Muttermilch. Nora Ikstena

Muttermilch - Nora Ikstena


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war schwanger. Sie kam in Larisa Nikolajewnas Küche, fiel auf die Knie, umarmte meine Beine und wiederholte unter Tränen: swjataja, swjataja, swjataja. Du Heilige.

      *

      Wir fuhren mit der Bahn. Hinter uns verschwand die Silhouette der Altstadt, vorbei flogen die Viertel mit den neuen Häusern, wo die Menschen in einer anderen Welt lebten: mit einheitlichen Schrankwänden, einheitlichem Geschirr und niedrigen Tischchen, in einheitlichen Wohnungen mit einheitlichen Fußabtretern vor der Wohnungstür. Morgens strömten sie als einheitliche Masse zu ihren Arbeitsplätzen, abends strömten sie zurück und schauten einheitlich das Fernsehprogramm ihres unfassbar großen Vaterlandes, wo man ihnen die Gehirne vereinheitlichte. All das blieb hinter den Fenstern des Zuges zurück, als er in die Wälder einfuhr, als Wiesen vorbeiflogen und die Häuser vor dem Fenster und die Menschen an den Haltestellen immer weniger wurden. Bis Mutter und ich an einem kleinen Bahnhof auf freiem Feld ausstiegen. Der Zug verschwand mit einem Heulen in der Ferne, Mutter steckte sich eine Zigarette an, und der Weg in unser neues Leben konnte beginnen.

      Es war ein sonniger Frühlingsmorgen. Ich hatte mindestens drei Tage und Nächte geweint. Der Schmerz der Trennung von meinen großen Eltern war nicht auszuhalten. Meine Mutter sprach mit mir nicht darüber. Und ich erzählte ihr nicht, was ich in der Nacht vor unserer Abfahrt gehört hatte. Großmutter sprach in ihrem Zimmer flüsternd eine Art Litanei.

      Sie nimmt uns unser Erbsle fort. Nimmt es, bringt es fort, reißt es aus unseren Herzen heraus. Woher kommt diese Kälte in ihr, wir haben sie doch so geliebt und gehegt. Was soll nun werden? Sie ist oft unzurechnungsfähig. Mein Herz zittert, wenn ich an Erbsle denke. Wo ist das liebe Mädchen hin, das lächelnd aus der Schule heim kam, das Schürzchen noch so glatt wie am Morgen? Die bei den Schulaufführungen Sternchen und Wölkchen tanzte, und einmal den Schwan mit Flügeln, die ich ihr genäht hatte? Die Klassenbeste war, unsere Freude, unser Augenstern. Wo ist sie geblieben?

      Wie furchtbar war jenes erste Mal, und alle folgenden Male nach diesem ersten Mal. Als sie mit funkelnden Augen auf mich zukam, die Schublade der alten Anrichte aufriss, mir die Silbergabeln ins Gesicht warf und dabei schrie: ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich. Woher dieser Hass? So nah war sie mir doch, mein Töchterchen. So nah, als ich sie an mich gebunden über die zugefrorene Düna trug. So nah schlug ihr kleines Herz, so nah dem meinen. So nah war ihr Atem, als ich lautlos im Schrank saß und die Schläger unser Haus zerstörten. Wenn jemand sie mir weggenommen hätte, hätte ich ihn umgebracht. Und jetzt will sie mich töten. Und Erbsle hat sie die Muttermilch vorenthalten. War verschwunden, weggerannt, ließ ihr Kind zurück. Gab ihm nicht die Brust. Ich habe Erbsle gerettet. Und das Erbsle wuchs, wurde groß, begann zu blühen, blühte auf. Mit reinen, schönen Blüten. Jetzt hat sie sie mir weggenommen.

      Eine Weile gingen Mutter und ich auf den Gleisen. Pass auf die Weichen auf, sagte sie, dass dein Fuß nicht steckenbleibt. Ich kletterte vorsichtig über die Weichen und zählte die Schwellen unter meinen Kinderfüßen.

      In den nächsten Jahren wurden die Gleise zu meinem Rückzugsort. Wenn ich dort saß, fühlte ich mich meinen großen Eltern näher, die jetzt, genau wie ich, in Abschnitten lebten – von einem Besuch zum nächsten. Von den Güterzügen, die hier vorbeiratterten, war der Bahndamm häufig mit gelben Maiskörnern übersät. Ich las sie von den Steinen und tröstete mich damit über meine Sehnsucht, über die Sekunden, Minuten, Stunden und Tage der Trennung hinweg.

      Aber noch führte der Frühlingsweg meine Mutter und mich dem neuen Leben entgegen. So blühend und schön, wie es in der Schule gelehrt wurde. Alles würde gut werden, noch besser und richtig gut. Und in der Tat war dieser Frühlingsweg schön. Weiße und gelbe Windröschen grüßten aus den Gräben am Wegrand. Der Himmel war klar und blau, und in der Ferne schlug ein Kuckuck durch die duftende Stille. Die Birken waren noch von diesem grellen, nackten Grün, das blendet. Die Frühlingsluft vermischte sich mit Mutters Zigarettenrauch und kündete von etwas Unbekanntem und Verführerischem. Das vertrieb den Trennungsschmerz und tröstete die arme Kinderseele, indem es Wunder versprach.

      In unserem kleinen Häuschen am Dorfrand war alles anders, als ich es aus der Stadt gewöhnt war. Das Wasser musste man vom Brunnen holen, Herd und Ofen mit Holz befeuern, vom Trockenklo ging ein unangenehmer scharfer Geruch aus. Dafür waren meine Schule und Mutters Praxis keine zehn Minuten entfernt. Und wir hatten einen Garten, der zwar im Moment noch zugewachsen war, aber dort blühten gelbe wilde Tulpen, es gab ein paar Pflaumenbäume und einen alten Kirschbaum und noch eine Gruppe mir unbekannter Sträucher, die rosa blühten.

      Mein erster Schultag und der ganze restliche Monat bis zu den Sommerferien waren furchtbar. Meine Mutter brachte mich zu dem alten Backsteingebäude und stieß mich in die Löwengrube.

      Da stand ich dann, von niemandem geladen, ein neunjähriges Stadtkind. Die Dorfkinder waren ganz anders, verschlossen, voller Misstrauen. Sie schauten mich an wie jemanden aus einer anderen Welt und konnten sich nur beruhigen, wenn sie mich auf allerlei Arten auslachen und erniedrigen konnten. Die Lehrerin sah gleichgültig zu, denn sie war ihrerseits voller Misstrauen meiner Mutter gegenüber.

      Der erste Monat meines neuen Lebens verging in einem Nebel aus Tränen. Jeden Tag ging ich nach der Schule zu den Gleisen, setzte mich dem Bahndamm gegenüber hin und blickte in die Ferne, die mich zumindest in meiner Vorstellung zurück in die Stadt brachte, in der Großmutter mir Zöpfe flocht und der Stiefvater mich nach der Schule mit Würstchen, Muskartoffeln und Schmorkohl erwartete. Zurück in unsere stille Straße und das Haus, in der andere Zeiten herrschten.

      Mutter ging morgens früh in die Praxis und kam abends spät zurück. Ich musste selbst für mich sorgen. Ich lernte, den Herd und den Ofen anzuzünden, Wasser zu holen, Wäsche zu waschen, Suppe zu kochen. Ich wohnte in dem einen Zimmer zusammen mit dem Hund, der uns zugelaufen war. Er war lieb und ein treuer Freund, nur gab er seine Flöhe an mich weiter, die mich manchmal in der Schule im unpassendsten Augenblick unterm Kragen bissen.

      *

      Serafima veränderte sich vor unseren Augen. Mindestens jeden zweiten Tag kam sie ins Institut und brachte uns selbstgekochte und gebackene Köstlichkeiten. Sie behauptete, Frieden und Erleuchtung hätten ihren Mann überkommen. Er würde kaum noch trinken, sei aufmerksam und höflich und bemühe sich um sie. Schließlich trage sie sein Kind unter dem Herzen. Wir passten großartig zusammen: diese forschenden Ärztinnen, borstige Blaustrümpfe, die sich nur für ihre Reagenzgläser interessierten, für die Rätsel der Zellen unter ihren Mikroskopen, für Kaffee, Zigaretten, Koffein und Spiritus; die Ehe und Kindererziehung den Rücken kehrten und sich der Wissenschaft hingaben anstatt ihren Männern, und Serafima – Milch und Blut, die treue Ehefrau, die blühende Madonna, die lebende Praxis all unserer Theorien.

      Serafima hing an mir, wie man an Lehrern oder Heiligen hängt. Manchmal konnte ich ihren Blick nicht aushalten, in dem sich kindliche Naivität, Staunen und hündisches Vertrauen mischten. Oft, wenn niemand zusah, versuchte sie mich heimlich zu streicheln oder ein Kreuz über mir zu schlagen. Auch das ging mir auf die Nerven, aber ich versuchte es nicht zu zeigen, um sie nicht zu verletzen.

      Eines Nachmittags tranken wir Tee im Institut und ich erzählte Serafima, dass ich eine Tochter habe. Und dass ich nicht nur keine gute Mutter bin, sondern überhaupt nicht fühle, dass ich Mutter bin. Serafima schaute mich mit schreckgeweiteten Augen an und sagte, ich solle nicht weiterreden. Aber ich redete weiter, denn ich wollte diese Nabelschnur der Bewunderung durchschneiden. Ich erzählte Serafima, dass ich nicht an Gott glaube, und wenn es ihn doch geben sollte, so sei ich durch ein großes Missverständnis seinerseits Mutter geworden. Ich erzählte ihr, dass ich meine Tochter nicht stillen wollte, damit sie nicht gleichzeitig mit der Muttermilch meinen Alb einsaugte. „Alb?“ fragte Serafima überrascht. Ja, Serafima, ein Alb oder ein Teufel, wie das in deiner Sprache heißen würde. „Aber es ist kein Teufel in dir, du bist heilig,“ rief Serafima, und das kam so tief aus ihrer Seele, dass es mir die Sprache verschlug.

      Sie nahm meine Hand, legte sie auf ihren schwellenden Bauch und sagte: „Das hast du mir geschenkt.“ Sie sah mich mit erleuchteten, funkelnden Augen an, und für einen Moment schien mir, ich fühlte es. Das Mutterglück, das diesen leeren, unwirtlichen Flur mit einem sanften Licht erfüllte, das diesem sinnlosen Zeitalter, in dem es uns bestimmt war geboren zu


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