Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster

Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf, Dr. Küster


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eine Kothe ist.”

      Ich war froh, als Papa Graefe es mir erklärte. Anfangen konnte ich mit dem Wort Kothe auch nichts. Heute weiß ich, dass es sich um ein Feuerzelt handelt. Vater Graefe hat es den Eskimos abgeschaut.

      Eine geschichtliche Tatsache ist, dass ein erstes gemeinschaftliches Wochenende von arbeitslosen Jugendlichen vom 18. bis 20. Mai 1896 in Schifferhaven in einer selbstgebauten Kothe im Obstgarten von Graefes stattgefunden hat. Es waren sechs junge Burschen aus Frankfurt an der Oder.

      Da große Teile des nahe gelegenen Schifferhavener Forstes den Graefes gehörten, hätten sie an diesem ersten gemeinsamen Wochenende den Wald erkundet und große Wanderungen unternommen. Spontan hätten sie sich die ‘Schifferbären’ tituliert, eben wegen Schifferhaven.

      Schon drei Wochen später seien es acht Mann gewesen, die ein ähnliches Wochenende zusammen in der Natur verbracht hätten. Und dann hätten sie den ersten größeren Jugendverein gegründet.

      “Später suchten sie Anschluss an schon bestehende, ähnliche Vereinigungen. Ab 1900 nannten sie sich ‘Wandervögel’. Die Bewegung der Wandervögel allein in Schifferhaven hat über 500 Mitglieder gehabt. Alle fanden Gefallen an der Kothe.”

      Zig Jugendlichen habe er den Bau von Kothen erklären müssen.

      Das war stets ein Thema, bei dem Vater Graefe sich in Stimmung redete. Mehr und mehr sei dann auch die Kothe neben dem Hordentopf zu einem Markenzeichen der neuen Jungendbewegung geworden. Das dauernd flackernde Feuer sei zum Symbol geworden für einen Gemeinschaftsgeist, der keine Zwietracht duldet.

      “Das Feuer wärmt alle. Alle müssen es versorgen und überwachen. Das schlichte Wesen der Kothe duldet keinen Prunk, auch keinen Lärm, kein Gegröle. So wurde es mal interpretiert und allen gefiel das. Unsere Jugendlichen fingen an, den Innenraum der Kothe als etwas Ehrwürdiges zu empfinden, das in keiner Weise ‘verunreinigt’ werden darf.

      Mich hat es selbst erstaunt, dass sich in den folgenden Jahren im ganzen Land so eine Art ‘Kothen Mythos’ entwickelte. Warum wohl? Vielleicht hatten alle Wandervögel bei nächtlicher Feuerwache ähnliche Erfahrungen gemacht. Wenn alles schlief kamen sie der ursprünglichen Natur in sich selbst und um sie herum ganz, ganz nah.

      Das Knistern des Feuers und die Flammen entfachten regelrecht magische Kräfte. Ich habe es erlebt: Plötzlich mussten die jungen Menschen nicht mehr qualmen, plötzlich fühlten sie sich mit der neuen Gemeinschaft ganz, ganz eng verbunden. Ihnen ging dieses neue Erleben der unberührten Natur über alles. Aber während wir noch davon träumten, wie elitär einmal unser Aufbruch war, mussten wir erfahren, dass wir lediglich vom Zeitgeist erfasst waren, wie viele andere auch. Zeitgleich sprossen überall im Lande Jugendverbände wie Pilze aus der Erde.

      Wir erfuhren beispielsweise, dass sich – im gleichen Jahr in Berlin-Steglitz – die Schüler der Gymnasien zu ‘Wanderfahrten’ versammelt hatten. Etwas gänzlich Neues”

      “Kurtchen”, sagte vor ein paar Tagen Vater Graefe mit Begeisterung in der Stimme, “du ahnst nicht, welche Aufbruchsstimmung mit einem mal die Jugendlichen erfasste. Glaube mir, das was ich vor der Jahrhundertwende erlebte, war phänomenal!

      Das jetzige Getrommel der NSDAP ist nichts dagegen. Das wird künstlich erzeugt in einer parteipolitischen Retorte. Das damals war eine Urkraft, die sich entfesselte.Nun muss man sich aber auch mal die damalige Kaiserzeit vorstellen. Was verlangte die Wilhelminische Gesellschaft von ihrer Jugend? Treue und Gehorsam, sonst nichts.

      Man wollte Untertanen erziehen, die sich klaglos in die bürgerliche Gesellschaft einpassten. Ruhe war die erste Bürgerpflicht. Nicht dumm sollten sie sein, sondern klug. Aber keineswegs allzu klug, brauchbar und pflegeleicht.

      Jeder Jugendbund im Lande entwickelte seine eigene Note. Immer mehr Jugendbewegungen kamen hinzu, proletarische, konfessionelle, deutschnationale Freischaren. Aber in allen sprudelte diese neue Lebenskraft, der Wunsch nach Eigenleben und Eigenverantwortung.

      Als man sich im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner traf, da erhielt diese neue deutsche Jugendbewegung ihr endgültiges Programm. Es tauchte erstmalig der Begriff der ‘Inneren Wahrhaftigkeit’ auf; er hat uns lange beschäftigt. Dieser Begriff war Ausdruck neuer Normen.

      Wir strebten fortan den ganzheitlichen Menschen an: ‘Geist, Körper und Seele in freier Selbstbestimmung’. ‘Erkenne dich selbst und werde der, der du bist’.

      Wir wollten fortan für den Rest der Gesellschaft unbequem werden. Aufrechte Menschen wollten wir sein, mit einem klaren Gefühl für Recht und Unrecht, Gut und Böse. Schluss mit Falschheit und Verlogenheit, Verhaltensweisen, die die übrige Gesellschaft so sehr charakterisierten.”

      Aber nun bin ich neugierig. Von Vater Graefe will ich erfahren, ob die Jugend von damals zu dieser „Inneren Wahrhaftigkeit gefunden hat?“

      “Kurti, wir waren auf gutem Wege. Aber das Schicksal meinte es nicht gut mit uns.

      Der schreckliche Weltkrieg zog auf. In einer mächtigen Springflut von nationalem Wahn und grausamem Kanonenfeuer zerbröselten unsere Ideale. Und danach wurde nichts wieder wie vordem.

      Was mich heutzutage ganz krank macht, ist die Dreistigkeit, die Frechheit der Nationalsozialisten, die sich bedenkenlos unsere Kluft, unsere Ideale angezogen haben.

      Die haben sich das äußere Kleid der Jugendverbände aus Faulheit und Einfallslosigkeit unter den Nagel gerissen und es ihrem ideologischen NS-Monster übergestülpt.

      Aber sie sprechen doch eine ganz andere Sprache. Sie meinen doch etwas ganz anderes als wir.

      Die Nationalsozialisten kümmert doch nicht das Wohl des Einzelnen, denen geht es nur um Macht. Für uns war jeder Einzelne ein Geschöpf des Herrn, den wir fest in eine Gemeinschaft einbinden wollten. Eine Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz. Und in Gottes freier Natur sollte sich das abspielen.

      Nein, nein, diese neuen Propheten, die sich Arier nennen, sie wollen den Rest der Menschheit ihrem Machthunger unterwerfen. Die Juden wollen sie sogar vernichten, und alle anderen, die ihnen missliebig sind.“

      Ja, so ist das, mein Kurtchen”, sagte er in ernstem Ton, “ab nun kannst du dich nicht mehr drücken, wegsehen, übersehen, die Augen verschließen. Ich für meine Person weiß, wohin ich gehöre. Ich hoffe, du findest auch deinen Platz und bringst die Kraft auf, eine klare Stellung zu beziehen.”

      Himmel, der Mensch macht mich krank! Was soll ich tun? Mir ist schlecht. Ich bin nach Hause geflüchtet. Er erwartet doch glatt, dass ich mich gegen die NSDAP, gegen unsere Regierung entscheide. Und wenn ich das nicht kann? Ich habe einen Bärenbammel!

      Ich will ihn aber auch nicht verlieren. Vater Graefe ist ein so edler, so wertvoller Mensch. Für mich ist er unverzichtbar. Nun hat er mich auch noch in seine Geheimnisse eingeweiht. Ich weiß, er hat im Keller seines Hauses eine Druckmaschine. Er plant eine Aufklärungs-Aktion mit Flugblättern.

      “Ich werde den Nationalsozialisten die Tarnmaske herunterreißen”, sagte er zu mir. “Ich werde meinen Mitmenschen zeigen, wie gefährlich die Marschrichtung der Nationalsozialisten für uns alle ist. Sie führt todsicher in den Abgrund.”

      Vater Graefe hat von mir nie verlangt, dass ich entscheide.

      Aber ich merke, er rechnet mit mir! Offensichtlich ganz stark! Was mache ich nur? Was soll ich denn nur machen?

      Na, eines ist klar. Ich werde mit niemandem darüber reden!

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