Es war anders damals!. Horst Viergutz
Die Lubahn war ein bewaldetes Stück Land nur ein paar Kilometer vom Dorf entfernt, wo wir uns oft und gerne aufgehalten haben, im Sommer wie im Winter. Für uns war es ein abwechslungsreiches Gebiet. Wenn wir nicht mit anderen Dingen beschäftigt waren, dann zog es uns immer wieder dort hin. Es gab vieles zu sehen und ebenso viel zu tun. In den Wäldern konnte man Rehe, Dachse, Hasen und manchmal die flinken Füchse mit ihren buschigen Schwänzen beobachten. Dort waren Teiche und kleine Bäche, in denen man angeln konnte. Wir wussten, wo wir natürliche Wasserquellen finden konnten, um unseren Durst zu löschen, und im Sommer konnte man jede Menge wilder Beeren finden. Sogar mein Vater war nicht abgeneigt, zu dieser Zeit der Lubahn einen Besuch abzustatten, um Blaubeeren, Himbeeren und Brombeeren zu sammeln. Wir Jungen hatten uns eine verborgene Lehmhütte gebaut, unser geheimer Zufluchtsort. Dort hatten wir uns eine Feuerstelle eingerichtet, an der wir frisch geerntete Kartoffeln rösteten, die wir auf dem Felde stibitzten. Wir versuchten sogar, unsere geangelten Fische zu räuchern. Das war aber nie recht erfolgreich, sie sind uns meistens ins Feuer gefallen.
Wir alle hatten Fahrräder, die wir, so gut wir konnten, in Schuss hielten. Wenn wir Schäden nicht selber beheben konnten, eine verbogene Felge, lose Speichen, oder ein defektes Radlager, dann musste unser Freund Siegfried ran, genannt Cheffi. Cheffi war der Experte für Fahrradreparaturen und konnte fast alles instandsetzen.
Im Sommer sind wir oft zum Kämitzsee gefahren, wo man herrlich schwimmen konnte. An diesem Gewässer, umrandet von alten Bäumen, lag ein Gasthaus, ein beliebtes Ausflugziel für Jung und Alt. Vom See hinauf zum Gasthaus war das Gelände terrassiert, besetzt mit Gartentischen und ihren rot-weiß karierten Tischtüchern und Stühlen. An Wochenenden war alles bis auf den letzten Platz belegt. Viele Leute brachten ihren selbst gebackenen Kuchen mit und bestellten sich dann den Kaffee dazu. Danach konnte man die alten Herren in ihren feinen Anzügen beobachten, wie sie genüsslich ihre Zigarren rauchten und sich das kühle Bier schmecken ließen. Der Besitzer hatte auch das Anglerrecht für den See, und so gab es dort die besten frischen Fischgerichte.
Mein Vater schickte mich einmal zum Kämitzsee, um ein paar Aale zu holen, die er dort bestellt hatte. Die Aale wurden in einen Leinensack gesteckt, den ich dann in meinem Rucksack verstaute. Auf dem Heimweg wurden die Aale auf meinem Rücken lebendig, sie tobten so sehr herum, dass ich mein Gleichgewicht verlor und mit dem Fahrrad stürzte, Gott sei Dank auf einen weichen Waldboden, so dass ich keinen Schaden erlitt - allerdings haben mir die Aale mit ihrer Kraft gehörigen Respekt eingeflößt!
Am liebsten fuhren wir mit unseren Fahrrädern nach Kolberg, wo wir in der Ostsee schwimmen konnten und den wunderschönen weißen Strand und die mit Ginster bewachsenen Dünen genießen durften. Es war eigentlich verboten, sich in den Dünen aufhalten, für uns aber waren sie wie Umkleidekabinen, und man konnte sich dort windgeschützt von der Sonne bräunen lassen.
Während der Sommermonate bekamen wir reichlich Regen und Gewitterschauer. Da konnte es schon mal vorkommen, dass uns beides auf der Heimfahrt überraschte. Wenn das passierte, zogen wir schnell unsere Kleider aus und die nasse Badehose wieder an, bündelten die Kleider in unsere Handtücher und fuhren dann im strömenden Regen nach Hause. Solche Eskapaden musste ich vor meinem Vater verheimlichen. Hätte er gewusst, dass ich bei strömendem Regen in der Badehose nach Hause gefahren bin, dann wäre mir eine Tracht Prügel sicher gewesen.
Mein Fahrrad diente ebenfalls dazu, meiner Mutter zu helfen. Als Landhebamme wurde sie sehr oft anstelle von Geld in Naturalien bezahlt. Häufig war es meine Sache, Muttis Wöchnerinnen zu besuchen, um die Schulden einzutreiben, eine Aufgabe, der ich gerne nachging. Die Leute, die ich besuchte, machten mir fast immer ein paar belegte Brote, die ich auf dem Heimweg verzehrte. Ich war immer stolz, wenn ich die Sachen vorzeigen konnte, die ich bekommen hatte. Da waren frisch geschlachtete Hühner, Eier, Hausmacherwurst, Schinken, Obst und was weiß ich noch alles. Als Belohnung für diese Beutezüge, wie ich sie gerne nannte, gab mir meine Mutter dann immer etwas Geld, das ich in den meisten Fällen in meiner Sparbüchse deponierte. Natürlich nicht immer. Es gab Gelegenheiten genug, um das Geld für nutzlose Sachen auszugeben. Zu meiner Zeit gab es noch keine LPs oder CDs, und bis zum Besitz eines Plattenspielers war es auch noch weit. Ein Plattenspieler mit einer Handkurbel war zu der Zeit noch der reine Luxus für die meisten Familien. Mein Geld gab ich aus für Karussellfahrten und andere unsinnige Dinge, wenn Jahrmarkt im Dorf war. Manchmal kaufte ich mir auch ein Buch, Science Fiction, meine Lieblingslektüre. Man las von Raketenflügen zum Mond, von der Erforschung des Weltalls und von Robotern. Nie hätte man in meiner Jugend geglaubt, dass so etwas noch im selben Jahrhundert Wirklichkeit werden würde.
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*) Klarnamen tauchen hier und an anderen Stellen des Buches nur auf, wenn das Einverständnis der betroffenen Personen vorliegt bzw. der Situation wegen unterstellt werden darf.
Im Kriegszustand
Es ist der 1. September 1939. Gerade vor einem Monat hatten wir meinen 10. Geburtstag gefeiert. Als ich mich fertig machte, um zur Schule zu gehen, hörte ich im Radio, dass die deutsche Armee in Polen einmarschiert sei. Angeblich hatten polnische Truppen mehrere Grenzverletzungen begangen und somit die Kriegserklärung provoziert. Deutschland ist ab heute im Krieg! Diese Durchsage überraschte mich. Was ist Krieg? Was bedeutet er für uns? Von dem, was uns noch bevorstand, hatte ich zu der Zeit gar keine Ahnung. Ich hatte keine Vorstellungen, was die Auswirkungen dieses Krieges für uns sein würden. In unserem alltäglichen Leben hatten wir kaum an den Geschehnissen teilgenommen, die die damalige Politik Deutschlands beeinflussten. Wir wussten nur wenig von den Verfolgungen der Nazis an der eigenen Bevölkerung, an den sogenannten „Staatsfeinden”. Ihre Aktionen rechtfertigten sie mit der Begründung, dass die allgemeine Bevölkerung gegen diese unerwünschten Elemente geschützt werden müsste. Diese „Staatsfeinde“ waren Kommunisten, Homosexuelle, geistig Behinderte, mongoloid Erkrankte, Zeugen Jehovas, Zigeuner und in der Mehrzahl Juden.
Wie fast alle zehnjährigen Buben bin auch ich ins Jungvolk eingetreten. Die wöchentlichen Treffen machten uns damals viel Spaß. Stolz trugen wir unsere Uniformen, und wir ließen uns von älteren Jungen, die unsere Anführer waren, herumkommandieren als wären wir Rekruten. Wir lernten im Gleichschritt zu marschieren, und sangen dabei patriotische Lieder, in denen wir unsere Bereitschaft bekundeten, unserem „geliebten Führer Adolf Hitler” zu folgen, wenn nötig in den Tod. Für Deutschland zu sterben, wurde hingestellt als die größte Ehre, die einem widerfahren könnte. Es hatte wenig Bedeutung für uns, schließlich waren wir ja gar nicht alt genug, dass uns jemals so eine fragwürdige Ehre zuteil werden würde. So dachten wir damals. Wir fuhren ins Zeltlager, nahmen Teil an Aufmärschen mit anderen jugendlichen Einheiten, und man unterrichtete uns in der Handhabung von Schusswaffen. Es dauerte nicht lange, und wir fingen an, uns mit den älteren Jungen zu identifizieren, die schon Uniformträger waren in den verschiedenen Waffengattungen der damaligen Streitkräfte.
Der Polenfeldzug endete fast so schnell, wie er angefangen hatte. In nur vierzehn Tagen hatten deutsche Truppen Polen in die Knie gezwungen. Zeitungen und Radio berichteten, wie glorreich unsere Soldaten in dem sogenannten „Blitzkrieg" gekämpft hatten. Über Gräueltaten gegen die polnische Zivilbevölkerung wurde kein Wort verloren. Es dauerte nicht lange, und die ersten polnischen Gefangenen kamen in unser Dorf. Sie wurden hauptsächlich zur Arbeit auf Bauernhöfe verteilt. Dass bald auch polnische Zivilisten kamen, schien nicht weiter ungewöhnlich. Schließlich waren sie unsere Feinde, so hatte man uns doch gesagt, und sie hatten diesen Krieg angefangen. Somit war es doch nicht verkehrt, dass sie jetzt eingesetzt wurden, um unsere Kriegsmaschine zu unterstützen. Ich bin weit davon entfernt, dies zu rechtfertigen, aber damals habe ich keine weiteren Gedanken daran verschwendet und das Erscheinen von polnischen Hilfskräften lediglich achselzuckend zur Kenntnis genommen.
Der Einmarsch deutscher Truppen in Polen hatte seine Folgen: Großbritannien und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg. Dieser Abschnitt des Krieges wurde in der Hauptsache zur See und in der Luft durchgeführt. Die Luftwaffe bombardierte London, während sich die Engländer rächten und Bomben auf deutsche Städte hageln ließen. Wo wir wohnten, waren wir von den Bombenangriffen verschont, jedoch konnte man täglich englische Bomber beobachten, wie sie in Geschwadern Richtung Süden flogen, wo die Rüstungsindustrie konzentriert war. Wenn das Wetter gut war, konnte man unzählige silberne