Deutschstunde. Siegfried Lenz

Deutschstunde - Siegfried Lenz


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die Klammer ihrer Beine, rutschte von der Schaukel und lief zum Haus hinüber, wo Ditte sich aus einem der vierhundert Fenster hinauslehnte und auf flacher Hand einige Stücke blaßgelben Streuselkuchen hielt, so wie man etwas den Vögeln hinhält.

      Ich schnappte meinen Stock und lief hinterher. Ich sprang über die Blumenbeete und Stauden und versuchte, den Weg abzukürzen, doch all unsere Eile lohnte sich nicht, denn noch bevor Jutta oder ich am Fenster waren, sah ich Jobst aus dem strohgedeckten Gartenhaus hervorbrechen oder rollen, ein gewalttätiger Kugelblitz, ein feistes, aber flinkes Ungeheuer mit sehr kurzen Fingern und aufgeworfenen Lippen, das achtlos durch großen Mohn und Zinnien stampfte, durch all die miteinander rivalisierenden Farben, und natürlich war er als erster am Fenster, riß die Kuchenstücke von Dittes Hand, schob sich zwei in die Tasche und schlang das dritte herunter mit genußvoll geschlossenen Augen. Ihm war anzusehen, daß er nichts herausrücken würde von dem erbeuteten Kuchen – nie hat der mal etwas gelockert, was in seinen Besitz geraten war –, darum versuchte Ditte erst gar nicht, ihn mit mahnenden Worten zu überzeugen, sondern winkte uns in die Wohnstube hinein.

      Ich hätte Jutta gern eingeholt in der Düsternis des Flurs, aber sie war mir voraus, sie antwortete nicht auf meinen Anruf, öffnete schon die Tür, als ich noch nach ihr tastete zwischen einem Spalier von Kübeln, Besen und Truhen. Sie ließ die Tür offen. Sie wandte sich nicht einmal um. Die Stille machte mich mißtrauisch, und ich ging leise bis zur Türschwelle und glaubte die Wohnstube leer und verlassen und dachte: Wo steigt denn nur der Geburtstag, wenn nicht hier, doch dann, als ich zögernd eintrat und mich umwandte, erschrak ich, wie jeder erschrocken wäre, der die Wohnstube betreten hätte mit meinen Erwartungen: an dem schmalen, unbegrenzten Geburtstagstisch saß feierlich altersgraues Meergetier und trank schweigend Kaffee und würgte schweigend, ganz versenkt in eigensinnige Kontemplation, trockenen Sandkuchen und Nußtorten und blaßgelben Streuselkuchen herunter. Stelzbeinige Hummer, Krabben und Taschenkrebse hockten auf den hochmütigen, geschnitzten Sesseln von Bleekenwarf; hier und da verursachten harte, gepanzerte Glieder ein trockenes Knacken, eine Tasse klapperte, wenn knochige Hummerscheren sie absetzten, und einige streiften mich mit einem Blick aus gleichgültigen Stielaugen, unerschütterlich, mit der monumentalen Gleichgültigkeit gewisser Gottheiten, das möchte ich meinen. Dabei glich diese schweigende Versammlung von Meergetier durchaus Leuten, die ich kannte: zwei sahen aus wie die alten Holmsens von Holmsenwarf, ich glaubte Pastor Treplin zu entdecken und Lehrer Plönnies, und dann machte ich meinen Vater aus und sogar Hilke und Addi, und neben der zartesten Meerforelle, die so sehr Doktor Busbeck glich, saß mit abweisendem Gesicht und strengem Haarknoten als Zackenbarsch meine Mutter. Einer allerdings flatterte, quakte und bewegte sich lustig wie ein Laternenfisch, und das war der Maler.

      Es war auch der Maler, der plötzlich rief: Laß man die Kinder am lütten Tisch ätn, aber da war Ditte schon neben mir und zog mich zu dem kleinen Tisch und drückte mich sanft nieder auf einen altmodischen Stuhl, der mich sogleich zwang, still zu sitzen und den Körper steif aufrecht zu halten, weil ich sonst auf der leicht abgeschrägten Sitzfläche ins Rutschen gekommen wäre. Ditte nahm mir den mit Reißnägeln besetzten Stock aus der Hand und legte ihn aufs Fensterbrett. Sie forderte Jutta auf, mir Milch einzuschenken, und drehte den runden Kuchenteller ein wenig, etwa um das Maß einer Viertelstunde. Dann langt man zu, sagte sie freundlich und klopfte mir den Nacken, bevor sie zurückkehrte zu der phantastischen Versammlung und sich dort auch gleich verwandeln ließ, als flache Seezunge Platz nahm.

      Ich vergaß den Kuchen, ich vergaß auch die Milch. Unablässig beobachtete ich Jutta, die mir gegenübersaß und an deren Aufmerksamkeit mir auf einmal so viel gelegen war, daß ich ihr stumm befahl, mich anzusehen, und als dies mißlang, sie unter dem Tisch anstieß einmal und noch einmal, bis sie ihre Füße zurückzog – nicht vorwurfsvoll, sondern mit einem Gesicht, das erstarrt war vor Abwesenheit. Ich wußte nicht, was sie überlegte, träumte, erwog, ich sah nur in ihre dunklen, abwesenden Augen, in denen die Flammen der schrägstehenden Sonne glänzten; ich verfolgte, wie ihre starken Schneidezähne sich in den Kuchen senkten, abbissen, während ihr Blick an mir vorbeilief quer durch die Wohnstube, in der auch jetzt die Stille vieler Jahre lag und die Einsamkeit vergangener Winter.

      Juttas rot-weiß kariertes Kleid, die dünnen Arme, das strähnige Haar, die blassen Lippen, die jedes Wort in jedem Augenblick widerrufen konnten: wie leicht die Erinnerung daran gelingt und wie wenig zu tun ist, um sie noch einmal an den kleinen Tisch zu bitten, mir gegenüber, und wie prompt ich mein Erstaunen darüber wiederholen kann, daß sie die Schaukel und meine Anstrengungen an der Schaukel so schnell vergessen hatte. Aber so war Jutta: in einer Sekunde noch anwesend, beteiligt oder mitverschworen, zog sie sich in der nächsten zurück. So war sie eben, aber ich hatte doch nicht damit gerechnet, daß sie plötzlich aufstehen und, den Streuselkuchen locker zwischen den Zähnen, quer durch die Stube zum Geburtstagstisch gehen, dort mit Addi Skowronnek kurz flüstern würde – so in einer Art, daß er allenfalls Überraschung, aber keinen Protest äußern konnte –, worauf sie sich geduckt zurückzog gegen die Tür hin und verschwand, ohne mir zuzuwinken.

      Da verzichtete ich darauf, ihr zu folgen. Ich legte meinen Kuchen auf ihren Teller, ich goß meine Milch in ihr Glas. Ich setzte mich auf ihren Stuhl und sah nicht einmal durch das Fenster, wo ich sie im Garten, vor der Hecke, auf der geländerlosen Holzbrücke ohne Mühe hätte wiederfinden können. Die essende Versammlung vor Augen, begann auch ich zu essen, und weil auf dem kleinen Tisch noch ein dritter Teller und ein drittes Glas standen, aß ich vorsorglich den ganzen Kuchen, trank die ganze Milch – nein, das ist unwahrscheinlich: den Rest der Milch goß ich in den tiefen Kuchenteller und weckte die Katze, die auf dem dritten, auf Jobsts Stuhl hochrückig mit eingeschlagenen Pfoten schlief, und lenkte ihren schrägen, glimmenden Blick auf die Geburtstagsmilch, die sie mit eingerollter Zunge, zunächst prüfend, dann hastig zu schlecken begann. Hinterher reinigte die Katze den Teller, so daß ich ihn wieder auf den Tisch stellen konnte, streckte sich tief, flach, leckte sich die Schenkel und kam mit vorsichtigen, langsamen Schritten auf meinen Schoß, drehte sich mehrmals um eine angenommene Achse und brach wie berechnet zusammen. Sie schlug eine gekrümmte Vorderpfote in meine Hand und schnurrte.

      Ich sah auf die schweigende Gesellschaft, die immer noch würgte und schluckte und blubberte und sich bedeutungsvoll räusperte an dem unendlichen Tisch, der sich in ferner Trübnis hinzog, womöglich bis in die Trübnis des Watts und der Priele, und jetzt erkannte ich auch meinen Großvater, Per Arne Scheßel, den gierigen Esser und Heimatkundler, sowie den Deichgrafen Bultjohann und Andersen, einen zweiundneunzigjährigen Kapitän aus Glüserup, der mindestens in fünfundfünfzig Kulturfilmen als Kapitän herhalten mußte, weil sein ebenmäßig silbriger Bartkranz so gesucht war und die wäßrige Leere seines Blicks ohne weiteres als Fernweh ausgegeben werden konnte. Wenn ich alle aufzählen wollte, die an diesem Tisch saßen, wäre der Winter vorbei und die Elbe eisfrei, darum möchte ich nur noch Hilde Isenbüttel erwähnen und den ehemaligen Vogelwart Kohlschmidt; sie machte ich aus unter den beschuppten, bogenlippigen Gästen, und ich übersah auch nicht, daß eine phosphoreszierende Garnele mit kräftigen Waden mir unaufhörlich Zeichen machte, die nichts anderes besagen sollten als: Wenn du Torte willst, komm her.

      Ich wollte keine Torte. Ich wartete darauf, daß der Geburtstag begann, aber die Gesellschaft sah nicht so aus, als würde sie je aufhören zu essen, denn da seufzte, stöhnte, kapitulierte keiner vor dem unaufhörlich kreisenden Angebot der Kuchentürme und Torten, und am wenigsten mein heimatkundlicher Großvater, der wie ein weiser, mit Seepocken besetzter Hummer dahockte und langsam, aber beständig ganze Kuchenplatten in sich hineinbrockte, wodurch er den Kulturfilm-Kapitän offensichtlich herausforderte, es ihm gleichzutun. Wenn gegessen wurde bei uns, dann wurde gegessen, und zwar schon deshalb, weil, wie mein Großvater sagte, beim Essen die Zeit gleichmäßig vergeht, und daran schien ihnen allen gelegen, sogar der uniformierte Schellfisch, den man mit meinem Vater verwechseln konnte, löffelte nur deshalb holzschuhgroße Stücke von Nuß- und Honigtorten, um das unmerkliche Verstreichen der Zeit möglich zu machen.

      Auch die Frauen waren darauf aus, den Widerstand der Zeit zu überspielen: während sie sich schläfrig über ein Stück hermachten, faßten sie schon das nächste ins Auge, und wenn sie zu würgen anfingen oder die Kinnbacken erlahmten, ließen sie dampfende Ströme von Kaffee fließen.

      Aufschlußreich sind die Einzelheiten, die sich an einer


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