Glücklicher als gedacht. Antoine Laurain

Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain


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Mikrophon. Übersetzt: »Das ist François Heurtevent bei André Dercours.« Sie wussten alles. In diesen Kreisen wissen alle alles über alle. Das waren die Dossiers. Das war Derks Stärke. Er hatte sie seit mehr als fünfzig Jahren gesammelt. Um mich zum Lachen zu bringen, besorgte er meine Akte aus dem Innenministerium. Sie hatten mich überwacht!

      Weil ich für ihn arbeitete, hatten sie Erkundigungen eingezogen.

      Von der Personenbeschreibung in meinem Personalausweis bis hin zu meinen intimsten Gewohnheiten war alles drin. Meine Stammkneipe, das Mädchen, mit dem ich mein Leben teilte, und das andere, mit dem ich ein paar Nächte teilte, die ich in meinem vollen Tagesablauf unterbrachte, wovon das erste Mädchen natürlich nichts wusste. Sie wussten es. Welches Bier ich trank und welche Zeitung ich las. Ich vermute bis heute, dass sie seinerzeit sogar in meine Wohnung eingedrungen sind und alles haarklein untersucht haben, um so gut informiert zu sein.

      »Dossiers, mein Junge! Man muss Dossiers anlegen. Eines Tages, in einem Jahr, in zwanzig Jahren, werden sie dir nützen.«

      Mit den Dossiers kann man Druck auf den Gegner ausüben und dadurch seine Haut retten. Je mehr man hat, desto mehr Joker hat man. Die Dossiers teilen sich in zwei Kategorien: Sex und Geld. Das Sexualleben: alle denkbaren Abweichungen, Geliebte oder Liebhaber. Das Geld: alle denkbaren Bestechungen, Korruption, Veruntreuungen. Außer Sex und Geld gibt es nichts. Höchstens noch die alten Bücher.

      »Dieser handschriftliche Brief von Zola ist ein Meisterstück der Literatur des 19. Jahrhunderts, der Schlüssel zu seinem Werk.«

      Ich höre noch die Stimme des Präsidenten, die vor lauter Begeisterung ganz schrill wurde, und Derk, der antwortete: »Ja. Ich hänge sehr daran.«

      Heute gehört dieser Brief mir.

      Ich möchte, dass du zu Dr. Houdard gehst.«

      »Er ist ein Idiot.«

      »Wie? Houdard ist ein Idiot? Er hat dich gerettet, als du deinen Infarkt hattest.«

      »Du übertreibst immer, es war bloß eine Herzrhythmusstörung, die von selbst wieder weggegangen ist. Der Kerl langweilt mich, er erzählt mir von Tennis, und Tennis ist mir schnuppe, ich spiele kein Tennis.«

      »Selbst schuld, du solltest es ausprobieren, das würde dir sicher guttun.«

      »Um mit Doktor Houdard zu spielen?«, antwortete ich grinsend.

      »Warum nicht?«

      »Ich geh nicht zu ihm, außerdem bin ich gar nicht krank.«

      »Du bist nicht krank? Sieh dich doch an! Amélie, findest du, dass dein Vater in einem normalen Zustand ist?«

      Amélie war übers Wochenende nach Hause gekommen, sie machte eine abwehrende Geste, um zu zeigen, dass wir sie beim Nachdenken störten und sie sich zu diesem Thema ohnehin nicht äußern wolle.

      »Was soll das?«, rief meine Frau. »Du machst es dir zu einfach, beteilige dich gefälligst an unserem Gespräch! Sag schon! Ist dein Vater in einem normalen Zustand?«

      Der kleine Familienaperitif drohte, eine schlechte Wendung zu nehmen. Mir gefiel nicht, wie Sylvie Amélie in unser Leben einbezog, darüber hatten wir uns schon oft gestritten. Sie fand, auch wenn Amélie ihr erstes Studienjahr an der Kunsthochschule in Paris absolviere, müsse sie am Familienleben teilnehmen und ihre Meinung dazu äußern. Selbstverständlich sollte diese Meinung mit Sylvies übereinstimmen. Ich fand, dass jedes Alter seine eigenen Sorgen hat und die häusliche Atmosphäre in Perisac weit weg von der Rive Gauche und ihren neuen Freunden war.

      »Er ist auf einem schlechten Trip, das ist normal, er hat die Wahl verloren und kann nichts mit seiner Zeit anfangen.«

      »Das ist normal«, wiederholte meine Frau und nickte niedergeschlagen. »Bestätige ihn nur darin. Diese Vater-Tochter-Solidarität ist wirklich super.«

      Amélie warf ihrer Mutter einen finsteren Blick zu. Sie schien nicht recht zu verstehen, von welcher Solidarität sie redete. Während der Pubertät war unsere Beziehung immer schlechter geworden. Eine kleine, banale Frage von mir, eine genuschelte Antwort von ihr. Eine Art Nebel hatte sich seit ihrem dreizehnten Geburtstag über unser Verhältnis gelegt. Lange Zeit war ich nicht sicher gewesen, ob die Sonne diese klimatische und hormonelle Trübung eines Tages wieder aufhellen würde. Seit ihrem Abitur und dem Umzug nach Paris war unsere Beziehung wieder herzlicher geworden. Aber das gleich als Vater-Tochter-Solidarität zu deuten …

      Meine Frau verließ wortlos das Zimmer, um das Abendessen aufzuwärmen. Bestimmt ein neues Experiment von La Musarde.

      »Sie nervt! Wie hältst du das bloß aus?«, fragte mich Amélie.

      Das war keine Frage, mehr ein laut geäußerter Gedanke.

      »Sprich nicht so über deine Mutter«, antwortete ich wenig überzeugend und fügte hinzu, sie sei nicht immer so gewesen, womit ich Amélie eher recht gab.

      »Das muss lange her sein«, maulte sie.

      Sie hatte nicht unrecht. Es war fast zwanzig Jahre her. Das war zugleich lange und kurz. Trotzdem kam es mir vor, als wäre ich ihr erst gestern auf dem Marktplatz von Perisac begegnet.

      »Und für das hübsche blonde Fräulein? Was darf es sein?«

      »Zwei Lammkoteletts bitte.«

      1989. Der Wahlkampf in Perisac hatte gerade begonnen, Derk stellte sich als Parteiloser mit einem sehr persönlichen Programm zur Wahl, das ihm von Links bis Rechts viel Spielraum ließ. Ein großer Teil der älteren Wähler, die inzwischen tot sind, erkannte in ihm den erfahrenen Mann, der den Krieg erlebt hatte und wusste, wovon er sprach. Und er sprach gut. Derk war kein Jungspund mehr, aber ihm kam Mitterrands Dynamik zugute; der Präsident war zwar auch schon alt, aber das hatte seine triumphale Wiederwahl nicht verhindert.

      Mit geistvollen Sprüchen von Sacha Guitry, Zitaten von General de Gaulle und Anleihen bei Mendès France oder Léon Blum fand Derk bei den meisten Leuten Anklang. Der amtierende Sozialist hatte sich durch diverse Skandale ins Abseits manövriert, und der Kandidat des RPR war zu jung. André Dercours wickelte alle um den Finger, die jungen Leute gewann er dank des Zweiten auf seiner Liste, eines charmanten jungen Mannes, der den Mädchen und den alten Damen gefiel. Er hieß François Heurtevent.

      Man hatte mich mit dem Wahlkampfteam und Bergen von Flugblättern zum Wochenmarkt geschickt, um Händlern und Kunden die Hände zu schütteln, Hündchen zu streicheln, mit den Kindern zu scherzen, die runden Tomaten, das Aroma der Wurst, die Form der Eier, die Knusprigkeit der Backhähnchen, den Duft der Blumen und die Ausgewogenheit des Weins zu loben. Am Anfang war ich etwas zurückhaltend, dann kam ich auf den Geschmack, ermutigt von Derk, der wusste, welchen Nutzen er aus mir ziehen konnte. Am Stand eines Fleischers lernte ich meine spätere Frau kennen. Der Händler, ein dicker Mann mit blondem Schnurbart, warnte mich: »Für mich gibt es keine anständigen Politiker, nur das Fleisch ist anständig, Kleiner.«

      Der Kleine von einem Meter fünfundachtzig versuchte trotzdem, den Mann für sich zu gewinnen.

      »Das ist Pierre Cardian, der beste Fleischer auf dem Platz, die Leute lieben ihn«, flüsterte mir ein Wahlkampfberater zu, der sich auskannte und mir diskret ins Ohr sagte, wer wer war und was er wählte.

      »Front national«, fügte er hinzu, um mich von dem Stand wegzubringen.

      Das machte es noch komplizierter. Ich versuchte, Cardian mit einem heiklen Kompliment für seine blutbefleckte Fleischerschürze zu gewinnen, die ich als wunderbare Arbeitskleidung seines schönen Berufes bezeichnete. Ich klang wie der letzte Idiot, war aber überzeugt, dass er mit einer Bemerkung über meinen grauen Anzug und meinen Schlips antworten würde. Das tat er prompt.

      »Ja, Monsieur von der Dercours-Liste, das ist meine Arbeitskleidung, Ihre kommt natürlich direkt aus der Reinigung«, entgegnete er, und die Umstehenden lachten.

      »Tauschen wir?«, schlug ich ihm vor. »Sie borgen mir Ihre Schürze, ich borge Ihnen mein Jackett und bediene fünf Minuten lang die Kunden.«

      »Oh oh! Die kleine Made wird


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