Muttermilch. Nora Ikstena

Muttermilch - Nora Ikstena


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als sie das erste Mal ein Medikament überdosiert hatte, möglicherweise im Rahmen eines medizinischen Experiments. Ich erinnere mich an den Geruch ihres Morgenrocks, den Geruch der bitteren Tinkturen, die man ihr gab, als man sie ins Krankenhaus brachte. Und ich erinnere mich an den Flur der Frauenklinik, wo ich nach dem Nachtdienst auf sie warten durfte. Dann gingen wir ins Café in der Aloja-Straße und aßen Soljanka und grusinische Würstchen, und sie goss sich aus einer Ampulle Koffein in den Kaffee. Und ich weiß noch, wie starr unsere kleine Straße war, wie auf einem Bild, das aus einer anderen Zeit ausgeschnitten und in die heutige eingeklebt sein könnte. Nur die elegant gekleideten Leute auf dem Weg zu den Pferderennen im Hippodrom um die Ecke waren daraus verschwunden. An ihrer Stelle eilten nun andere Menschen mit eingezogenem Kopf auf dem Weg zur Arbeit dem Kommunismus entgegen. Aus ihren löchrigen Einkaufsnetzen lugten Stangenbrot und Kefirflaschen mit grellgrünen Deckeln und in graues Papier eingeschlagene Wäschepakete, die mit dünner brauner Kordel verschnürt waren.

      *

      Seit dem Drama in der Baumschule waren mindestens neun Jahre vergangen. Ich war eine Musterschülerin und nahm an Schulaufführungen und Kundgebungen teil. Ich hielt das große M, als wir Kinder die russische Botschaft My za mir! Wir für den Frieden! bildeten. Jeden Morgen lag für mich eine frisch gebügelte Schürze bereit, die Zöpfe wurden fest auf den Hinterkopf geflochten oder zu Affenschaukeln gebunden. Meine Mutter liebte und verwöhnte mich. Eines Tages tauchte ein großgewachsener, freundlicher Mann bei uns auf. Meine Mutter sagte, das sei nun mein Stiefvater. Am Abend, als er fort war, sah ich meine Mutter zum ersten Mal weinen. Sie saß in unserer langen engen Küche mit dem Fenster zum Hof, auf dem Herd dampfte ein Topf Kürbis zum Einlegen, und meine Mutter erzählte.

      Mein Töchterchen, mein liebes Töchterchen. Dein Papi wurde verhaftet, weil er die Tannenbäumchen retten wollte. Die Tannenbäumchen wollte er retten, und was hatte er davon, wäre er nicht hinausgerannt, hätte er nicht „ihr Halunken“ geschrien, wäre er heute noch bei uns. Aber er liebte den Wald und seine Tannenbäumchen, und er rannte hinaus. Sie haben ihn zusammengeschlagen, abgeführt, drei Tage lang habe ich ihn gesucht, bis ich ihn am Bahnhof Šķirotava gefunden habe. Hinter Gittern, voller Wunden, ganz ausgezehrt. Durch das Gitter hindurch hat er meine Hand genommen und sie ganz fest gehalten, bis ein Aufseher kam und ihm mit dem Gewehrkolben auf die Hand schlug, auch meine hat er dabei getroffen. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Es fehlte jede Spur. Bis einer aus der Ferne die Nachricht brachte, dass er tot sei. Fünf Jahre ist das jetzt her. Er ist tot, mein Töchterchen, dein Papi.

      Ich erinnere mich nicht, dass es mir viel ausgemacht hätte. Ich erinnere mich an Mamas weinerliche Stimme und daran, dass sie für alles Verkleinerungsformen benutzte – Töchterchen, Tannenbäumchen, Papi. Mein stattlicher Stiefvater gefiel mir, und an meinen Vater konnte ich mich nicht erinnern.

      Bis eines Nachmittags am Kiosk bei meiner Schule, wo es einen Sodaautomaten gab, von dem zu trinken kategorisch verboten war, aber genau das war es, was man am meisten wollte, ein großer aufgedunsener Mann zu mir kam und sagte, er sei mein Vater. Ich rannte weg, so schnell ich konnte, schreiend und weinend rannte ich nach Hause, wo ich meine Mutter bleich wie ein Leintuch vorfand. Er war nicht gestorben. Er war zurückgekommen.

      *

      Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mich jemals zur Schule gebracht oder von der Schule abgeholt hätte. Das tat immer ihr Stiefvater, der sie adoptiert hatte. Wir gingen die nach dem russischen Klassiker Gorki benannte Straße entlang, ein leichter Wind wehte von der Straße des französischen Schriftstellers Barbusse eine Mischung aus Hopfen- und Schokoladengerüchen herbei. Das kündigte von Frieden und Zuhause. Es war nur ein kurzer Weg, ein Streifen Zeit im Raum der Geschichte. Irgendwo weit weg, in einer unerreichbaren geographischen Zone, desertierte jemand aus dem Vietnamkrieg und verdarb sich damit das Leben unter mustergültigen amerikanischen Gastgebern und Gastgeberinnen, die sich von Blumenkindern, Drogen und Rock ‚n‘ Roll abwandte. Irgendwo weit weg lag jemand in der sibirischen Weite unter dem Gras, jemand verbüßte noch seine Strafe für den Verrat am Volk, doch ein anderer war zurückgekehrt, um den Alltag für die ihm noch bestimmte Zeit schweigend zu ertragen. Irgendwo nicht ganz so fern lebte jemand ein alternatives Leben: las verbotene Bücher im Samisdat, trank Wodka und träumte vom freien Westen, der wie eine Fata Morgana hinter dem Eisernen Vorhang in der Luft schwebte. Aber hier in der Nähe lebten die Menschen ihren Alltag. Standen am Morgen auf, arbeiteten, legten sich schlafen. Verliebten sich, machten Kinder, lebten, starben.

      Ich hatte keine Angst vor den Amerikanern, ich fürchtete mich weder vor Onkel Sam noch vor einem Atomkrieg. Ich hatte Angst vor meiner Mutter. Manchmal wurde sie von einer satanischen Macht befallen, die aus ihr hervorbrach und alles um sie herum vernichtete, insbesondere die Liebe ihrer Nächsten. Dann hasste sie ihre Mutter, hasste noch mehr ihren Vater und hasste die Tatsache ihrer eigenen Geburt. Sie schloss sich im Klo ein und heulte, und der lange Flur, an dessen Ende ich stand und durch den dies Heulen drang, das meine Kinderknochen zum Zittern brachte, war Ausdruck eines endlosen, unerklärlichen Hasses auf ein Leiden, das ich noch nicht verstand, auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, auf die Gier nach Leben, in dem sich das Licht der Existenz wie in einem dunklen Tunnel in einem grausigen Strudel der Vergänglichkeit drehte.

      Dann wieder wurden die Momente der Dunkelheit von seltenen kleinen Lichtflecken abgelöst. Wir saßen im Wohnzimmer am offenen Fenster, durch das Essensgeruch und Kindergeschrei drangen. Meine Mutter zeichnete mit Buntstiften auf ein großes Blatt Papier, wie ein Baby auf die Welt kam. Ich saß auf ihrem Schoß und hatte keine Angst. Zuerst zeichnete sie ein lächelndes Baby im Bauch der Mama, dann zeichnete sie den Kopf des Babys, der gerade zwischen den Beinen der Mama herausgeglitten war, und die Grimasse auf seinem Gesichtchen zeugte von dem Leiden und dem Schrecken, die es hier erwarteten. Dann zeichnete sie Mama und Kind mit der Nabelschnur zwischen sich, sie schienen sich an der Hand zu halten und fröhlich zu tanzen. Dann zeichnete sie noch die Schere, die die Nabelschnur durchschnitt. Und dann zeichnete sie die Mama, die ihr Kindchen im Arm hielt und es mit sanften, aber zugleich erschreckten Augen betrachtete. Ich folgte den Bewegungen ihrer Hand, den Zügen des Stifts. Ihre Hand war klein und weiß, die Nägel abgebrochen, die Haut in der Handfläche trocken und aufgerissen vom ewigen Talkum, den sie in die Gummihandschuhe schütten musste. Ich saß auf Mamas Schoß, ich hatte keine Angst, und ich beugte mich nieder und schmiegte meine Wange in ihre Hand.

      *

      Meine Mutter beschloss, nicht zurück zu blicken. Sie heiratet meinen Stiefvater, der mich adoptierte und wie sein eigenes Kind liebte. Wir sprachen nie über meinen wahren Vater. Meine Mutter erfuhr auch nie, dass ich meinen Vater über mehrere Jahre hinweg besuchte. Er war schwerkrank aus der Verbannung heimgekehrt und lebte unter unmenschlichen Bedingungen in einer Kammer in einer Gemeinschaftswohnung, in der es immer feucht war und der Fußboden mit Zeitungen ausgelegt wurde. Fast immer war er leicht oder schwer betrunken. Wenn er etwas nüchterner war, erinnerte er sich an seine Studienzeit, an seine Forschungen über jungen Wald, an seinen Widerwillen gegen Studentenverbindungen. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihn als Kind wie einen kleinen Herrn kleidete und ihn Jeannot nannte. „Du, meine Tochter, hast blaues Blut“, behauptete er, denn sein Vater sei ja nicht der Schuster in Dobele gewesen, den seine Mutter hatte heiraten müssen, sondern ein deutscher Baron. So war das. Mein Vater war nur einer in der schweigenden Legion derer, die sich nicht an die sowjetische Realität anzupassen vermochten. Die weder Breschnews noch Andropows Tod erlebten, weder Gorbatschow noch die singende Revolution, weder…

      Berührt von Vaters Leiden, beschloss ich, Ärztin zu werden. Ich bin mir nicht sicher, dass ich ihn geliebt habe. Manchmal tat er mir leid, manchmal hasste ich ihn, denn ich spürte sein Selbstzerstörungsgen tief in mir stecken, spürte, dass es allmählich wachsen und stärker werden würde, und sah voraus, dass es mich besiegen würde. Wie sehr ich auch dagegen ankämpfen würde, es würde mich besiegen.

      Ich erinnere mich gut an Vaters Todestag. Ein Nachbarin machte die Tür zur Gemeinschaftswohnung auf. Sie war eine herzliche jüdische Dame und hatte mich oft mit Kringeln aus der jüdischen Küche verwöhnt, die mit einer braunen, etwas zähen Glasur überzogen waren. Sie nahm mich liebevoll in den Arm, presste mich an ihr weiches Häkeltuch und schluchzte leise. Dann nahm sie mich an die Hand und wir gingen in Vaters Kammer. Dort lag er – ausgemergelt, mit halb geöffnetem Mund. Die Nachbarn hatten


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