Muttermilch. Nora Ikstena
abfallen würde. Dann hielten wir beim Kiosk, wo eine weitere Schlange für die Abendzeitung anstand. Dann gingen wir nach Hause, wo mich das köstlichste Abendessen der Welt erwartete, das der Stiefvater gekocht hatte: Würstchen mit Stampfkartoffeln und Schmorkohl.
Am Abend wurde in unserem Zimmer der Fernseher eingeschaltet, der uns auf Russisch und Lettisch erzählte, in welch blühendem Land wir lebten.
Großmutter verfolgte mit viel Mitgefühl die langen Reden unseres großen Staatsmannes Leonid Iljitsch Breschnew, aber aus einem zutiefst menschlichen Grund: sie war davon überzeugt, dass Breschnew eine sehr schlechte Zahnprothese hatte, und fürchtete immer, dass sie während einer Rede herausfiel.
Selten ging ich abends zu meiner Mutter in das andere Zimmer. Es war vollgestopft mit Büchern und Bergen von Papier, überall standen schmutzige Tassen und volle Aschenbecher. Meine Mutter saß apathisch und gleichgültig auf dem Bett, blätterte irgendwelche Notizen durch und beachtete den Gast aus dem Nachbarraum nicht weiter. Sie hatte fast keinen Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Ich saß eine Weile da, sah sie und das Zimmer an, das sich so sehr von unserem unterschied, und ging dann leise wieder hinaus.
So vergingen unsere Tage. Ich lebte beschützt und liebte meine großen Eltern über alles auf der Welt. Du stirbst doch nicht, sagte ich, wenn ich mich in den Schoß von Großmutter oder Stiefvater kuschelte, und sah sie mit großen Kinderaugen an. Aber es war nicht der Tod, der uns trennte.
Ich erinnere mich an den Nachmittag, an dem ich, fröhlich ein paar Treppen auf einmal nehmend, aus der Schule rannte. Anstelle des Stiefvaters erwartete mich meine Mutter, und das erschreckte mich. Sie kam auf mich zu, küsste mich, nahm meine Schultasche und sagte, wir würden jetzt auf den Markt gehen. Auf den Markt? Wir gingen fast nie auf den Markt einkaufen, denn dort war alles teuer. Dort standen Männer mit dunklem Teint, in deren großen Koffern allerlei Wunder waren, die ich nie gesehen und nie probiert hatte: duftende gelbe Melonen, Butterbirnen, grüne Weintrauben und orange Kakifrüchte, zu denen sie sagten: Churma, Churma. Meine Mutter führte mich durch dieses ungewöhnliche Angebot und ließ mich wählen, wonach es mich gelüstete. Ich wählte zwei Birnen, eine Churma und eine Handvoll von etwas Nussähnlichem. Meine Mutter sagte, dass seien Esskastanien, und das erschien mir unglaublich.
Dieser wundersame Markttag, der so anders war als die gewohnten lieben Tage. Nachdem wir die exotischen Früchte gekauft hatten, setzte mich meine Mutter an den Tisch eines Marktcafés. Sie kaufte Kakao für uns beide und fragte mich, ob ich nicht mit ihr aufs Land kommen würde. Man hatte ihr Arbeit in einer kleinen Ambulanz angeboten. Wir würden es beide dort gut haben, ein eigenes Häuschen, einen Garten, vielleicht könnten wir eine Katze oder einen Hund haben. Es würde ein schönes Leben werden. Ich saß mit der großen Tüte in der Hand da und versuchte mit kindlicher Ergriffenheit mir dieses ganz andere, schöne Leben vorzustellen. Ja, aber was würde aus meinen großen Eltern? Wie würde es ihnen gehen?
Du fährst sie dann besuchen, so oft du willst, sagte meine Mutter.
Ich war wie ein kleines Tier, das sein Schnäuzchen neugierig ausstreckte und eine unbekannte und freie Welt erschnupperte, das aber große Angst hatte, seine liebe, warme Höhle zu verlassen. Je näher wir unserem Haus kamen, desto unmöglicher schien mir diese Möglichkeit. Ich sah sie beide in der Küche stehen, traurig und vergrämt. Anscheinend hatte meine Mutter schon mit ihnen gesprochen.
Mutter ließ uns allein. Wir hielten uns umschlungen und weinten. Erbsle, mein Erbsle, sagte Großmutter und streichelte meinen bezopften Kopf. Zum ersten Mal sah ich den stattlichen Stiefvater weinen. Es ging nicht anders. Ich war das Kind meiner Mutter, und meine Mutter wollte ihr Kind.
*
In Larisa Nikolajewnas altmodischer Wohnung auf dem Newski-Prospekt wurde die Welt, die ich mir ausgemalt hatte, Wirklichkeit. Die alte Dame weigerte sich, Petersburg Leningrad zu nennen, und erinnerte sich sowohl an den Luxus von dereinst, die bylaja roskosch, als auch an die Zeit der Blockade, als die Menschen Zeitungen und Kleister aßen. Medizin interessierte sie nicht, aber abends konnten wir stundenlang über Jessenin reden, den Larisa Nikolajewna nicht für einen großen Dichter hielt, jedoch interessierten sie die Gerüchte über sein Ableben. So sind bei uns viele umgekommen, sagte sie, überzeugt von den dunklen Taten der Macht.
Mich ließen diese Verschwörungstheorien kalt. Morgens ging ich ins Institut zu meinen russischen Kolleginnen, die sich von Kaffee, Zigaretten, Koffein und gekochter Roter Bete ernährten, dicke, kratzige Pullis und weite Hosen trugen, einen Bubikopf hatten und von dem Gedanken besessen waren, das Mysterium der Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit zu entziffern. Sie sprachen das Russisch der Intelligenz, hier und da mit ein paar passenden Kraftausdrücken gewürzt. Abends tranken sie verdünnten Spiritus, doch am Morgen saßen sie wieder frisch über ihre Mikroskope gebeugt.
Und war es denn kein Mysterium? Wenn das Sperma in die Vagina strömte, stürmten tausende flinke Geißeltierchen auf die Eileiter zu, bissen sich durch undurchdringliche Wände, ermüdeten auf dem Weg und fielen. Sie verloren dieses Spiel ums Leben, ohne je ihre Eizelle getroffen und befruchtet zu haben, ohne je zur Frucht zu werden, aus der nach neun Monaten ein Mensch wird. Ist es eine Kette von Zufällen oder ist es Bestimmung, und wir stehen klein und ohnmächtig davor und die Wissenschaft ist nur ein armseliges dem göttlichen Treiben Hinterhergejage? Ein Pendeln nach links oder rechts. Wie in Brodskys Gedicht: als ob sich jeder Dreh zur Linken zum Rechten kehrte.
Wenn wir uns mit den Zellmustern abgequält hatten und abends verdünnten Spiritus tranken, verweilten wir bei seinen Gedichten. Erst sechs Jahre zuvor war er aus Russland ausgewiesen worden. Jetzt irrte er durch die Straßen New Yorks. Wir spazierten in Leningrad über das dünne Eis des freien Denkens.
Larisa Nikolajewnas Nachbarin war eine brave Russin, die unter ihrem Mann litt, einem Kriegsinvaliden, der trank und sie schlug. Je mehr er seine Frau schlug, umso mehr liebte sie ihn. Und sie verlor nicht die Hoffnung, doch einmal Mutter zu werden. Serafima war orthodox getauft und schlich sich morgens und abends in die Speisekammer, wo sie ihre kleinen Ikonen und Kerzen versteckt hatte und die Gottesmutter um ein Kindchen bat. Sie kam oft herüber und hatte jedes Mal etwas Besonderes für uns gekocht: Krautpiroggen, ukrainische Maultaschen, Fleischklößchen oder Borschtsch. Wir aßen in Larisa Nikolajewnas Küche, und wenn Serafima ein Glas getrunken hatte, sang sie traurig das Lied vom Kindelein, das nicht zu seinem lieb Mütterlein kommt, im Himmel lebt’s als Engelein, kommt nicht herab zum Mütterlein.
Miloje ditja, kak sche ja bes tebja. Was mache ich nur ohne dich, mein Kindlein? Serafimas Sehnen und Leiden fühlte ich nicht in mir. Ich hatte ein Kind ausgetragen und geboren, aber kein Mutterinstinkt, keine Muttergefühle hatten sich in mir eingenistet. Jemand ließ mich nicht teilhaben an dem Mysterium, das ich bis zu den blanken Knochen der Wahrheit erforschen wollte. Ich war von zu Hause weggelaufen, um mein Kind nicht nähren zu müssen. Meine Milch war bitter, voll Ratlosigkeit, Milch der Verwesung. Ich bewahrte mein Kind davor.
Miloje ditja, kak zhe ja bez tebja, sang Serafima, und in meinem Kopf entstand ein Experiment. Wie wir Mutter Natur umgehen und dem lieben Gott, den ich in der Vorhölle verleugnet hatte, eine Nase drehen konnten. Meine Kolleginnen waren bereit, mitzumachen. Serafima mussten wir noch überreden.
Spät am Abend erzählte ich Serafima in Larisa Nikolajewnas Küche, was geschehen musste, aber in ihrem Körper nicht geschah, damit ein Kind entstand. Ich zeichnete Serafimas Eileiter, auf den eine ganze Armee Spermatozoen ihres saufenden gewalttätigen Mannes zustürzte, die sich jedoch als zu schwach erwiesen, um Serafimas Festung einzunehmen. Sie blickte mit erschreckten Augen in der Küche umher, bekreuzigte sich und murmelte unentwegt: Upasi Gospodi, Upasi Gospodi, Gott steh mir bei. Dann nahm ich allen Mut zusammen und sagte: Serafima, ich kann deinem Scheißkerl in diesem Kampf helfen, denn du willst es so, du willst es aus deinem ganzen guten, frommen Herzen, so sehr sehnst du dich nach deinem Ditja. Serafima erstarrte, ihr Gesicht schien zu versteinern. Nein, nein, liebe Serafima, ihr zwei macht das unter euch, ich reiche euch nur meine hilfreiche Ärztehand.
Serafima dachte drei Tage und drei Nächte darüber nach. Bis sie sich entschied. Am frühen Morgen ihres fruchtbaren Tages erwarteten wir sie im Institut. Unterm Arm, damit es warm blieb, trug sie das Sperma ihres Schlägers. Wir wärmten es nochmal auf der Heizung und führten es