Glücklicher als gedacht. Antoine Laurain
Sylvies Vater hatte das Restaurant Anfang der sechziger Jahre mitten in Perisac in einer ehemaligen Poststation aus dem 16. Jahrhundert eröffnet. Es gab die Legende, Robespierre habe dort während der Revolution einen Ring vergessen. Das mythenumwobene Schmuckstück wurde unter einer Glaskugel in einer Nische der dicken Mauern aus hellem Stein aufbewahrt. Nach fünfzehn Jahren hatte sich La Musarde drei Sterne im Guide Michelin erobert. Marie Desbruyères, die früh gestorben war, hatte nur die Zuerkennung des zweiten erlebt. Ich habe oft gedacht, dass der frühe Tod ihrer Mutter einen Anteil am düsteren und eigensinnigen Wesen meiner Frau hat. Ihr Vater, ein großzügiger, aber wortkarger Mann, hatte sie allein aufgezogen und alles der Religion der Kochkunst und der Obsession des Erfolgs unterworfen. Im Jahr nach seinem Tod verlor das Restaurant einen Stern. Mit Hartnäckigkeit und Genie war es Sylvie gelungen, ihn zwei Jahre später wieder ihrem Namen hinzuzufügen, und es kam nicht mehr infrage, ihn zu verlieren. Das Privileg der drei Sterne teilte sie mit nur zwei anderen Frauen, Anne-Sophie Pic und Hélène Darroze. Während ich an sie dachte, kam sie von Kopf bis Fuß weiß gekleidet und mit einem riesigen Metalllöffel in der Hand auf mich zu.
»Man hat mir eben erst gesagt, dass du da bist«, sagte sie lächelnd. »Ich freue mich, dass du vorbeikommst.«
Ich erzählte ihr von meinem Arztbesuch und dass ich mir gleich ein Schlafmittel aus der Apotheke holen würde, ich erwähnte das Beruhigungsmittel, das ich außerhalb kaufen wollte. Sie hörte mir mit der gleichen Aufmerksamkeit zu, die ich von ihr kannte, wenn sie mit Bocuse oder Pic sprach und sich die Namen aller erwähnten Zutaten merkte. Hier waren es Stilnox und Temesta statt Gorria und Vanille.
»Das ist gut. Das ist sehr gut«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine.
Wir sahen uns schweigend an.
»Warte, du sollst etwas probieren. Éric! Lassen Sie unseren Versuch auf den Tisch bringen, François macht den Verkoster.«
Éric verschwand und kam sogleich mit zwei Hilfsköchen zurück, von denen einer einen Porzellanteller trug, auf dem eine Portion Dorade in Sauce lag.
»Probier mal!«
Ich nahm einen Bissen, kaute langsam, versuchte, alle Feinheiten zu erfassen. Meine Frau, die beiden Hilfsköche und Éric beobachteten mich besorgt, mit erhobenem Kinn, in Erwartung meines Urteils.
»Es schmeckt sehr gut.«
»Das ist nicht die Frage«, erwiderte meine Frau und verdrehte die Augen. »Was ist das für ein Geschmack?«
»Ein anderer Geschmack, kein Fischgeschmack … Ein Geschmack nach … Wald?«
»Bravo!«, jubelte sie. »Aber was noch?«
»Ich weiß nicht. Das ist schon mal gut, oder?«
»Geht zurück in die Küche«, sagte sie ihren Angestellten.
Sogleich entfernten sich die beiden Hilfsköche und Éric.
»Hast du die Haselnüsse herausgeschmeckt?«, fragte sie und rückte näher an mich heran.
»Ja, vielleicht.«
»Vielleicht gibt es nicht! Ja oder nein?«
»Ja.«
»Du lügst. Das sehe ich, ich kenne dich«, sagte sie gekränkt.
»Ich bin kein Gastrokritiker, Sylvie.«
»Nein, aber du kennst meine Küche, deine Meinung zählt.«
»Danke.«
»François, François«, sagte sie seufzend, »das ist kein Kompliment. Das Entscheidende ist die Haselnuss, diese Haselnussgeschichte ist sehr kompliziert. Wir haben sie zerkleinert und destilliert, um ein ziemlich flüchtiges Aroma daraus zu gewinnen, das aber im Mund zurückkommen soll. Es ist da«, sagte sie und zeigte auf das weiße Fleisch, »es ist nicht in der Soße, es ist im Fisch.«
»Ja, mein Schatz, im Fisch«, sagte ich und wusste nicht weiter.
»Fast hätte ich es vergessen. Vorhin wurde etwas für dich abgegeben.«
Sie stand auf, suchte hinter dem Tresen und brachte mir ein großes Kuvert aus festem Papier.
Es kam von dem Fotografen. Er wusste wohl meine Privatadresse nicht, und ins Rathaus konnte er mir die Post nicht mehr schicken. La Musarde war also der einfachste Weg, mich zu erreichen. Drei Schwarz-Weiß-Fotos, zwei bis zur Taille und ein Porträt.
»Ich sehe traurig aus.«
»Nein, du bist sehr schön«, sagte sie gerührt. »Wer hat die gemacht?«
»Guillaume Lux, ich habe ihn nach der Wahl vor den Plakaten getroffen.«
Sylvie schaute still auf mein Porträt mit wehendem Haar.
»Kann ich es hierbehalten?«, fragte sie leise.
Die Tür des Restaurants ging auf.
»Guten Tag, Herr Bürgermeister«, sagte der Oberkellner.
»Was sucht der denn hier?«, flüsterte ich atemlos, als ich Alphandon mit drei anderen Männern hereinkommen sah.
»Er hat reserviert.«
»Hast du kein Zyankali in deinem Kräuterschrank?«
»Ich bediene lieber einen Gangster, der Feinschmecker ist, als einen Priester ohne Gaumen, hat mein Vater immer gesagt. Ich kann nichts dafür, François. Er reserviert, ich bediene ihn.«
Sylvie schob das Foto in ihre Schürze, grüßte den Bürgermeister und verschwand in Richtung Küche. Alphandon nickte mir kurz zu und setzte sich. Ich ging grußlos hinaus.
Ich würde wohl früher als geplant nach Beaulieu fahren, um mir das Beruhigungsmittel zu holen.
Ich vertraue auf die Zukunft, ich vertraue auf unseren Kampf und ich vertraue auf euch für alle Kämpfe, die uns bevorstehen! Es ist Zeit für uns …«
Tosender Applaus.
»Es ist Zeit für uns, die Reihen zu schließen und diesen Weg mit Zuversicht zu gehen …«
Seit gut zwanzig Minuten dröhnte die Rede des Generalsekretärs in meinem Kopf. Ich war zu spät gekommen, hatte einige Hände gedrückt und dann in der Messehalle sieben an der Porte de Versailles eine ganze Sitzreihe zum Aufstehen gezwungen, um meinen Platz zu erreichen. Der Sekretär redete sich im Licht der Scheinwerfer in Ekstase:
»… die Hoffnungen und Wünsche all derer aufzunehmen, die uns vertraut haben und uns weiter vertrauen werden!«
Tosender Applaus.
»Noch regieren wir in der Hälfte aller Städte Frankreichs«, sagte er mit gespieltem Entsetzen, als hätte er das soeben entdeckt. »Das ist Fakt«, setzte er in demselben Ton fort, »und das ist nicht wenig! Wir sind da!«, schrie er plötzlich, »und wir werden immer da sein! Daran müssen wir glauben! Gemeinsam, liebe Freunde, gemeinsam gewinnen wir die Kämpfe der Zukunft, eine Etappe nach der anderen. Auch ihr, die ihr euer Rathaus knapp verloren habt, auch ihr müsst nach vorne sehen! Wir sind an eurer Seite, die Partei unterstützt euch, wie sie euch immer unterstützt hat.«
Mäßiger Applaus.
»Ich denke an Catherine Veyrant, die die Wahl um drei Prozent verfehlte, aber einen starken Wahlkampf geführt hat. Ich denke an François Heurtevent, der seine Hochburg mit nur zweihundertzwei Stimmen Abstand verlor!«
Der ganze Saal drehte sich zu mir um. Galten die erzürnten Blicke den zweihundertzwei Stimmen oder mir? Was fiel dem Sekretär ein, so vor allen Leuten auf mich zu weisen? Er, der im ersten Wahlgang mit zweiundfünfzig Prozent wiedergewählt worden war.
»François, du bist einer unserer Besten, komm zu mir auf die Bühne, sag uns, wie du dir die kommenden Kämpfe vorstellst.«
Hatte ich richtig gehört? Ein Mann rief: »Bravo, Heurtevent!« Ja, ich hatte richtig gehört. Ich sollte vor Hunderten Parteimitgliedern aufstehen. Sollte zu ihnen sprechen. Das überstieg meine Kräfte! Meine Beine waren schwer wie Blei,