Deutschstunde. Siegfried Lenz
ich meine sogar befremdet, ließ er den Stock sinken, suchte den Blick meiner Mutter, als ob er sich entschuldigen müßte für mein Versagen, doch meine Mutter rührte sich nicht. Der Stock hob sich wieder, ich bückte mich, spannte mein nacktes Gesäß und sah seitwärts auf meine Mutter, mit zusammengepreßten Zähnen, und auch diesmal richtete ich mich blitzschnell vor dem Schlag auf. Ich machte zwei Lockerungsschritte. Ich massierte einmal kurz mein Gesäß, trat zurück und krümmte mich unter dem immer noch erhobenen Stock. Diesmal war ich entschlossen, den Schlag hinzunehmen, doch bevor der Stock pfeifend niedersauste, wurden die Nägel des Fußbodens lebendig, Krebse kniffen sich in meinen Kniekehlen fest, ein Albatros hieb auf meinen Nacken ein, da war nichts zu machen: ich fiel auf die Knie und wimmerte.
Das hatte meine Mutter mir wohl nicht zugetraut, sie erwachte aus ihrer Starre, sie ließ die Hände sinken und blickte mich einmal mit müder Geringschätzung an, bevor sie achtlos und nicht mehr interessiert an meiner Bestrafung aus dem Zimmer ging. Verblüfft sah ihr mein Vater nach, wollte sie wahrscheinlich zurückhalten, murmelte ihr auch etwas hinterher, doch meine Mutter war schon draußen auf dem Gang, im Schlafzimmer, der Schlüssel drehte sich schon knackend herum.
Da zuckte mein Vater die Achseln, musterte mich verlegen, auch lustlos, und ich erkannte meine Chance: ich lächelte ihn wimmernd an und machte sogar einen Versuch, ihm zuzuzwinkern wie einem Komplizen nach bestandener Gefahr, doch das Zwinkern gelang mir augenscheinlich nicht, es geriet wohl mehr zur Grimasse, worauf mein Vater auf seine Taschenuhr blickte, mich lustlos am Hemd packte und zum Tisch schleppte. Sorgfältig drückte er meinen Oberkörper auf den Tisch hinab. Ich stemmte mich leicht ab. Er drückte wieder. Ich stemmte mich leicht ab. Er hieb mir mit der flachen Hand auf die Nackenwirbel. Ich schlug auf den Tisch auf und stemmte mich leicht ab. Unter meinem Gesicht lag die blaue Meereskarte aus Leinwand, dehnten sich die Ozeane, über die ich träumerisch herrschte, wenn ich die großen Seeschlachten nachspielte: hier hatte ich mein Lepanto, mein Trafalgar geschlagen, hier hatten sich Skagerrak wiederholt und Scapa Flow und Orkney und die Gefechte von Falkland: schiffbrüchig trieb ich jetzt in den Gewässern meiner erträumten Triumphe, mit gestrichenen Segeln.
Ich hatte nicht damit gerechnet, daß schon der erste Schlag diesen siedenden Schmerz hervorrufen würde, weil doch Lustlosigkeit den Stock führte und eine gewisse Verdrossenheit, doch schon nach dem ersten Schlag lief ein heißer Striemen über mein Gesäß, und da ich mich aufbäumte, zwang mich die Linke meines Vaters nieder, tauchte mich in ein brennendes, tiefes Meer von Schmerz und Unterlegenheit, während die Rechte den Stock hob und ihn herabsausen ließ, scharf genug, aber auch eigentümlich zerstreut. Nachdem ich begonnen hatte, nach jedem Schlag mit einem hohen, trockenen, etwas übertriebenen Schrei zu reagieren, lauschte mein Vater von Zeit zu Zeit auf den Gang hinaus, wartend auf das Erscheinen meiner Mutter, der er mit meinen Schreien doch eine Entschädigung bot für ihre Enttäuschung.
Da die Geräusche meiner Bestrafung ihr Ohr erreichten in der Einsamkeit und Kühle des Schlafzimmers, konnte sie doch nicht gleichgültig bleiben, dachte er, und hörte nicht auf, den Kopf zu wenden, zu lauschen und hinüberzuspähen. Mein Vater. Der ewige Ausführer. Der tadellose Vollstrecker. Meine Mutter tauchte nicht mehr auf. Selbst als ich nur noch einen kurzen, erstickten Schrei ausstieß, der ihr neu sein mußte, erschien sie nicht, was meinen Vater offensichtlich mutlos machte: die letzten Schläge fielen nur noch mechanisch, und als ich mich umsah zu ihm, winkte er mich mit dem Stock zum Bett hinüber.
Ich ließ mich fallen. Die Stockspitze fuhr unter mein Kinn. Er zwang mich, zu ihm aufzusehen, und durch den Schleier der Tränen erschien er mir erschöpft und unglücklich, aber als wollte er diesen Eindruck bestreiten, fragte er mit angehobener Stimme: Was hast du zu sagen? Weil ich ihm eine Wiederholung der Frage ersparen wollte, antwortete ich rasch: Ich hab bei Gewitter im Haus zu sein. Er nickte und war zufrieden, zog die Stockspitze von meinem Kinn. Du hast bei Gewitter zu Hause zu sein, sagte er, ja: das verlangt deine Mutter, und das verlang auch ich: bei Gewitter – zu Hause.
Dann zerrte er die Bettdecke unter meinem Körper hervor, deckte mich zu und saß tatenlos auf dem Holzstuhl vor meinem Ozean, das Gesicht lauschend zur Schräge verzogen und hilflos, da er ohne Auftrag war und ohne Auftrag nur ein halber Mensch. Er war nicht ungeübt in stillem, trägem Dasitzen, auch genügte er sich durchaus in ereignislosen Winterstunden, in denen er ausdauernd den Ofen beobachten konnte, aber am meisten holte er doch ohne Zweifel aus sich heraus, wenn ihm eine überschaubare und unmißverständliche Aufgabe anvertraut wurde, in deren Verfolgung er, sagen wir mal, Fragen ausdenken und sie stellen mußte.
Ich wimmerte überzeugend. Ich beobachtete ihn mit einem Auge am Ellenbogen vorbei; die Striemen brannten, die Bettdecke lastete mit unerträglichem Gewicht auf der gesprungenen Haut, und ich wünschte ihn mir fort, verlangte nichts mehr, als allein zu sein, aber er ging und ging nicht und konnte mein Wimmern ertragen und alles. Auf einmal stand er sogar auf und kam zu mir, tippte mir leicht auf die Schulter und meinte etwa: Du brauchst nicht mehr zu verstehn, als du gesagt bekommst, das genügt: hast du mich verstanden? Ich sagte: Ja, und, um ihn loszuwerden, noch einmal: Ja. – Brauchbare Menschen müssen sich fügen, sagte er, und ich hastig darauf: Ja, Vater, ja, und er wieder monoton und bedachtsam: Aus dir machen wir was Brauchbares, wirst sehn. Und plötzlich fragte er: Hat er gearbeitet, der Maler? Ich verstand ihn nicht schnell genug, und so fragte er abermals: In der Hütte, der Maler, hat er gearbeitet, als ihr da wart? Da sah ich erstaunt zu ihm auf und erkannte, daß einiges abhing von meiner Antwort und daß mein Wissen etwas bedeutete, und ich tat, als ob ich Schwierigkeiten hätte mit meiner Erinnerung oder, das ist vielleicht genauer, als ob die Schmerzen, die er mir beigebracht hatte, nun mein Gedächtnis verdunkelten. Möwen, sagte ich schließlich: Er hat uns Möwen gezeigt, und jede Möwe sah aus wie du. Mein Vater wollte da noch mehr wissen, viel mehr konnte ich ihm nicht sagen, aber das, was er erfahren hatte, war ja auch schon genug, um ihn zu verwandeln: vorbei war seine Unschlüssigkeit, er schien auf einmal erwacht, gelenkig, hellhörig, er zeigte regsames Mienenspiel, er legte sich einen Ausdruck von überraschter Erbitterung zu und sah kurz aus dem Fenster mit einem Blick, in dem Warnung und Enttäuschung zugleich lagen – zumindest bilde ich mir das ein –, und dann, nie werde ich es vergessen, setzte er sich auf mein Bett, sah mich dringend an, prüfend, ja, auch inständig, und sagte langsam: Wir werden zusammenarbeiten, Siggi. Ich brauche dich. Du wirst mir helfen. Gegen uns beide, da kann es keiner aufnehmen – nicht mal er. Du wirst für mich arbeiten, und ich werde aus dir dafür etwas Ordentliches machen. Es ist nötig. Und jetzt hör zu! Wimmer nicht mehr. Hör zu!
4 Der Geburtstag
Immer höher, schneller und steiler. Immer kraftvoller die Schwünge. Immer näher der breiten, zerzausten Krone des alten Apfelbaums, den noch Frederiksen gesetzt hatte, als er jung war. Das sauste nur so, wenn die Schaukel an zitternd straffen Seilen zurückfiel aus grüner Dämmerung, die Ringe knarrten, ein scharfer Luftzug entstand, und über Juttas gestreckten, ausbalancierten Körper flog das Muster der Geästschatten. Hoch stieg sie auf, hielt sich eine Sekunde still in der Luft, stürzte, und in diesen Sturz mischte ich mich ein, indem ich das vorbeifliegende Schaukelbrett oder Juttas Hüfte oder ihren kleinen Hintern blitzschnell erwischte und vorwärts, aufwärts stieß in die Krone des Apfelbaums; wie von einem Katapult schnellte sie hinauf mit flatterndem Kleid, mit gespreizten Beinen, und der sausende Luftzug modellierte an ihr herum, zerrte ihr Haar nach hinten oder ließ das knochige, spottlustige Gesicht noch schärfer werden. Sie war darauf aus, sich mit der Schaukel zu überschlagen, und ich war darauf aus, ihr den nötigen Schwung zu liefern, aber wir schafften es nicht, selbst als sie sich breitbeinig auf das Schaukelbrett stellte, schafften wir es nicht, weil der Ast zu krumm war oder der Schwung nicht groß genug: damals in des Malers Garten, an Doktor Busbecks sechzigstem Geburtstag. Und als Jutta merkte, daß ich es nicht schaffen würde, ließ sie sich wieder auf das Schaukelbrett hinab und schwang lächelnd und ehrgeizlos hin und her und hörte nicht auf, mich anzusehen auf eine von niemandem geschulte Art, bis sie mich auf einmal in der Grätsche ihrer mageren braunen Beine fing und festhielt: da wußte ich einfach nicht, was ich noch hätte wahrnehmen können außer ihrer Nähe. Jedenfalls begriff ich ihre Nähe, und sie begriff, daß ich begriff, das möchte ich