Deutschstunde. Siegfried Lenz

Deutschstunde - Siegfried Lenz


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rühmenswert die neun vorgeschriebenen Gebäcksorten, die in festgelegter Folge herumgereicht werden müssen, die Näpfe voller Würfelzucker, den man in den Kaffee tunkt, bevor man ihn zerkaut, ferner die Schüsseln geschlagener Sahne, die man sich auf den Kaffee kleckst, nachdem man zuvor klaren Schnaps dazugegossen hat.

      Doch ich will diese Einzelheiten, aus denen durchaus eine Geschichte entstehen kann, nicht weiter ausspielen, möchte mir auch versagen, das Schweigen zu deuten, das am Tisch herrschte, vielmehr möchte ich, mit zugegebener Ungeduld, den Maler veranlassen, sich von seinem hohen geschnitzten Sessel zu erheben, zur Stirnseite des Tisches zu gehen, geradewegs zu Doktor Busbeck, der ja immerhin seinen sechzigsten Geburtstag hatte.

      Ich meine, Busbeck erschien noch zarter, verlegener, als der Maler auf ihn zuging, wie eine Muschel nach einer Berührung schmolz er in sich zusammen, wurde grau, unscheinbar, warf noch einmal den Kopf zur Seite und blickte hinter sich, als vermutete er dort noch einen Busbeck, der weniger Schwierigkeiten hatte, mit der Aufmerksamkeit fertig zu werden, der er auf einmal ausgesetzt war. Der Maler beugte sich leicht über ihn in verdienter Vertraulichkeit, tätschelte ihm den Rücken und sprach ihm so Mut zu und sagte: Lieber Teo, liebe Freunde, und der liebe Teo duckte sich unter dieser Anrede, während die lieben Freunde schmunzelnd die Blicke hoben und den kleinen Mann noch verlegener machten, wenn das überhaupt möglich war.

      Ich bin kein Freund von großen Worten, sagte der Maler und hatte ausnahmsweise recht damit und hielt sich auch an diese Feststellung, denn er beschränkte sich darauf, Busbeck an einen dreißig Jahre zurückliegenden Abend in Köln zu erinnern: wenn ich ihn recht verstanden habe, muß Ditte damals krank gewesen sein, sie lag zwar nicht in einem eiskalten, aber doch schäbigen Zimmer einer schäbigen Pension, vielleicht war auch eine Wäscheleine durchs Zimmer gespannt und die elektrische Birne von der Wirtin eigenhändig rausgedreht. Daß man die Miete schuldig war seit Monaten, vervollständigt nur die Vorstellung. Jedenfalls lag Ditte im Bett, ihr Atem ging allem Anschein nach mühselig, und der Maler, der sich erfolglos als Lehrer an einer Kunstgewerbeschule beworben hatte, wusch gerade das geliehene Geschirr ab, als ein Doktor Busbeck die unbeleuchteten Holztreppen zu ihnen hinauffand und mit erstaunlicher Scheu fragte, ob er etwas sehen dürfe. Das wollte man ihm nicht abschlagen. Man setzte ihn in eine Ecke am Fenster – so verstand ich’s – und gab ihm Gelegenheit, einige Mappen durchzusehen, und da er so wenig spürbar war in seiner Anwesenheit, ebenso leicht zu übersehen wie zu überhören, hatte man ihn – so verstand ich’s – beinahe schon vergessen und war auf alles andere gefaßt als darauf, daß der Besucher auf einmal an den wachstuchbespannten Tisch treten würde mit zehn Blättern in der Hand. Wortlos zählte er vierhundert Goldmark auf den Tisch und fragte dann lediglich, ob er wiederkommen dürfte. Da diese Frage als Bitte geäußert war, mochte sich ihr der Maler – wie er sagte – nicht widersetzen.

      So etwas kann also durchaus auch geschehen, und der Maler erinnerte sich und Busbeck heiter an diesen Märztag in Köln, er wußte sogar das Datum, und unter häufiger Benutzung des Partizips dankte er seinem Freund für mitunter nachsichtig praktizierte Freundschaft durch dreißig Jahre. Und nun bist du bei uns in Bleekenwarf, Teo. Wir vergessen nicht, was du für uns. In Köln, aber auch in Luzern und Amsterdam. Denkend an die gemeinsamen Kämpfe gegen den großen Schalberg. Deshalb möchten wir dir heute an deinem sechzigsten. Mich in diesem Kreis umblickend, kann ich nur allgemeines Einverständnis. Ja, Teo.

      Die Katze fuhr auf und sprang erschrocken von meinem Schoß, als sie sich an dem unabsehbaren Geburtstagstisch erhoben und auf Doktor Busbecks Wohl tranken, indem sie den weißen Klaren zittrig zum Mund führten und ihn hinunterkippten auf eine Weise, als müßten sie zunächst einen Widerwillen überwinden. Geräuschvoll setzten sie die Gläser auf dem Tisch ab und zerrten die Stühle ruckend, umständlich wieder zu sich heran, während er, Doktor Busbeck, stehen blieb, zart und beweglich in seiner Verlegenheit und sich zu entschuldigen schien dafür, daß die Gesellschaft sich seinetwegen hatte erheben müssen. Er trat hinter den Stuhl. Er sah auf seine Hände hinab, die über die geschnitzte Lehne strichen. Dann sagte er, was er wohl schon oft gedacht hatte, stattete dem Maler und Ditte, aber auch allen anderen, seinen Dank ab und bedauerte, daß er ihnen zur Last falle schon so lange Zeit. Er ließ ahnen, daß dies nur ein vorläufiges Leben für ihn sein könne und daß die Würde der Vergangenheit ihm nicht mehr bedeute als die Würde der Gegenwart. Ich meine, er wagte es auch, von seiner Hoffnung zu sprechen und davon, daß er eines Tages an seinen Platz zurückkehren dürfte, an dem er nützlich sein könnte. Nicht ein einziges Mal, während er sprach, warf er einen Blick auf die Versammlung, nur Ditte sah er ab und zu an mit schrägem Hals und seitwärts gelegtem Kopf, und die Frau des Malers hielt ständig ein Lächeln für ihn bereit. Und wieder dankte er. Und wieder fühlte er sich geborgen, einbezogen, ausgezeichnet, ja, ausgezeichnet durch die Freundschaft eines Mannes, der draußen – er sagte einfach: draußen und bedachte vielleicht gar nicht die mitgesagte Bedeutung – als einer der größten Dramatiker des Lichts galt und so weiter. Und zum Schluß verbeugte er sich tatsächlich vor Ditte und der ganzen phantastischen Versammlung, griff hastig nach seinem Glas und kippte den Klaren, den ihm der Maler hingeschoben hatte. Danach war ihm Erleichterung anzumerken. Er nickte heiter über den Tisch diesem zu und jenem. Er schob die gesteiften Manschetten mehrmals geduldig unter den Jackenärmel. Er bat darum, ihm das Glas von neuem zu füllen mit weißem Klaren. Er wischte sich über die Stirn und war zufrieden.

      Doktor Busbeck konnte auch zufrieden sein, da er doch sah, wieviel er uns anging, und als Max Ludwig Nansen sagte: Nu woll’n wir uns mal den Geschenktisch bekieken, hob Doktor Busbeck das blasse, ungezeichnete Gesicht und saß nur noch da, bis zwei ihn kurzerhand emporzogen aus seinem Stuhl und ihn vorangehen ließen zum Atelier, wo der Maler oder Ditte oder wahrscheinlich alle beide einen Geschenktisch aufgestellt und geschmückt hatten. Ich glitt sofort von meinem Stuhl, als die Gesellschaft sich erhob, war als erster in der Flurdämmerung und dann auch an der Tür zum Atelier, doch ein ärgerliches Zeichen meines Vaters hielt mich davon ab, auch als erster am Geschenktisch zu sein, aber als vierter war ich doch da. Was lag auf dem Tisch? Was hatten die zwischen Rugbüll und Glüserup für einen, der nicht zu ihnen gehörte, der aber durch Geschehnisse, die sie fast begriffen, in ihre Mitte verschlagen war, erübrigen wollen? Ich weiß noch die Schlipsnadel. Ich weiß noch die Flasche Korn und den Obstkuchen und den Kaffeewärmer und die Socken und ein Buch – Verfasser: Per Arne Scheßel im Selbstverlag – und ein Karton Talglichter. Ich weiß noch den Beutel Tabak. Den Schal weiß ich noch und ohne Zweifel die Flasche Kosakenkaffee, weil die von uns stammte. Ich weiß vor allem aber das Bild: »Segel lösen sich in Licht auf.«

      Das Bild stand an der Rückseite des Tisches gegen die Wand gelehnt, neben ihm hatten die Flaschen Posten bezogen, vor ihm krümmten sich dienstbar die Socken, der Kaffeewärmer plusterte sich auf, der Obstkuchen warb um Vertrauen, und der Schal schlängelte sich um die Talglichter, als wollte er sie sanft ersticken: alle Geschenke waren auf sich bedacht, doch sie konnten nicht verhindern, daß das Bild sie in ihrer schlichten Dienstbarkeit herabsetzte.

      Ich trat in Doktor Busbecks Blick und sah, wie er in das Licht des Bildes geriet, wie er auf das Bild zuging, zaghaft, mit ausgestreckter Hand, meinetwegen auch ungläubig, und ich sah auch, wie er das Bild leicht mit den Fingerspitzen berührte und gleich wieder zurücktrat und die Augen zusammenkniff und plötzlich kurz die Schultern hob, als ob er erschauerte. Da vereinigten sich Himmel und Meer. Da überredete ein weiches Zitronengelb ein lichtes Blau zur Selbstaufgabe. Schwebende Segel ließen Ferne vermuten, ließen eine abgeschlossene Geschichte vermuten und büßten ihr Weiß ein, um die erträumte Vereinigung ganz gelingen zu lassen. Die Segel lösten sich auf und erreichten durch ihre Auflösung, daß nichts mehr übrigblieb als Licht, und das Licht kam mir vor wie ein einziges Loblied. Wieder ging Doktor Busbeck mit ausgestreckter Hand gegen das Bild vor, und da sagte der Maler: Wie du siehst, Teo, ich hab noch ein bißchen dran zu tun. – Das ist fertig, sagte Busbeck, und der Maler darauf: Das Weiß, das will noch zuviel seggen. Und Teo Busbeck sagte auch: Das ist zuviel, Max, das kann ich nicht annehmen; doch der Maler zwinkerte ihm nur zu und sagte: Das sollst du auch erst, wenn’s fertig ist.

      Sie standen jetzt alle um den Geschenktisch herum, schätzten, verglichen, begutachteten, rechneten den Wert in Mark und Pfennig aus, ließen schnelle taxierende Blicke wandern, um womöglich herauszufinden, wer was mitgebracht hatte: darüber hätte man dann sprechen können auf


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