es war sinnlos nach einem Grund für sein Weggehen zu suchen. Die Verantwortung dafür trug sie ganz allein. Nina löste sich aus seinem Arm und gab ihm einen kleinen Schubs.

      »Nein, kleiner Bruder. Der Flügel wird bestimmt schnell wieder repariert sein. Komm, wir setzen uns jetzt erst mal. Möchtest du ein Bier?«

      »Ja, klar doch, ich mach das schon.« Max schob Nina energisch zum Sessel. In der Küche stellte er die Blumen in eine Vase und kam mit einem Glas Rotwein und einer Bierflasche zurück.

      »Maxi.« Nina sprach leise, denn jedes Wort fiel ihr schwer. »Du musst mir glauben, es hat wirklich nichts mit dir zu tun, Michael ist heute vorübergehend ausgezogen. Er braucht für seine Kompositionen etwas Ruhe und in ein paar Wochen beginnt er eine neue Stelle an einem Konservatorium in Rom. Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten, aber ich kann hier nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Der Job und so, weißt du? Daher ist er zunächst allein vorgefahren.«

      »Mit seinem alten Auto die ganze Strecke nach Italien? Vorgefahren?« Maxi sah sie ungläubig an. »Aber Nima! Wieso? Er kann uns doch nicht einfach zurücklassen. Und was ist mit dir? Habt ihr euch etwa gestritten? Wegen dem Flügel?«

      Nina schüttelte energisch den Kopf und sah ihn so fest wie möglich an. »Nein, Maxi! Wir haben uns nicht gestritten und wegen des Flügels schon gar nicht. Michi braucht einfach nur Zeit für sich … wegen seiner Musik. Verstehst du?«

      »Nein, das


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