Die Breitseite des Lebens. Ingo Irka

Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka


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gelegt. Als wäre ihr Absolution erteilt worden. Wie damals, als sie mit ihrer Tante im Auto bei der orangen Ampel doch noch stehen blieb, während der Fahrer hinter ihr sie überholte und prompt vom Gegenverkehr erfasst wurde. Hätte sie auf die Anweisungen von Birte gehört, dann wäre sie es gewesen, die mit kaputtem Auto und Schleudertrauma dagestanden wäre. Doch alles war gut. Auch dieses Mal.

      Sie drehte sich um und sah erleichtert durch die Fenster in das Abteil. Immer noch waren die beiden Kontrolleure mit dem Betrunkenen beschäftigt.

      „Armer Mensch, aber einen trifft es wohl immer!“, bemitleidete sie ihn, ehe die Straßenbahn wieder aus der Station bog und langsam weiterfuhr.

      Als sie in der Nähe des Linzer Grabens im Traxlmayr eintraf waren alle bereits gesammelt anwesend. Carmen nippte schon andächtig an ihrem Weißwein, während ihre anderen beiden Freundinnen noch auf den Kaffee warteten.

      Obschon, richtige Freundinnen waren sie allesamt eigentlich gar keine. Eher weitläufige Bekanntschaften. Wahre Freundschaft zeichnete für Lydia sich seit eh und je durch Vertrauen aus, durch gegenseitige Zuneigung und ernstgemeinte Hilfsbereitschaft. Allesamt Attribute, die Freundschaften für sie erst als solche definierten. Bei ihren Bekanntschaften hier hingegen traf weder das eine noch das andere zu. Man konnte ihnen nichts anvertrauen, ohne dass es am nächsten Tag nicht die ganze Welt wusste. Zuneigung bestand lediglich dann, wenn sie im Gegenzug etwas brauchten. Und Hilfsbereitschaft kam in ihrem Wortschatz gar nicht vor. Hilfe benötigten nur die Schwachen. Und Schwäche zu zeigen kam gar nicht in Frage. Demnach waren es eher Scheinfreundschaften und im strengsten Sinne nicht einmal das. Sie waren eine „Schar von dekadenten Geiern mit verlogenem Gewinnerlächeln“, wie Edgar sie zu nennen pflegte, die lediglich danach trachteten, sich über Oberflächlichkeiten und aufgesetztem Gehabe zu statuieren.

      „Gott bewahre, wenn es dir einmal schlecht geht und du die Hilfe deiner sogenannten Freundinnen brauchst“, hatte er Lydia des Öfteren schon versucht, einzutrichtern, „dann wird sich zeigen bis zu welchem Grade dieses falsche Pack hinter dir steht und dich ehrlich unterstützt.“

      Und im Grunde genommen hatte er auch Recht. Der Schein wurde gewahrt, am Sein hingegen gespart. Doch was sollte Lydia machen? Zuhause herumsitzen und ihre freie Zeit mit Däumchen drehen totschlagen? Ihr war sonnenklar, dass ihre wöchentlichen Zusammenkünfte nie über den Status eines bloßen Lückenfüllers hinausgehen könnten. Doch der Zweck heiligte die Mittel. Man wusste sonst nichts mit seiner Zeit alleine anzufangen. Also traf man sich eben hin und wieder, um gemeinsam einsam zu sein. Nicht mehr und nicht weniger.

      Doch zumindest traf man sich im Traxlmayr und nirgendwo anders in der Stadt. Lydia liebte diese Lokalität. Es war so etwas wie eine Rückzugsoase, in der man ganz gelöst vom Alltagsstress dem süßen Nichtstun nachhängen konnte. Mit seinen verspielten Stuckelementen und den überdimensionierten Kronleuchtern vermittelte das Traxlmayr dabei ein Stück weit verloren geglaubte Kaffeehauskultur in Linz. Über den großen Fenstern, die ein schönes Panorama auf die Linzer Promenade gewährten, hingen ausladende Stores, die den Innenraum in eine fast barock anmutende Atmosphäre tauchten. Die Stühle und Bänke waren allesamt mit edlem Gobelinstoff gesäumt. Sie muteten wie Sitzgelegenheiten aus den noblen Salons der Rokokozeit an. Und selbst der glänzende Fußboden spiegelte mit seiner dezenten Marmorierung die Stimmung längst vergangener Tage wieder. Ja, dieses Café verstand es stilistisch wie kein anderes die Besucher in alte Zeiten zurück zu versetzten. Es gab ihnen das Gefühl, als seien sie hier Besucher von Welt. Genau das Richtige also für Lydia und ihre Freundinnen.

      „Hallo, mein kleiner Sonnenschein!“, wurde sie gleich in gewohnt überschwänglicher Manier von Marie begrüßt, während Kathy auf der Bank daneben ihr neues Smartphone in Augenschein nahm.

      Es war ein Geschenk ihres Mannes zum Vierziger. Nicht etwa, dass es von Nöten gewesen wäre. Immerhin hatte sie bereits das Vorgängermodell zuhause. Doch Kathy liebte Geschenke und Kathy liebte Aktualität. Und da war es nur eine logische Konsequenz, dass Tom für Kathy auch tief in die Börse zu greifen hatte, um ihre Wünsche auch zu erfüllen. Fertig!

      „Na, hast du dich von deinem Quälgeist zuhause lösen können, Lydia?“, fiel sie gleich ungeniert mit der Tür ins Haus und legte ihr Telefon beiseite.

      „Darf ich mich vielleicht einmal setzen, bevor ich über die Männer und ihre Unzulänglichkeiten mit Euch sprechen muss?“, erwiderte Lydia leicht gereizt, ehe sie sich den Stuhl neben Carmen zurechtschob. „Und außerdem bin ich ohnedies noch ein bisschen durch den Wind.“

      „Wieso, was ist los mit dir?“, wandte Carmen sich ihr zu, um zeitgleich dem Kellner ein Zeichen zu geben, dass ihr Weißwein zur Neige ging. „Hast du etwa wirklich Stress mit deinem Göttergatten gehabt?“

      Lydia nahm Platz.

      „Nein, Edgar war heute noch nicht das Problem. Wie auch, ich habe ihn heute Morgen nicht länger als ein paar Minuten zu Gesicht bekommen.“

      Sie begann nebenbei die Getränkekarte durchzublättern.

      „Ich wäre heute beinahe zur Schwarzfahrerin geworden. Das wirft mich etwas aus der Bahn. Zu meinem Glück ist aber alles gut ausgegangen. Eigentlich bin ich ja der Kontrolle entgangen, da die beiden Kontrolleure einen Besoffenen ohne gültigen Ausweis erwischt haben. Gott sei Dank! Aber es waren trotzdem bange Minuten für mich.“

      „Oh, unsere ach so korrekte und unfehlbare Lydia hätte fast Bekanntschaft mit dem langen Arm des Gesetzes gehabt“, schaltete Marie sich süffisant in das Gespräch ein. „Aber das ist doch lächerlich. Wegen so einer Kleinigkeit bist du durch den Wind? Als ob auf das Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmittel gleich die Todesstrafe stehen würde.“

      „Genau meine Rede. Wegen so einer Bagatelle brauchst du nicht gleich auszuflippen“, stieß Kathy in dasselbe Horn.

      Sie klappte ihren Schminkspiegel auf und trug ordentlich Lippenstift und Rouge auf.

      „Ihr beide habt leicht reden“, schlug Carmen sich übereifrig auf Lydias Seite, „Ihr habt ja auch keine Kinder, denen Ihr Rede und Antwort stehen müsst. Bei Lydia und mir sieht die Sache da schon etwas anders aus. Wie würden wir denn dastehen, wenn wir unsere Kinder einerseits zur Ehrlichkeit und Ordnung aufrufen und auf der anderen Seite selbst gegen diese Prinzipien verstoßen würden? Glaubwürdigkeit kann man sich nicht kaufen. Die muss man sich erarbeiten. Und mit einem kleinen Fehltritt hat man sie auch schon wieder verspielt. Und dann“, Carmen blickte Kathy belehrend an, „nützen nicht einmal ein neues Smartphone oder eine zentimeterdicke Schicht Make Up etwas, um die Wogen wieder zu glätten.“

      „Was redest du da? Wenn ich mit meiner noblen Schminke auf den rosigen Wangen einem Kontrolleur unter die Augen treten würde, dann hätte ich wahrscheinlich Gratisfahrten auf Lebzeit und eine Telefonnummer mehr in der Tasche“, lachte Kathy laut auf. „In dieser Hinsicht sind doch alle Männer gleich. Optik vor Ordnung und Moral. Wisst Ihr noch? Letztes Jahr, als ich Euch von Italien erzählt habe? Als ich von zwei Beamten wegen meines defekten Rücklichts angehalten worden bin?“

      Sie ließ ihren Blick fragend durch die Runde wandern.

      „Die liebe Kathy hat gar nichts bezahlen müssen. Und das nur, weil sie ein bisschen mit dem Hintern gewackelt hat, die Stimmlage ganz sexy eine Oktave höher geschraubt und ihren Unschuldsblick aufgesetzt hat. Ja, so leicht sind die Männer um den Finger zu wickeln.“

      „Aber doch nicht alle Männer“, versuchte Carmen zu relativieren.

      „Natürlich, alle Männer! Ohne Ausnahme!“

      Kathy griff überlegen nach ihrer Kaffeetasse.

      „Sogar dieser Psychologe Sigmund Freud sagt das und der muss es als Mann ja wissen.“

      „Ach ja, ich vergaß. Unsere Kathy ist ja unter die Seelenklempner gegangen“, spöttelte Carmen in ihre Richtung und verdrehte die Augen dabei.

      „Nein, dafür müsste ich schon so schlau sein wie du“, spielte Kathy zynisch die Kugel zurück. „Aber


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