Muttermilch. Nora Ikstena

Muttermilch - Nora Ikstena


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      Impressum

      © Nora Ikstena, Riga 2015

      © KLAK Verlag, Berlin 2019

      Alle Rechte vorbehalten

      Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

      Umschlag: Jolanta Johnsson

      Druck: BookPress, Olsztyn

      ISBN 978-3-948156-17-6

      *

      An den 15. Oktober 1969 erinnere ich mich nicht. Wie sollte ich auch. Obwohl es ja Leute gibt, die behaupten, dass sie sich an ihre Geburt erinnern. Vermutlich habe ich richtig im Mutterleib gelegen, denn es soll eine natürliche Geburt gewesen sein. Sie war weder besonders lang noch kurz, die Wehen kamen alle fünf Minuten. Meine Mutter war bei meiner Geburt fünfundzwanzig, demnach jung und gesund, was sich allerdings später als nicht ganz richtig herausstellte. In meinem Gedächtnis oder vielleicht in meiner Vorstellung geblieben ist aber das milde goldene Oktoberwetter, in das sich die Vorahnung der dunklen Tage mischt. Ein Schwellenmonat, zumindest in unserer Klimazone, in der sich die Jahreszeiten abwechseln und der Herbst langsam in den Winter übergeht.

      Die Bäume hatten vermutlich gelbe Blätter, und unsere Hausmeisterin fegte sie schimpfend zusammen. Sie war mit ihrer Familie aus dem sonnigen Kirgistan eingewandert und hatte für ihre hochqualifizierte Arbeit sofort eine Wohnung in der Mitschurin-Straße 20 zugeteilt bekommen. Ihr mandeläugiges Töchterchen saß auf der Fensterbank, aß Rote-Bete-Suppe und lud jeden freundlich in die Wohnung ein. Der einstige Prunk der Vorkriegszeit, den die jüdische Familie 1941 gezwungenermaßen zurückgelassen hatte, als die Deportation nach Sibirien sie vor dem gelben Stern im wenige Monate später von den Nazis besetzten Riga bewahrte, dieser Prunk der Vorkriegszeit wurde nun von der kirgisischen Vorstellung von Schönheit dominiert. Dicke Teppiche bedeckten das Parkett und Sonnenblumenkerne füllten die Porzellanschälchen, während auf dem Klavier Spucknäpfe standen. Zeiten und Konfessionen hatten sich vermischt. Und so war das überall in diesem Haus, in dessen Wohnung Nummer dreizehn man mich trug, sorgfältig gewickelt nach damaligem Brauch wie die Puppe eines Schmetterlings.

      Ich habe manchmal einen Traum, aus dem ich mit einem Brechreiz erwache. Ich liege an die Brust meiner Mutter geschmiegt und sauge daran. Die Brust ist groß und milchreich, aber ich bekomme nichts heraus. Ich sehe meine Mutter nicht, sie hilft mir nicht und ich kämpfe ganz allein mit ihrer Brust. Plötzlich habe ich Erfolg und in meinen Mund fließt eine ekelhafte bittere Flüssigkeit, an der ich würge, bis ich mit einem Gefühl von Übelkeit aufschrecke.

      Wie komisch es ist, so abgetrennt zu existieren. Getrennt von etwas so Natürlichem, Erhabenem, Schönem, jahrhundertelang Besungenem. Eine Mutter stillt ihr Kind. Ihr Gesicht ist erleuchtet, ihre Augen blicken auf das wunderbare Gottesgeschenk in ihren Armen. Die Augen des Kindes blicken hilflos und vertrauensvoll, die Stimmen der Natur sind ineinander verwoben, die Milch, die aus der Mutterbrust strömt, ist das Wasser des Lebens, das das Kind trinkt, und das Band zwischen ihnen ist ewig und endlos.

      Als junge Ärztin wusste meine Mutter vielleicht, dass ihre Milch dem Kind mehr schaden als nutzen konnte. Wie anders ließe sich erklären, dass sie gleich nach der Geburt verschwand. Fünf Tage lang war sie fort, dann kehrte sie heim mit schmerzenden Brüsten, in denen die Milch ausgebrannt war.

      Die Mutter meiner Mutter hatte mich zwei Tage lang verzweifelt mit Kamillentee gefüttert. Dann ging sie zur Milchküche, wo eine misstrauische Ärztin sie auf Russisch beschimpfte und meine Mutter ein Flittchen nannte, ihr aber dennoch die schriftliche Genehmigung erteilte, Milchpulver zur Säuglingsernährung abzuholen.

      In den zwanzig Jahren, die ich mit meiner Mutter zusammen war, habe ich sie nicht fragen können, warum sie mich, einen hilflosen kleinen Säugling, von ihrer Brust gerissen hat. Ich konnte es nicht, denn damals wusste ich noch nichts davon. Und vielleicht war die Frage auch unpassend, denn es fügte sich, dass ich zu ihrer Mutter werden musste.

      *

      An den 22. Oktober 1944 erinnere ich mich nicht. Doch ich stelle ihn mir vor. Riga frisch befreit von den Hitlerdeutschen. Bei den Bombenexplosionen sind die Fenster der Frauenklinik zersprungen, es ist feucht und kalt, und die Frauen, die gerade entbunden haben, wickeln sich hilflos in ihre blutigen Laken. Übermüdete Schwesternhelferinnen trinken Hochprozentiges und wickeln tote Säuglinge in Päckchen ein. Es grassiert eine Seuche, die allgemein Nasentyphus genannt wird. Jammern und Weinen ist zu hören, Bomben pfeifen durch die Luft, und durch das Fenster dringt Brandgeruch. Meine Mutter hat mich heimlich aus der Säuglingsstation geholt. Sie hat mich an sich gewickelt und pumpt mir ihre Milch in die Nase. Aus meinem Näschen läuft eine Mischung aus Eiter, Milch und Blut. Ich würge und atme, würge und atme.

      Und dann plötzlich Ruhe und Frieden. Ein Pferdchen zieht einen Wagen über einen sonnigen, herbstlichen Weg von Riga nach Babīte. Mein Vater hält den Wagen mehrmals an, damit meine Mutter mich stillen kann. Ich würge nicht mehr, atme ruhig und sauge gierig Mutters Milch. Wir haben ein schönes Haus in der Oberförsterei von Babīte, es gibt dort kaum Möbel, auch keine Wiege, aber meine Mutter bereitet mir ein Bett in einem großen Koffer.

      Jeden Morgen schaut mein Vater nach den Tannen in seiner Baumschule. So geht das bis Weihnachten, als plötzlich ein Lastwagen mit Soldaten in die Försterei fährt. Sie schreien herum in einer Sprache, die meine Eltern nicht verstehen. Die Soldaten springen vom Wagen und fangen an, die jungen Tannen zu fällen. Mein Vater läuft aus dem Haus, vorher schließt er noch meine Mutter im Dachzimmer ein, wo sie mich im Koffer versteckt, in den sie zuvor Löcher gebohrt hat, damit ich atmen kann. Mein Vater schreit: „Ihr Halunken, ihr Halunken!“ und versucht, die Tannen zu retten. Sie schlagen ihn blutig und werfen ihn zusammen mit den gefällten Bäumen auf den Lastwagen. Die Rotte zieht fluchend durch das Haus, hämmert an alle Türen. Meine Mutter sitzt mit angehaltenem Atem im verschlossenen Dachzimmer im Schrank, auf den Knien hält sie den Koffer, in dem ich atme. Der Lärm ist schrecklich, sie demolieren das Haus. Bis alles still ist und man nur noch ein Geknatter hört, als der Lastwagen abfährt.

      Gegen Morgen klettert meine Mutter aus dem Schrank. Sie stillt mich, bindet mich an sich, zieht eine dicke Schicht Kleidung an und geht zu Fuß zurück nach Riga. Erst am späten Abend erreichen wir die Tomsons-Straße, die bald darauf nach Mitschurin umbenannt wird, und die Wohnung Nummer dreizehn. Meine Mutter ist todmüde, aber sie muss noch die von den Bomben zerschlagenen Fenster zukleben, sonst erfrieren wir beide.

      *

      Ich weiß nicht, wie meine Mutter und Großmutter unter sich die Geschichte von Mutters Verschwinden lösten, denn sie wurde nie erwähnt. Den Duft der Muttermilch ersetzte in meiner Kindheit das Aroma von Medikamenten und Desinfektionslösungen, das meine Mutter stets wie eine Wolke umschwebte, wenn sie erschöpft vom Nachtdienst in der Frauenklinik zurückkehrte, oder wenn sie zu Hause stundenlang wach auf ihrem Bett lag. Ihre Handtasche war vollgestopft mit Tabletten, Ampullen und diversen Metallwerkzeugen. Durch einen Vergleich mit Abbildungen im Lexikon der Medizin erkannte ich darin später die verschiedenen, in meinem Bewusstsein furchtbaren, Instrumente eines Frauenarztes. Ziemlich gruselig erschien mir diese Welt, in die jede ihrem Mutterinstinkt folgende Frau zu gegebener Zeit unvermeidlich hineingezogen wird. Wenn meine Mutter einmal eine Nacht zu Hause verbrachte, saß sie lange wach bei Zigaretten und Kaffee, gebeugt über Berge medizinischer Fachbücher und Nachschlagewerke. Auf ihrem Schreibtisch reihten sich Zettel aneinander, auf denen neben schriftlichen Notizen Zeichnungen von Gebärmuttern, Eileitern, Becken und Scheiden in verschiedenen Kombinationen, aus verschiedenen Winkeln und Perspektiven erschienen.

      Meine Mutter kannte sonst nichts von der Welt. Sie schloss demonstrativ die Tür, wenn im Nebenzimmer die Fernsehnachrichten mit dem lispelnden Leonid Iljitsch Breschnew eingeschaltet wurden, sie las nicht die Zeitung Rīgas Balss, nach der die Leute an der Ecke der Gorkistraße schon ab fünf Uhr abends anstanden. Genauso lange Schlangen bildeten sich am Nachmittag in den Fleisch- und Milchgeschäften, wo hin und wieder das eine oder andere zum Verkauf angeboten wurde: Würstchen oder Fleischwurst oder gar abgepackte Butter, und man durfte maximal ein Pfund kaufen. Auch davon wusste sie nichts. Aber neben den Bergen medizinischer Fachliteratur stand Melvilles Moby Dick. Die Sehnsucht nach der unfassbaren Freiheit eines eigenen Lebens.

      Ich erinnere mich nicht daran, dass Mutters Hand mich berührte, aber ich erinnere mich


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