Muttermilch. Nora Ikstena
Einheit zu verstehen. Sein toter Körper war der Nährboden des Lebens. Man konnte sich auch auf den Standpunkt von Leichen-Martin stellen: tot ist tot.
Mein Eifer fiel dem alten jüdischen Professor auf. Er sagte, ich hätte einen für eine junge Frau untypischen Drang, die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu erforschen. Er sagte, ich sei zu klug und das würde kein gutes Ende nehmen. Er sagte, ich müsse lernen, mein Leben von dem der Patienten zu trennen, und ich müsse lernen zu verstehen, dass der Schlüssel zu den Kammern des Lebens und des Todes nicht in meinen Händen läge. Dass es da noch etwas anderes gäbe. Eine Existenz, die man nicht erwähnen durfte. Der alte jüdische Professor hatte nichts mehr zu verlieren. Eine Abends, als er mich in der Anatomie über eine in einem weißen Metallbottich in Formalin schwimmende Gebärmutter gebeugt vorfand, fragte er mich: „Glauben Sie an Gott?“ Das war eine unerwartete Frage. Sie war schwer zu beantworten, hier, wo alles Göttliche im Material praktischer Erkenntnis verstummt war. „Es ist mir noch nicht gelungen, ihm zu begegnen“, sagte ich. Es ist mir noch nicht gelungen, ihm zu begegnen – diese Phrase kehrte einige Jahre später zu mir zurück, an einem Ort, den ich mein ganzes Leben im Gedächtnis behalten werde. Oder besser, mein Leben lang. Ein ganzes Leben klingt nach Dauer. Ich glaube nicht, dass mir ein ganzes Leben beschert sein wird.
*
Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, als ich eine der dramatischsten Episoden meiner Kindheit erlebte. Ich verlor darüber fast die Sprache. Es war ein schöner Herbstnachmittag, meine Freundin von nebenan und ich lasen gegenüber vom Hippodrom goldgelbe Blätter auf. Durch die Bäume drang ein kräftiger Brandgeruch, aber das erschien uns nicht verdächtig, da in den Gärten der Häuser, die die verblichene Pracht der Rennbahn umgaben, im Herbst häufig jemand etwas verbrannte.
Der Geruch wurde jedoch stärker, und plötzlich schossen durch das Dach des Hippodroms riesige Flammen empor. Sie verschlangen das schöne Vorkriegsgebäude in unglaublicher Geschwindigkeit, und schon bald waren Schreie und die Sirenen von Rettungs- und Feuerwehrwagen zu hören. Wir standen wie versteinert da und schauen auf dieses Bild der Zerstörung. Die Taschen vollgestopft mit Gold. Aus einem der Rettungswagen sprang meine Mutter heraus. Mit hysterischen Schreien warf sie sich zwischen die Feuerwehrleute, griff sich einen Eimer, schöpfte Sumpfwasser aus dem Graben und rannte zu dem in Flammen stehenden Gebäude. Völlig verschreckt und weinend lief ich ihr hinterher. Die Feuerwehrleute fingen uns bei den Tribünen ab, gerade, als das brennende Dach einstürzte.
Während meine Mutter im Rettungswagen eine Beruhigungsspritze bekam, versuchte ich stotternd zwei Wörter auszusprechen: nach Hau-se. Ich erinnere mich noch gut an den kurzen Weg vom abgebrannten Hippodrom zu unserem Haus. Ich führte meine Mutter an der Hand, sie blickte ins Nirgendwo und ging folgsam mit mir mit. Die ganze Zeit weinte ich und versuchte, diese zwei kleinen Wörter zu sagen: nach Hause.
Es wurde eine richtige Walpurgisnacht. Der Beruhigungseffekt der Spritze ließ bald nach und meine Mutter demolierte die ganze Nacht ihr Zimmer. Großmutter schloss mich im Badezimmer ein. Der Stiefvater versuchte, in ihr Zimmer zu kommen. An meine Ohren drangen die Schreie meiner Mutter. Ihr Henker, schrie sie, Henker, Henker, Henker. Großmutter stand an der Glastür und bat sie weinend, aufzuhören. Dann verfiel meine Mutter in Wehklagen. Dann hörte man das Klopfen der verstörten Nachbarn. Und dann war es still. Eine erlösende Stille, die sich mit der Dunkelheit im Badezimmer vermischte, in dem ich schluchzend saß und immer noch leise versuchte, diese Worte zu sagen: nach Hause.
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Es war ein schöner Sommertag 1977. Am Morgen nach dem Nachtdienst rief mich der Chefarzt an und sagte, es gäbe für mich die Möglichkeit, mein Wissen in Gynäkologie und Endokrinologie in Leningrad zu erweitern. Nach dem Schlachthof, wie wir unter uns den Nachtdienst nannten mit seiner endlosen Tretmühle von Geburten, Kaiserschnitten, geplanten und spontanen Schwangerschaftsabbrüchen, Myomen, Polypen und Zysten, erschien es unfassbar, nach Leningrad zu fahren und sich der Forschung zu widmen. Ich müsse mich daher heute noch in der Friedrich-Engels-Straße melden, wo man sich kurz mit mir unterhalten würde. Eine reine Formsache, sagte der Chefarzt.
Man lud mich in die Vorhölle ein. Vielleicht würde man mich ins Paradies einlassen, aber vielleicht würde ich dafür mit Blut bezahlen müssen. Gestärkt mit Kaffee und Koffeinampullen machte ich mich auf den Weg in die Friedrich-Engels-Straße. Vorbei an unserem Haus, wo mein Stiefvater das Frühstück bereitete und meine Mutter meiner Tochter vor der Schule die Zöpfe flocht. Vorbei an ihrem Leben, in das ich nicht passte, wo ich wie ein Gespenst aus einer anderen Welt erschien. Einer Welt, die mich immer tiefer in ihr Mysterium hineinzog, die mich in ihre Tunnel lockte und versprach, mir das Geheimnis von Tod und Leben zu enthüllen.
Nur eine Formsache, hatte der Chefarzt gesagt. Ich ging zu dem Gebäude, in dessen Keller vier Jahre vor meiner Geburt ganz formal die junge Sowjetmacht unschuldige Menschen getötet hatte, und ihr Blut war durch besondere Rinnen in das Abwasser meiner Heimatstadt geflossen. Zusammengepfercht in kleinen Räumen ohne Luft, mit einer grellen Lampe über ihren Köpfen, hatten sie entweder ihren Tod oder die Deportation nach Sibirien erwartet, ohne ihre Schuld zu kennen oder zu verstehen. So waren damals die Zeiten, Verbrechen waren an der Tagesordnung. Nur eine Formsache. Ich musste durch diesen Kreis der Hölle hindurchgehen. In Leningrad erwarteten mich neue wissenschaftliche Entdeckungen und ein freier Geist, den sich das geduckte, von der Macht erdrückte Riga nicht erlaubte.
Im Haus in der Friedrich-Engels-Straße führte mich ein gepflegter Herr in Zivilkleidung höflich in einen Raum, in dem es nur einen Tisch, eine Wasserkaraffe und ein Glas gab. Er begann ohne Umschweife.
Sie sind eine sehr begabte junge Ärztin, aber sie haben eine schwierige Biographie. Beantworten Sie meine Fragen kurz und verständlich.
Haben Sie jemals Ihren Vater getroffen?
Nein.
Wussten Sie, dass er ein Vaterlandsverräter war?
Nein.
Wenn Sie es gewusst hätten, hätten Sie ihn kontaktiert?
Nein.
Hat Ihre Mutter jemals von ihrem Bruder erzählt?
Nein.
Wussten Sie, dass er in London antisowjetische Propaganda und Hetze betrieb?
Nein.
Hätten Sie ihn gerne kennengelernt?
Nein.
Was genau haben Sie mit den folgenden Worten gemeint, die Sie an dem und dem Tag um die und die Uhrzeit in der Anatomie geäußert haben: „ich habe ihn noch nicht getroffen“? Wer ist dieser Er?
Gott.
Glauben Sie an Gott?
Nein.
Danke. Wir werden Ihren Chefarzt von unserer Entscheidung über Ihr Studium in Leningrad unterrichten.
Am Nachmittag rief mich der Chefarzt an und beglückwünschte mich zu meiner Fortbildung in Leningrad. Eine Stunde später mussten wir raus zum Hippodrom, das in blauen Flammen stand. Ich konnte noch alle möglichen Ampullen in meine Tasche werfen. Ich war aufgeregt, vor Ort habe ich mich anscheinend inadäquat verhalten, weshalb man mir eine Beruhigungsspritze gab. An Weiteres erinnere ich mich nicht.
*
Als meine Mutter aus Leningrad zurückkam, hatte sie plötzlich keine Arbeit mehr. Sie war still, zog sich in sich zurück, kam nur aus ihrem Zimmer, um Kaffee oder Tee zu kochen. Unser Alltagsleben verlief in zwei Paralleluniversen. In unserem Zimmer begann der Morgen früh. Mutters Stiefvater machte Frühstück, Mutters Mutter bügelte meine Schuluniform und flocht meine Zöpfe. Ich packte Schulbücher, Hefte und das Mäppchen mit Bleistiften, Federhalter und Radiergummi in meine Schultasche. Dann brachte Großmutter mich in die Schule. Ihre Hand war warm und hielt meine fest. Wir umarmten und küssten uns und sie sagte: lauf, Erbsle.
Ich lernte fleißig und zählte die Stunden bis zum Nachtmittag, wenn mich Mutters Stiefvater vor der Schule erwartete. Er war deutlich älter als die Mamas und Papas, die die anderen Kinder abholten, aber er war immer gut angezogen und fiel durch seine stattliche Größe auf. Auf dem Heimweg stellten wir