Hitlers "Mein Kampf". Antoine Vitkine

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zu werden, sollte man also den anderen ausrotten: In den 1940er Jahren wird das Regime diese Logik bis an ihren Endpunkt treiben. Dieser radikale Antisemitismus läutet in der Tat eine Flucht nach vorn ein, in die sich der Nazi-Staat zur gegebenen Zeit stürzen wird, wenn er sich auf den Führer beruft und die »Endlösung« beschließt.

      Bezüglich der einzusetzenden Mittel weicht Hitler zunächst noch aus, doch er skizziert schließlich in groben Umrissen seine Politik von morgen: »der Jude«, schreibt Hitler, »geht […] seinen verhängnisvollen Weg weiter, so lange, bis ihm eine andere Kraft entgegentritt und in gewaltigem Ringen den Himmelsstürmer wieder zum Luzifer zurückwirft.« (2/325)

      III Wie Mein Kampf Hitler zum Führer macht

      Mein Kampf versus Das Kapital

      1925 ist Hitlers Buch erschienen, doch für ihn ist dessen potenzieller Erfolg an der Ladenkasse in diesem Jahr nicht das Wichtigste. Sein Werk bedeutet vor allem eine persönliche Propagandamaßnahme. Das riskante Spiel eines Politikers, der sich in einer besonders prekären Lage befindet. Während seiner Haft hat sich die höchst uneinheitliche völkische Bewegung weiter gespalten. Es gibt Dutzende Gruppierungen – und an ihrer Spitze ebenso viele kleine »Führer« –, völkische Blätter, rassistische Gurus, nationalistische Propheten. Schlimmer noch, selbst innerhalb der NSDAP kommt es zu Streit und Brüchen. So haben sich verschiedene Nazi-Größen der ersten Garde wie Gregor Strasser, Julius Streicher oder Erich Ludendorff an die Spitze von Grüppchen gesetzt, die sie überhaupt nur gegründet hatten, um ihr Prestige zu mehren. Die norddeutsche NSDAP rebelliert gegen die Münchner Führung. Kurz, die Autorität und die politische Linie des Führers werden allenthalben angefochten.

      Bevor er darangehen kann, Deutschland von seinen Ideen zu überzeugen, muss Hitler also erst einmal die eigenen Anhänger mobilisieren. Diese Absicht bringen die letzten Worte seines Buches in Form einer Mahnung deutlich zum Ausdruck: »Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden. Das mögen die Anhänger unserer Bewegung nie vergessen, wenn je die Größe der Opfer zum bangen Vergleich mit dem möglichen Erfolg verleiten sollte.« (2/354) 1925 scheint »der mögliche Erfolg« gefährdet, die NSDAP macht eine schwere Zeit durch: Hitler erhofft sich von seinen Truppen erneute Zuversicht in das Unternehmen, das er in Gang gesetzt hat. Er erwartet von seinen Mitstreitern, dass sie sich genauso für die Partei und für das Land aufopfern wie für ihn.

      Erschwerend kommt dazu, dass nach dem gescheiterten Putsch seine Partei, die NSDAP, reichsweit bis Februar 1925 verboten worden ist. Und schließlich wird ihm nach seinem Auftritt im Bürgerbräukeller zur Neugründung der Partei ein zweijähriges Redeverbot auferlegt, auch wenn die Obrigkeit in München, seinem Revier, nicht allzu streng auf dessen Einhaltung pocht. Was ihm sein Umsturzversuch an Positivem eingebracht hatte – dass er bekannt geworden war, an Prestige gewonnen hatte –, hat zudem nicht lange vorgehalten. Unter diesen Umständen will er sich, um wieder ins Spiel zu kommen, auf sein Buch stützen.

      Mitte Februar 1925, als die NSDAP endlich aufs Neue vom bayerischen Staat zugelassen ist, ereignet sich das, was einen Wendepunkt in Hitlers Karriere darstellt. Auf einer Versammlung am 26. und 27. Februar im Bürgerbräukeller – in Abwesenheit zahlreicher abtrünniger oder sektiererischer Parteigrößen wie Alfred Rosenberg oder Ernst Röhm – fordert er die Anhänger der NSDAP zum Zusammenschluss unter seiner Führerschaft auf. Die Kontrolle über die Partei in Bayern wiederzuerlangen, das ist für ihn der erste Schritt zur Rückkehr nach oben. Es gelte, die alten Querelen zu vergessen, betont er. Ausnahmsweise geht er nicht auf das Thema Juden ein, sondern wählt eine ganz besondere Stoßrichtung: Er verspricht den Sieg gegen den Marxismus. Dies sei ein durchaus realistisches Ziel für die NSDAP, allerdings unter einer Bedingung: wenn nämlich der marxistischen Doktrin eine andere, nämlich die seine, entgegengesetzt werde.

      Hitlers Argumentation ist fadenscheinig, vermag aber sein Publikum zu überzeugen. Um gegen die Marx’schen Hausgötter anzukämpfen, braucht man einen braunen Marx, anders gesagt Adolf Hitler höchstpersönlich, den Verfasser von Mein Kampf. Indem er sich als Schriftsteller präsentiert, verändert Hitler sein Image und entsteigt dem Sumpf, in dem er sich bisher bewegt hat. Von jetzt an ist er nicht mehr ein bloßer Marktschreier, ein Prahlhans, ein gescheiterter Putschist: Er nimmt den Nimbus an, den einem das geschriebene Wort verleiht, und zeigt sich als ein neuer Theoretiker. Am Saalausgang verteilen seine Leute Reklamezettel, in denen die Veröffentlichung seines Buches angekündigt wird, inklusive Preisangabe.

      Die Hochrufe, die an diesem Abend im Bürgerbräukeller ertönen, markieren den Beginn seiner Eroberung der völkischen Bewegung. Mein Kampf verleiht dem früheren Landsberger Häftling einen neuen Status. Ihm zur Seite stehen die alten Getreuen, von denen ihn einige bis zum Untergang des Dritten Reiches begleiten werden: Himmler, Höß, Göring, Röhm, Frank, Goebbels, Rosenberg, die Partisanen der ersten Stunde, so bedeutsam für die späteren Erfolge. Nach dem missglückten Putsch hatten sie mehr oder weniger an ihrem Führer gezweifelt und sehen sich nun dank dieses Buches, das den neuen Geist einer politischen Bewegung begründet, in ihren Überzeugungen bestärkt.

      Höß erklärt, er sei sich in Landsberg, als er Hitler sein Werk schreiben sah, dessen wahrer Größe bewusst geworden. Joseph Goebbels allerdings ist nicht von vornherein für Hitler. Mitglied der NSDAP seit 1922, befürwortet Goebbels eine eher »sozialistische« Linie und hat sich während der Haft des Parteichefs auf die Seite von Gregor Strasser geschlagen, einem internen Gegner Hitlers. Goebbels, der promovierte Philosoph, ist einer der wenigen Intellektuellen in der NSDAP. Doch als er im Juli 1925 Mein Kampf liest, ist er regelrecht begeistert. Seinem Tagebuch vertraut er an: »Ich lese Hitlers Buch zu Ende. Mit reißender Spannung! Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes?« Am 6. November desselben Jahres liest er das Buch noch einmal, ohne Unterbrechung, in einem Tag und einer Nacht. Von da an sieht er Hitler als »Genie« an, wechselt auf seine Seite und hilft ihm, Strasser auszuschalten. Selbst Alfred Rosenberg, ein Nazi-Theoretiker von ganz anderem Kaliber,[26] findet Gefallen an diesem schneidigen Kerl und seinem Umgang mit der Ideologie.

      Mein Kampf, in Landsberg entstanden, hat sich allerdings aus einem anderen Grund als entscheidend erwiesen, einem Grund, dessen sich nur Hitler bewusst ist. Indem er seine Ideen und Pläne schriftlich niedergelegt hat, ist ihm plötzlich aufgegangen, bis zu welchem Punkt all das auf dem Erscheinen eines Führers beruht, eines »Retters Deutschlands«, imstande, diese Aufgabe ins Werk zu setzen. Und genau da, beim Schreiben, hat sich ihm das Offensichtliche offenbart: Er ist der Führer, den Deutschland erwartet. Bis dahin war er in dieser Hinsicht unsicher gewesen, war so weit gegangen, Ludendorff seine Ergebenheit zu bekennen oder zu erklären, dass er nichts weiter tue als dem Diktator den Weg zu ebnen, den das Land erwarte. In Landsberg hat sich Hitler schließlich – theoretisch – selbst davon überzeugt, dass er der Führer ist, trägt fortan dazu bei, seinen eigenen Mythos aufzubauen, erachtet es als Vorsehung, dass er selbst dazu da ist, Deutschland zu retten.[27] Er glaubt daran, die Eigenschaften des »Theoretikers« und des »Mannes der Tat« in sich zu vereinen, der dieses Gedankengut umsetzt. Daraus zieht er eine unerschütterliche Gewissheit, die ihm angesichts seiner Gegner in der völkischen Bewegung und später der Weimarer Demokratie die nötige Kraft gibt. Diese Kraft nährt seine Reden, motiviert seine Entscheidungen, verleiht ihm eine beispiellose manichäische Fähigkeit, mit der er jeden Versuch des Widerspruchs zu schwächen und seine Ansichten durchzusetzen vermag.

      Ohne sein Buch hätte er auch nach der Entlassung aus Landsberg mit großen Problemen zu kämpfen gehabt: Hitler hat Mein Kampf genauso gemacht, wie Mein Kampf Hitler gemacht hat. Ein Jahr später, bei der Bamberger Führertagung am 26. Februar 1926, wird er die gesamte Partei zurückgewonnen und endlich seine Konkurrenten ausgeschaltet haben. Nach diesem Triumph bei seinen Gesinnungsgenossen kann der Autor von Mein Kampf den Marsch zur Macht vorbereiten. Doch in den Augen der breiteren Öffentlichkeit ist er noch längst keine Größe: Er herrscht über eine Bewegung aus Splittergruppen, die nicht mehr den Ruf hat, den sie zu den großen Zeiten der Bierhallen-Politik hatte.

      Vom Büchlein zum Bestseller


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