Muttermilch. Nora Ikstena
verspürte Sehnsucht nach meiner Tochter geweckt. Ich hätte gerne ihre langen, widerspenstigen Haare gekämmt, sie zu ordentlichen Zöpfen geflochten. Kämmen und flechten, kämmen und flechten. Vor meinen Augen erschien das Zimmer, in der sie alle drei den Abend verbrachten: Tochter, Mutter und Stiefvater. Ein Hafen der Ruhe, ein Nest. Der Stiefvater las sicher einen historischen Roman über die Schlacht bei Stalingrad, Mutter strickte oder nähte etwas, und meine Tochter machte gewissenhaft Hausaufgaben in Mathematik oder Schönschreiben. Im Fernsehen war das Panorama zu Ende gegangen und Nora und Viktors sangen „Zur Laternenstunde“. Zur Laternenstunde verließ ich das Institut. Ich musste über die Newa, bevor die Brücken hoch gingen.
Larisa Nikolajewna war an mein spätes Heimkommen gewöhnt. In dieser Nacht wartete sie in der Küche auf mich. Sie war bleich, auf dem Tisch standen ein Glas Wasser und ihre Herztropfen. Was war geschehen? Serafima sei gekommen. Mit völlig zerschlagenem Gesicht. Sie habe hier gesessen und geweint. Ihr Mann sei über irgendeine Kleinigkeit in Rage geraten, hätte vermutlich zu viel getrunken. Ein Wort ergab das andere und er hatte losgeprügelt. Larisa Nikolajewna half Serafima, ihr Gesicht zu waschen, legte Kompressen auf, kochte einen Beruhigungstee. Dann war Serafima zurück in ihre Wohnung gegangen. Larisa Nikolajewna hatte vor Aufregung nicht einschlafen können.
Etwas geschah in mir. Ich nahm den Fleischhammer aus der Schublade und ging, ohne mir den Mantel auszuziehen, ins Treppenhaus, zu Serafimas Wohnung. Die Tür war angelehnt. Am Küchentisch saß Serafimas Mann und trank. Sie selbst war bestimmt irgendwo im Hinterzimmer im Halbdunkel eingeschlafen. Oh, die Frau Nachbarin, setz dich doch, sagte er. Wir tranken jeder ein Wasserglas voll Wodka. Gehen wir eine rauchen, sagte ich. Wir gingen ins Treppenhaus und steckten uns Zigaretten an. Mit dir trinkt es sich gut, sagte Serafimas Mann. Und dann zog ich den Fleischhammer und schlug dem Scheißkerl mehrmals ins Gesicht. Und er konnte sich in seiner Trunkenheit nicht wehren und schrie nur wie ein abgestochenes Schwein.
*
Manchmal ging ich nach der Schule in die Ambulanz und wartete dort darauf, dass Mutters Arbeitstag zu Ende ging. In dem langen schmalen Flur saßen immer viele Frauen dicht gedrängt auf den Bänken. Einige von ihnen waren schwanger. Mutter versuchte, jeder so viel Zeit wie möglich zu widmen, weshalb sie ihre Arbeit häufig erst sehr spät beendete. Ich hatte nach der Schule schon gekocht, und wenn wir heimkamen, aß meine Mutter aus Höflichkeit etwas. Todmüde, wie sie war, fiel sie häufig in den Kleidern ins Bett. Ich zog ihr die Schuhe aus und deckte sie mit einer dicken Decke zu. Die Ofentür war offen, man musste warten, bis die Kohlen glühten, dann konnte man den Schieber zuziehen. Der Hund und ich setzten uns vor den offenen Ofen. Die Kohlen fingen an zu glühen. Das sah aus wie ein funkelnder Teppich, der uns in ein fernes Märchenland bringen würde, wo es keine Sehnsucht und keine Trennungen gab, wo Licht und Freude herrschten. Wo niemand jemandem etwas wegnahm, wo man anderen Liebe schenkte. Jeden zweiten Abend briet ich zwei Kartoffeln in den Kohlen, eine für mich und eine für den Hund. Wenn sie gar waren, teilten wir uns diese köstliche Mahlzeit, und das Leben schien gar nicht so schlimm zu sein.
Die Winterferien kamen heran und mit ihnen meine Freilassung, denn ich durfte für zwei Wochen in die Stadt zu Großmutter und Stiefvater fahren. Ein halbes Jahr hatte ich schon mit Mutter im Exil verbracht, ein paar Schulkameraden freundeten sich zögernd mit mir an.
Nach der Zeugnisvergabe feierten wir Karneval. Meine Mutter beteiligte sich an den Vorbereitungen, was völlig untypisch für sie war. Sie mischte Batikfarben in einem Eimer, band die Ecken eines Bettlakens ab und tunkte sie hinein. Sie faltete das Laken in der Mitte, nähte die Seiten zu und schnitt oben ein Loch rein. So entstand ein ungewöhnliches, buntes Sackkleid. Dann setzte sie mich ans Fenster ins Licht und schminkte mich mit den bescheidenen Beständen ihres Kosmetiktäschchens. Wir berührten uns selten. Doch jetzt glitten Mutters Finger über meine Stirn, klopften leicht auf Nase und Wangen, berührten die Lider, das Kinn, die Brauen. Ihre Hände und ihre Kleidung rochen nach Medizin, das war Mutters Geruch, der in mir durch die Berührungen eine Liebe weckte, die ich nicht kannte. Liebe zur Mutter. Mutterliebe.
Als sie mir den Spiegel reichte, sah mir ein Kindergesicht entgegen, das in ein böses und ein gutes geteilt war. Auf der einen Seite eine schreckliche Grimasse mit einer schwarzen Furche von Nase bis Kinn und einer noch schwärzeren dicken Augenbraue, die andere Seite war wie mit Goldpuder bedeckt, hell, mit einem fröhlich hochgezogenen Mundwinkel. Was bin ich, fragte ich meine Mutter. Die Zwienatur, antwortete sie. In der Schule reihte ich mich in den Reigen der Zwerge, Hasen, Eichhörnchen, Schneewittchen und Pfefferkuchenmännchen ein und spürte ihre Bewunderung. Natürlich bekam ich nicht den Preis für das beste Kostüm, aber ich fühlte es: die Zwienatur hatte gewonnen.
Glücklich rannte ich spät am Abend zurück nach Hause. Vielleicht würde mich Mutter mit einem Abendessen erwarten? Schließlich würde ich schon am nächsten Tag für volle zwei Wochen fortfahren. Ich würde meiner Mutter um den Hals fallen, sie ganz, ganz fest drücken und küssen für diesen schönen Karneval, für die Zwienatur, die sie wie eine gute Fee aus mir gezaubert hatte, wie eine Wundertäterin, meine liebe, gute, veränderte Mutter.
An der Haustür erwartete mich aufgeregt der Hund. Drinnen war es dunkel und kalt. Mutter hatte weder den Ofen noch den Herd angemacht, obwohl sie heute frei hatte. Im Flur hörte ich seltsame Würgegeräusche. Mamma lag in ihrem Bett, neben sich eine leere Schnapsflasche und komische weiße Kügelchen. Um den Hals hatte sie eine alte Krawatte gebunden, mit der sie versucht hatte, sich zu erwürgen. Ich sprang zu ihr, riss ihr die Krawatte ab, stemmte sie hoch, bis sie halb zum Sitzen kam. Sie hustete und würgte, bis sie eine Flüssigkeit erbrach, in der kleine weiße Kügelchen schwammen. Die ganze Nacht machte ich ihr Tee. Sie trank gehorsam und erbrach sich noch ein paar Mal. Als sie einschlief, kroch ich zu ihr. Ich lag fast ohne zu atmen, den Kopf an ihre linke Brust gepresst, um zu hören, dass ihr Herz klopfte und nicht stehen blieb.
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