Glücklicher als gedacht. Antoine Laurain

Glücklicher als gedacht - Antoine Laurain


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und jungen Sternchen, die man weder alt noch als Stars wiedersah.

      Der Trumpf meiner Mutter war, dass sie Komödien spielte und obendrein sehr schön war. Diese seltene Kombination machte ihren Erfolg aus. Wenn meine Eltern an den Wochenenden oder mittwochs nicht wussten, was sie mit mir anfangen sollten, nahm meine Mutter mich mit ins Theater, ohne nach meiner Meinung zu fragen. Den langen Stunden, in denen ich ihr, ihren Partnern und Regisseuren beim Proben zuhörte, folgten lange Monate, wo sie auf Tournee ging und weder mein Vater noch ich sie sahen. Manchmal schickte sie Ansichtskarten.

      Mein Vater hatte Marie Dava bei Freunden kennengelernt, sie lud ihn sofort zu ihrem neuen Stück ein, das L’Arracheur de dents (Der Zähneausreißer) hieß. Mein Vater hatte wenig Sinn für Humor, ging dennoch hin und verbrachte, wie er später erzählte, den besten Abend seines Lebens. Dass die beiden geheiratet haben, ist kurios. Ich glaube, meine Mutter brauchte an einem Punkt ihres Lebens Stabilität, weil der Rest aus Scheinwerfern, Pailletten und komischen Repliken bestand. Kulissen und Spiel sollten in hartem und schwerem Beton verankert sein: einem Ehemann mit seriösem Beruf, einer schönen Wohnung im 7. Arrondissement, einem Kind mit guten Schulnoten. Niemals hätte sie mit einem anderen Schauspieler oder einem Regisseur zusammenleben können, sie brauchte den absoluten Gegensatz, der ihr Halt gab und es ihr dadurch erlaubte, der Phantasie freien Lauf zu lassen.

      Meine ersten Erinnerungen an Derk sind mit Generalproben und Schneiderinnen verbunden. Er war sehr beeindruckt, als mein Vater ihm offenbarte, dass Marie Dava seine Frau sei. In der Tat kam man nicht ohne weiteres darauf, dass mein Vater, immer in Schlips und Kragen, mit graumeliertem Bart und Stahlbrille, sein Leben mit der exzentrischen Boulevard-Schauspielerin teilte. Derk schwärmte für den Boulevard, alles gefiel ihm, von L’Hôtel du libre échange bis zum dümmsten Quatsch. Sein Zahnarzt öffnete ihm die Türen zu den Stars und ihren Aufführungen, manchmal sogar zu den Proben. Als Mann von Welt vergaß er nie, meiner Mutter prächtige Blumensträuße liefern zu lassen. Ich sehe ihn noch, wie er zwischen ihren Kostümen und Schminkutensilien in der Garderobe saß. Damals wusste ich nicht genau, wer dieser Mann war. Ich erinnere mich, wie er sich vor mich kniete und mich durch seine Hornbrille ansah.

      »Ich habe dich schon gesehen, als du ganz klein warst, aber das weißt du sicher nicht mehr.«

      Ich antwortete nicht, sondern starrte auf seinen Schädel, so kahl wie ein menschenleerer Planet.

      »Antworte gefälligst, François«, sagte meine Mutter, die sich vor dem Spiegel abschminkte.

      »Nein, das weiß ich nicht mehr«, antwortete ich schüchtern.

      Derk nickte wortlos.

      Das Stück hieß Mademoiselle est fiancée. Ein aus dem Englischen übersetztes Boulevardstück um Verwechslungen, knallende Türen und Rendezvous, die einmal mehr in einer verrückten Farce mündeten.

      Wenn mich mein Vater unterbringen musste, setzte er mich bei seinem Regimentskameraden René, dem Fleischer, ab. Nach so vielen Jahren muss ich gestehen, dass ich den Nachmittag lieber bei ihm und seiner Frau Denise verbrachte, Rechnungen in die schwere Registrierkasse eintippte und später unter Renés aufmerksamem Blick einen Braten vorbereitete, manchmal sogar verschnürte, als in andächtiger Stille meine Mutter zum x-ten Mal wiederholen zu hören: »Und Sie, Caroline, Sie haben keine Ahnung, wo sich mein Gatte aufhält? Man möchte meinen, der Mann sei im Bordell!«

      Außerdem brachte mir René das Louchébem bei, den Jargon der Fleischer in den Pariser Markthallen, eine Art poetische Geheimsprache, deren Wörter alle mit »em« endeten, und die mir großen Spaß machte.

      Mit den Jahren wurden meiner Mutter seltener Rollen als verführerische, ein bisschen verrückte Frau angeboten, weshalb sie immer öfter synchronisierte. Nun konnte ich mir berühmte amerikanische Fernsehserien ansehen und ihre Stimme aus dem Mund einer Westküstenheldin hören. Das war ein merkwürdiges Gefühl. Gelegentlich war sie auch noch im Theater zu sehen, wo sie die Mutter der Person spielte, die sie fünfzehn Jahre früher in demselben Stück dargestellt hatte. Das drückte ihre Stimmung. Sie flog nach Brasilien, wo ihr Agent ihr ein Engagement für eine Telenovela besorgt hatte. Sie lernte Portugiesisch, das die Heldin mit einem leichten französischen Akzent sprechen sollte. Völlig unerwartet hatte die Serie, die in Frankreich nie gesendet worden ist, in der ganzen südlichen Hemisphäre einen Riesenerfolg. Als die erste Staffel abgedreht war, wurde ihr Vertrag sofort verlängert. Ihre Rolle wurde immer bedeutender, und man schlug ihr vor, sich ganz in Brasilien niederzulassen. Im selben Monat starb mein Vater am Durchbruch eines Aneurysmas. Ohne ihn hatte meine Mutter keinen Grund, nicht in Lateinamerika zu bleiben. Derk hatte mich gerade als Sekretär eingestellt, sie bat ihn, auf mich aufzupassen und reiste ab.

      Sie ist immer noch dort, die Serie wurde erst vor sechs oder sieben Jahren eingestellt. In Brasilien ist sie berühmt, sie tritt beim Teleshopping auf und gibt ihren Namen für Bücher über sanfte Medizin her. Außerdem hat sie wieder einen Zahnchirurgen geheiratet. Diesmal einen Brasilianer. Unser Kontakt beschränkt sich auf ein oder zwei Postkarten im Jahr, wir haben uns nichts mehr zu sagen. Zu Derks Begräbnis war sie zum letzten Mal in Frankreich. Sie warf eine vertrocknete Rose auf sein Grab, aus einem Strauß, den er ihr bei einer Premiere geschenkt und von dem sie sich nie getrennt hatte. Dazu sagte sie einen merkwürdigen Satz: »Lebt wohl, Geheimnisse.«

      Sylvie und ich sind Erben. Sie hat das Wissen ihres Vaters, des Schöpfers des legendären La Musarde, ich das von Derk geerbt. Wir haben nichts Neues geschaffen, sondern das Werk anderer fortgesetzt. Sie haben in gewisser Weise durch uns überlebt.

      Bald würden sich zu Hause in meinem Arbeitszimmer die Kartons stapeln. Der Raum, den ich seit Jahren weder renoviert noch verändert hatte, würde sich mit Akten aus meiner Bürgermeisterzeit füllen. Obwohl ich meinem Nachfolger fünfzehn Jahre Amtsführung in den Gemeindearchiven hinterlassen hatte, stand eines Morgens die Umzugsfirma mit gut zwanzig Kartons vor der Tür. Ich bat sie, die Kartons zu stapeln, und in wenigen Minuten entstanden zwei eindrucksvolle Säulen, die fast bis zur Decke reichten. Ich stellte mich zwischen die beiden Türme und dachte an den armen Samson, der entmachtet und blind seine Bodybuilder-Arme ausgestreckt und gedrückt hatte, bis die Säulen des Tempels nachgaben und das Bauwerk einstürzte. Ich ahmte ihn nach, spreizte die Arme wie der antike Koloss. Meine Hände berührten die Kartons. Das reichte mir nicht, und ich drückte mit den Handflächen dagegen, den Kopf voller Bilder aus Historienfilmen. Beide Stapel fielen mit einem langen, dumpfen Poltern zusammen: ein Wasserfall von Kartons und ihren Inhalten. Ich kauerte mich zusammen und schützte meinen Kopf. Als ich die Augen öffnete, besah ich mir die Katastrophe; die Kartons waren aufgeplatzt, die Akten über den Boden verstreut. Das ohnehin unordentliche Zimmer war endgültig im Chaos versunken.

      Ich setzte erst einen, dann den anderen Fuß auf die Mappen, die mit Cofidec oder CGT-Kontakte, Crédit Mudinis, Culture oder Salon des Chasseurs beschriftet waren. Es fühlte sich an, als liefe ich auf schwankendem, feindlichem Packeis oder als wäre ich ein Kind, das auf dem Bürgersteig nicht auf die Fugen treten will, weil es überzeugt ist, ein Abgrund werde es verschlingen. Der Rahmen des Zidane-Fotos war zerbrochen. Ich trat auf eine blaue Mappe und betrachtete die aufgeklappten Ordner. Bei verschiedensten Anlässen in Perisac aufgenommene Fotos bedeckten den Boden: Rosenfest, Tag der Arbeit, Kränze zum Andenken an die für das Vaterland gefallenen Soldaten, Übergabe von Medaillen an verschiedene Händlerzünfte … Unter den Fotos ein einzelner Umschlag. Ich setzte mich hin, ohne meine Insel von Ordnern zu verlassen, und streckte die Hand danach aus. Was erwartete mich, wenn ich ihn öffnete? Ein Bild von mir beim Händeschütteln mit den Siegern eines Sportwettkampfes des FC Perisac oder bei der Einweihung des Parkplatzes von Baussières? Vielleicht sogar ein altes Wahlkampffoto von Derk?

      Die erste Reihe sitzt, die zweite steht. Jungen, Mädchen, alle im selben Alter, blicken in dieselbe Richtung. Siebzehn, höchstens achtzehn Jahre alt. Die École Levert 1977 oder 1978.

       Béatrice Bricard.

      Wie lange habe ich nicht mehr an diesen Namen gedacht, fragte ich mich beim Anblick des blonden jungen Mädchens mit Pferdeschwanz.

      Und ich? Wo war ich? Seltsamerweise sah ich nur die Gesichter der anderen, aber nicht


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