Die Lichtschreiberin. Almut Adler
Lakritze teilen oder Zigaretten holen. Um mehr zu lernen, brauchte ich eine Kamera, die war aber mit 16 Jahren unerschwinglich.
Mein Vater überließ mir schließlich seine Agfa Silette, eine Kleinbild-Sucherkamera aus silbernem Alu, mit manueller Belichtungseinstellung und fest verbautem Objektiv. Er mahnte mich, nicht die braune Lederschatulle zu entfernen und vorsichtig damit umzugehen. Die fand ich spießig, sie sah mir zu sehr nach Vatis Urlaubsknipse aus. Für meine ersten fotografischen Experimente war die Kamera ideal und simpel zu bedienen. Jedes Foto überlegte ich mir sehr genau, denn Filme kaufen riss ein großes Loch in meine Taschengeldkasse.
Schon früh schien meine visuelle Wahrnehmung ausgeprägter als bei Menschen in meinem Umfeld. Ich bemerkte, dass ich die Dinge um mich herum differenzierter betrachtete. Überall sah ich in Gegenständen Motive, Figuren oder Buchstaben. Farben, Formen und Fotos faszinierten mich, kein Wunder also, dass ich zweimal einen visuellen Beruf ergriff. Mit 16 Jahren stand mein Wunsch fest, ich will Grafikerin werden. In Sport und Kunst glänzte ich mit einer Eins, in Mathematik glich ich eher einer runter gedimmten Leuchte. Meine Schulzeit verlief glatt, ich blieb nie sitzen und kam aufs Gymnasium. Doch Mathe und Physik waren mir zu abstrakt. Für ein Grafik-Studium brauchte ich Abitur, dieses Ziel verfehlte ich allerdings schon im Ansatz. Mit mittlerer Reife und einer Lehre im grafischen Gewerbe war es dennoch möglich Grafik zu studieren. Danach benötigte ich nur noch ein praktisches Berufsjahr. Dem Wunsch seiner Tochter entsprechend nahm mich mein Vater von der Schule und suchte eine Lehrstelle im grafischen Gewerbe. Lieber hätte der Oberamtmann von der Post eine Beamtin aus mir gemacht, aber er respektierte meinen Wunsch. Bei allen seinen Kindern bemühte er sich um die Förderung ihrer Fähigkeiten. Mein großer, schlanker Vater gehörte eher zu den stillen Männern, aber er besaß einen feinen ironischen Humor. Er war großzügig in großen Dingen und geizig in kleinen Dingen. Ich mochte seine liebevollen, dunklen Augen und seine Hände. Er verbrachte mit seinen Kindern für die damalige Zeit ausgefallene Urlaube. Ganz früher an der Ostsee, dann auf Norderney und später in Italien und Frankreich. Wenn das SPD-Mitglied seine Meinung vertrat, hörte ich ihm aufmerksam zu. Als älterer Mann war er sehr in sich gekehrt, fast ein wenig autistisch.
Im Oldenburger Stalling-Verlag begann ich meine Ausbildung als Reproduktions-Fotografin. Dort wurde das 20-bändige Bildlexikon „Der große Brockhaus“ produziert. Für das Werk mussten etwa 40.000 Vorlagen fotografiert oder reproduziert werden. Meine 3-jährige Fotolehre bestand aus Dunkelkammerarbeit, Studio- und Reproduktionsfotografie. Besondere Freude machte mir das fotografieren von Eric Carles Originalzeichnungen für das wunderbar zeitlose Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“. Ich träumte davon, später auch mal Zeichnungen und Fotos zu reproduzieren – für mein Buch.
Die vor mir liegenden Lehrjahre erscheinen unendlich lang und hart, denn damals wurde ein Lehrling “Stift” genannt, mit dem man alles anstiften konnte. Meine zwei Ausbilder waren zwar stets bemüht dem einzigen Lehrling möglichst viel beizubringen, aber ich war auch immer ihren Launen und derben Späßen ausgesetzt. Einmal beauftragen sie mich die weißen Laborkittel in ein violettes Bad zu legen und sie unterzutauchen, damit die braunen Entwicklerflecken verschwinden. Danach waren meine Hände violett gefärbt.
Als ich die Farbe mit Wasser abwaschen wollte, ging zu meinem Entsetzen nichts davon ab. Dafür erntete ich schadenfrohes Gelächter und meine Ausbilder meinten dass dies nun so bis zum Ende der Lehre bleiben würde. Immer wieder versuchte ich meine Hände mit Seife zu säubern, aber die Farbe löste sich nicht auf. Dann rieten sie mir, die Hände in ein grellgelbes Bad zu tauchen, damit die Farbe verschwindet. Ich wurde skeptisch, nun würde ich gelbe Hände bekommen dachte ich, machte aber was mir geraten wurde. Wie von Geisterhand verschwand das Violett, meine Hände waren blitzsauber. Ich hatte keine Ahnung wie die Chemikalien hießen, aber die Wirkung blieb mir in ewiger Erinnerung. Wahrscheinlich diente das Zeug zum entwickeln von Druckplatten. Nachdem meine Hände sauber waren, musste ich alle Laborkittel meiner Kollegen in gelbe Farbe tauchen. Sämtliche Entwicklerflecken verschwanden, die Kittel strahlten so weiß wie neu.
Meine erste eigene Kamera wog doppelt so viel wie die Agfa Silette meines Vaters, aber sie machte auch zweimal mehr her. Die Exakta mit Aufsichtssucher kaufte ich Eckhard ab. Doch die unhandliche Kamera mit dem irritierenden Aufsichtssucher nervte mich bald, Eindruck schinden war mir zu mühsam. Ich wünschte mir lieber eine coole Spiegelreflexkamera wie Arnulf sie besaß. Und ich schwärmte von einem Teleobjektiv, das die Motive so schön nah ran holen konnte. Von meinem mickrigen Lehrlingsgehalt konnte ich aber nur davon träumen. Es langte gerade, um Eckhard seine noch schwerere, zweiäugige 6x6 Rolleiflex abzukaufen. Dieser Kameraklotz war wegen seiner Parallaxenverschiebung sehr umständlich zu handhaben. Der Bildausschnitt im Aufsichtssucher entsprach nicht dem tatsächlichen Bildausschnitt der Aufnahme was ich als äußerst nachteilig empfand. Schon bald kaufte ich mir von den Ersparnissen meines Lehrlingsgeldes eine gebrauchte Spiegelreflexkamera, die handliche Ashai Pentax ES II mit Schraubgewinde. Zu dieser Zeit war ich vom Fotografieren noch weit entfernt, ich knipste. Der Horizont hing schief, Füße, Hände und Finger wurden angeschnitten, den Portraits fehlte Augenglanz oder den Menschen wuchsen im Hintergrund Papierkörbe und Lichtmasten aus den Köpfen. Mein jugendliches Fotointeresse beschränkte sich darauf Erinnerungen festzuhalten. Aber das sollte sich bald ändern. Aus dem Mädchen das knipste, wurde eine Frau die fotografierte!
Die Welt begeisterte sich 1969 für die Mondlandung der Apollo 11 Mission und Neil Armstrongs Schritte auf dem Mond. Doch mich faszinierte wo Arnulf gelandet war und welche Schritte er machte. Seine Fotos sahen schon verdammt künstlerisch aus. Da wollte ich auch landen! Mit Arnulf verbindet mich die längste Beziehung meines Lebens, mein großer Bruder beschützte mich sogar vor Eckhard. Arnulf brachte mir das Laufen bei, er begeisterte mich für die Fotografie, fürs Reisen und fürs Schreiben. Er war mein Vorbild, ihn liebte ich seit meinen ersten Schritten. Als Erwachsene hatten wir einmal ernsthaft Streit. Worum es dabei ging haben wir beide vergessen, nie waren wir nachtragend miteinander. Als Arnulf dann noch mit seiner Frau Ilse nach hause kam, machte er mein Glück perfekt. Mit Ilse bekam ich die große Schwester die ich mir immer wünschte.
Meiner ersten großen Liebe begegnete ich in der Kantine vom Stalling-Verlag. Lutz machte dort eine Ausbildung als Drucker. Der 21-jährige war für mich schon ein erfahrener Mann. Er spielte als Schlagzeuger in der Band Four percent, einmal sogar als Vorgruppe von Drafi Deutscher. Lutz trug gerne lässige Wildlederjacken, Hosen mit Aufschlag und er hatte eine Vorliebe für Rollkragenpullover. Mir gefiel der große Blonde mit dem schlaksigen Gang. Ich liebte sein kullerndes Lachen und verguckte mich in seine graugrünen Augen. Nur seine Beine waren mir etwas zu dünn. Lutz war ein zielstrebiger Typ, er plante nach seiner Lehre auf der Druckereifachschule seinen Ingenieur zu machen. Manchmal träumten wir beide davon, irgendwo gemeinsam zu studieren und zusammen zu wohnen. Von ihm bekam ich meinen ersten Heiratsantrag und Lutz animierte mich zu spannenden Fotoexperimenten. Verliebt wie ich war musste er ständig als Modell herhalten. Auch in der Dunkelkammer wurde ich experimentierfreudiger und tüftelte am Effekt der Solarisation. Während der Entwicklungsphase knipste ich für ein paar Sekunden das Deckenlicht an. Daraus kristallisiert sich ein Bild mit negativen und positiven Komponenten heraus. Doch bis endlich ein akzeptables Ergebnis dabei heraus kam, produzierte ich viel Entwicklungspapier für die Tonne. Das Endresultat konnte sich sehen lassen - natürlich war es ein Portrait von Lutz. Beide waren wir ein glückliches junges Liebespaar, bis der regelmäßige Wochenendsex mich unglücklich machte. Ich nahm die Pille, geriet aus den Fugen und meine Libido blieb auf der Strecke. Zudem fehlte mir die Fantasie im Bett, alles verlief nach dem gleichen, vorhersehbaren Muster. Wie konnten wir beide ahnen, dass die in den 60er-Jahren eingeführte Pille der Lustkiller war? Liebe ohne Spaß am Sex fand ich nicht lustig! Ich stellte meine erste Beziehung in Frage, Lutz wird noch nicht der Richtige sein. Nach drei Jahren trennten wir uns und blieben lebenslang befreundet. Jahrzehnte später habe ich von seinem Freitod erfahren.
Bei der Fotografen-Gesellenprüfung hatte ich einen Blackout. Für meine Note in Mathe sah sie schwarz. Doch zum Schluss sah es dann doch rosiger aus als ich dachte. Mit einem Gesellenbrief