Glücklicher als gedacht. Antoine Laurain

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      Antoine Laurain

      Glücklicher als gedacht

      Roman

      Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

      Atlantik

      Meine Vergangenheit ist drei Viertel meiner Gegenwart.

      Ich träume mehr, als ich lebe, und ich träume rückwärts.

      Jules Renard

      (Tagebuch, 23. März 1901)

      EPROM: Erasable programmable read-only memory

      (Löschbarer programmierbarer Nur-Lese-Speicher)

      Vor wenigen Minuten hatte der Champagner noch auf dem Buffet gestanden. Wie von Zauberhand war er nun verschwunden. Am anderen Ende des Saales knallte ein Korken, und alle Blicke suchten empört den Übeltäter.

      »Was soll das denn?«, murmelte Julien Bailler.

      Der junge Mann, der das Geräusch ausgelöst hatte, zuckte mit den Schultern und schenkte sich ein Glas ein, er hatte halt Durst.

      Ich hatte keinen Durst. Ich kannte das Endergebnis seit einer Dreiviertelstunde. Ein Mitglied der Parteigruppe hatte mir um siebzehn Uhr dreißig mit tonloser Stimme mitgeteilt, dass das Wahlergebnis entgegen allen Erwartungen sehr eng ausfallen werde. Da wusste ich es schon. Mein Freund Armand von der Firma hatte mich zehn Minuten zuvor angerufen. Seit einer Stunde stagnierten die für mich abgegebenen Stimmen. Ich kam nicht wieder hoch.

      »Sie sagen, es sei ein Phänomen von Röhren.«

      »Was für Röhren? Backröhren?«

      »Kommunizierende Röhren. Die eine füllt sich, und die andere hört auf, sich zu füllen … die andere bist du.«

      »Was soll denn dieser Röhrenschwachsinn?«

      »Sie sagen, das sei selten, komme aber vor.«

      Eine Stunde und sechzehn Minuten später bestätigte der Parteisekretär Armands Röhrengeschichte: »François …«

      »Wird’s nichts?«

      »Nein. Alphandon hat es geschafft, keine Ahnung wie, aber er hat gewonnen.«

      »Für alle überraschend verliert François Heurtevent die Bürgermeisterwahlen in Perisac«, verkündeten die nationalen Fernsehnachrichten. Dabei hatten mich alle Umfragen und Prognosen als Gewinner gesehen. Diese Wahlen zu verlieren war nahezu undenkbar gewesen.

      »Das ist nicht schlimm, Schatz«, sagte meine Frau leise in meinen Nacken, ganz dicht hinter mir, wie eine tröstende Muse.

      Worte, die man Kindern sagt, wenn sie gerade einen Wettkampf im Mickymaus-Club verloren haben.

      »Doch, das ist schlimm.« Ich hätte gern mit düsterer, männlicher Stimme geantwortet, die keinen Widerspruch duldet. Aber der Satz war kaum zu hören. Ich kam nicht von den Champagnerflaschen los, die gerade verschwunden waren. Dann wanderten meine Augen zu einem gerahmten Poster an der Wand, das für Fahrradausflüge in der Region warb. Darauf sah man Jungen und Mädchen, die mit strahlendem Lächeln über unsere schönen Straßen radelten. In der zum Wahlkampfbüro verwandelten Geschäftsstelle der Partei waren sie die Einzigen, die lächelten. Das von der Sonne ausgebleichte Foto war mir vertraut, es hing bestimmt schon zwanzig Jahre da. Seit der zweiten Amtszeit von Mitterrand. Auch die schien schon Lichtjahre entfernt. Inzwischen hätte man es mal ersetzen können. Ein neues aufhängen. Irgendetwas in der Stadt war eingeschlafen. Zu dem, was die Journalisten Alltagstrott nennen, wenn sie nichts Berichtenswertes mehr finden, gehörte auch ich, ja seit zwei Monaten war ich geradezu seine Verkörperung. Jetzt hatte ich die Rechnung. Die Radfahrer auf dem Foto waren um die zwanzig. Jetzt mussten sie also vierzig sein, verheiratet und mit Kindern, die selbst schon Räder hatten …

      ›Wenn Derk das sehen würde‹, war der einzige Satz in meinem Kopf, den ich beinahe ausgesprochen hätte.

      »Der Unterschied beträgt nur zweihundertzwei Stimmen«, tröstete mich Beauvin und legte mir die Hand auf die Schulter.

      Ich drehte mich um und sah ihn ausdruckslos an. Ohne Zorn, ohne Verzweiflung. Ich betrachtete den Kulturdezernenten genauso, wie ich das Fahrradposter betrachtet hatte. Wie ich einen Hummer im Aquarium des Fischhändlers angestarrt hätte. Merkwürdigerweise signalisierten meine Papillen Appetit auf gegrillten Hummer. Er verschwand sofort wieder, sicher die unbewusste Erinnerung an eins von Sylvies neusten Gerichten, gegrillter Hummer mit Süßholzrinde an einer Soße aus roten Pflaumen mit Eischnee.

      »Möchtest du etwas essen?«, fragte mich der Dritte auf der Liste und reichte mir eine Schale mit Keksen.

      Ich nahm einen und kaute darauf herum.

      »Schmeckt ja widerlich, wer hat die gekauft?«

      »Äh … Wir. Das ist unser Kampagnenbuffet.«

      »Das erklärt alles«, antwortete ich, legte den halben Keks auf den Teller zurück und wandte mich ab.

      Ein Kameramann packte seine Ausrüstung ein, der Saal leerte sich rasch. Das Wort Exodus kam mir in den Sinn. Auf den Fernsehbildschirmen, die in allen vier Ecken aufgestellt waren, sah man das gegnerische Lager feiern. Hübsche Mädchen jubelten vor den Kameras der Regionalsender mit Champagnerflaschen in den Händen. Wie 1998 nach dem Endspiel der Weltmeisterschaft. Das erinnerte mich daran, dass ich bald die Fotos von mir mit Berühmtheiten von den Wänden meines Büros abhängen würde, unter anderen das mit Zidane. Ich sah darauf besonders blöd aus, aber den Bürgern hatte die Nähe ihres Bürgermeisters zum großen Zizou gefallen. Wer bietet mehr? Damals niemand. Tausendmal wurde ich auf der Straße gefragt, ob Zidane nett sei. Das beschäftigte sie am meisten: ob er nett sei.

      Zurück im Rathaus, allein auf der Terrasse, hörte ich Knaller und Gehupe in der Nacht. Den Gesang angetrunkener Wahlkämpfer. Mich überkam die romantische Vision, wie das Rathaus ganz allmählich unterging und ich auf dem höchsten Punkt der Brücke darauf wartete, dass mich die Fluten verschlangen. Das war der Moment für großartige Sätze. Aber mir fiel nichts ein. Zweiundsechzigtausenddreihundertacht Bürger, zweihundertzwei Stimmen Abstand. Ich fragte mich, wo unter den Lichtern in den Häusern diese zweihundertzwei Stimmen waren.

      »Zum Wohl, Herr Bürgermeister!« Ein junger Mann prostete mir vom Platz aus mit einer Dose in der Hand zu. Ein Anhänger, der mich trösten wollte, oder ein Unterstützer des gegnerischen Lagers, der mich verarschte? Ich hatte keine Ahnung und grüßte ihn mit einer sparsamen Geste, wie der Papst auf dem Petersplatz. Da gab es nur den kleinen Unterschied, dass der Papst sich im Vatikan einer jubelnden Menge gegenübersah. Der Platz war leer, nur ein grauer Hund überquerte ihn, um an einer Laterne das Bein zu heben. Das war das Bild, das mir von diesem Wahlabend bleiben würde. Sicher ein Hund des gegnerischen Lagers, der zu viel Champagner getrunken hatte und sich vor meinem Fenster erleichterte.

      »Die Küche von La Musarde ist offen, komm, wir gehen essen«, sagte Sylvie, die mir gefolgt war. »Es gibt Hummer mit Süßholzwurzel.«

      In dem Moment erhielt ich eine SMS von meiner Tochter. »Echt Scheiße«, schrieb sie mit der Frische ihrer achtzehn Jahre. Ich, der ständig ihr Vokabular kritisierte, konnte ihr ausnahmsweise nichts vorwerfen, sie hatte die beste Zusammenfassung des Abends formuliert.

      Hat die letzten Wahlen um das Bürgermeisteramt von Perisac verloren. Gleich am nächsten Tag hatte ich diesen Satz in meiner Biographie bei Wikipedia ergänzt.

      Heurtevent, François (französischer Politiker), geboren 1961. Sohn von Pierre Heurtevent, Zahnchirurg, und der Boulevardschauspielerin Marie Dava-Heurtevent. War mit dreiundzwanzig Jahren Mitglied der Anwaltskammer von Paris, schlug jedoch keine Anwaltslaufbahn ein, sondern begann seine politische Karriere an der Seite von André Dercours. Stand als dessen persönlicher Sekretär und später parlamentarischer Referent auf Platz zwei der Liste, mit der Dercours die Kommunalwahlen 1989 gewann, und wurde sein erster Stellvertreter als Bürgermeister von Perisac. Nach Dercours’ Tod während seiner Amtszeit wurde Heurtevent vom Gemeinderat zum Bürgermeister ernannt und gewann die nächste Wahl im ersten Wahlgang mit einundsechzig


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