Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster

Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf, Dr. Küster


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      Kurts bester Freund ist nur Halbjude, trotzdem wurde ihm, von heute auf morgen, der Schulbesuch des PvH-Gymnasiums untersagt. Er geht jetzt in eine Behelfsschule in der Braunschweiger Straße. Es ist zum Heulen. Kurt hatte Tränen in den Augen, als er uns das berichtete.

      Spontan hat er seinem Freund die Chance eingeräumt, dass sie sich täglich zusammensetzen wollen, um den Unterricht zu wiederholen.

      Eine gute Idee, finde ich. Unser Kurt, auf den kannst du dich verlassen, ein weites Herz hat er. Erst gestern dieser Schlag, und nun sitzen wir heute am 1. März in der Ulmenallee im Umzugs-Schlamassel. Wenigstens gut, dass es nicht mehr schneit. Es ist milde. Gestern noch Schneetreiben. Über Nacht ist der letzte Schnee weggetaut und die Sonne lugt hervor.

      „Eines muss man Mutter lassen“, denkt Marie-Luise, die Älteste der 4 Rübnitzschen Kinder. Mutter ist eine perfekte Organisatorin. Jedem Zimmer im neuen Haus hat sie eine Nummer zugeteilt. Die entsprechenden Zimmernummern in der ersten Etage beginnen mit einer Eins und in der zweiten Etage mit einer Zwei. Das Parterre hat die 0 davor, der Keller ein -1.

      Jedes Möbelstück bzw. Karton hat sie mit der Zimmernummer versehen, in die die Packer sie transportieren sollen. Alles klappt vorzüglich.

      Den Möbelpackern scheint es Spaß zu machen. Selbst Franziska, unsere neue „Perle“, soll möglichst nicht dazwischenfunken.

      Jetzt, wo wir das neue Haus beziehen, geht es nicht mehr ohne ein ständiges Hausmädchen, höre ich Mutter sagen. Vati willigt gleich ein. Überhaupt zieht er jedes Mal den Schwanz ein, sobald Mutti nur ‘grundsätzlich’ wird.

      Ich habe schon manchmal vermutet, Vati hat ein permanent schlechtes Gewissen. Die neue Perle ist keine alte Frau, 33, aber schon Witwe. Ich mag sie, sie hat was Dynamisches, Zupackendes. Und sie ist die meiste Zeit gut gelaunt. Ganze 12 Jahre war sie verheiratet. Wenn ich daran denke, ich müsste in 3 Jahren heiraten, mir würde speiübel.

      Die 100 qm Wohnfläche für 6 Personen in der Feldstraße waren schon sehr eng. Aber muss es dann gleich so ein Palast sein. Das Wohn- und Esszimmer ist hier größer als unsere ganze alte Wohnung zusammen. Ich finde das spinnert. Übertrieben.

      Da braucht man jede Menge Hilfspersonal. Möchte nicht wissen, was Vati hier an Miete hinblättern muss. Jetzt sieht man erst, wie popelig in dieser Umgebung unsere alten Möbel wirken, die die Packer durch die mächtige Diele schleppen.

      Die alten Möbel dieser prächtigen Villa machen mich schwach, obwohl das gegen meinen Strich ist. Mich soll so ein Luxus nicht in seinen Bann schlagen. Die Küche allein, echte Delfter Kacheln, und ein herrliches Blumen-Tableau aus Delfter Fayance.

      Die Küchenwände sind allerdings erschreckend kahl, alle Bilder abgehängt. Auch all die persönlichen Dinge der Weißens wurden abtransportiert.

      Oben in der zweiten Etage, im größten Raum, hatte der Landgerichts-Direktor i.R. eine sog. “Judengalerie” errichtet. Er wollte anscheinend die kulturellen Leistungen der Juden seiner Mitwelt präsentieren.

      Vati hat er all seine Schätze vorgeführt. Sogar einige kleinformatige „Liebermänner“ waren darunter. Was stehen geblieben ist muss ich mir unbedingt ansehen.

      Nachdem Herr Weiß ja nun nicht mehr da ist, macht sich Vati Gedanken, was er mit den noch vorhandenen Kunstgegenständen anstellen soll. Ich schlage vor, nichts zu verändern, sondern alles an seinem Platz lassen.

      Unsere Sabine ist ein Aas. Sie könnte sich freuen, aber zurzeit ist sie maulig. Dabei hat sie jetzt im Hause eine fantastische Rollbahn für ihren Rollstuhl. Durch die Riesendiele und das Treppenhaus, ich schätze 18 Meter? Alles ohne Schwelle und nirgendwo ein Absatz.

      Dieses ‛Marakel’ fegt da unten hin und her, wie ein aufgeregtes Huhn. Was sie da trällert, möchte wissen, wo sie das herhat!

       “Oh Schreck, oh Schreck, der olle Jud’ ist weg.

       Der olle Jud’ muss wieder her, roch wie ein ganzes …

       …Knoblauchmeer.

      *****

      “Nein, nicht nach oben, sehen sie, steht doch 0/4 drauf, da.”

      Der Packer kneift die Augen zusammen, der Ärmste braucht eine Lesebrille.

      „Hier, das Zimmer 4, im Parterre“.

      Was für ein mächtiger ‛Rumms’ beim Absetzen des Kartons. Der ist aber auch schwer, voll von Büchern!

      Andreas hat Pech, seine 12 B schreibt heute eine wichtige Mathearbeit. Mir hat die Ziegler’sche großzügig freigegeben. Das macht sie auch bei unseren Auswärtigen, wenn deren Familien schlachten. Schlachtfest nennen sie das.

      Ach hier, das interessiert, unser Ernteeinsatz im Vorjahr. Diese 3 Bilder besitze ich auch. Die Frau auf diesem Bild, die Karin von Heckroth, die hab ich auf dem Strich. Mensch, die war hinter Andi her. Dieses Foto, toll wie der Andi das hingekriegt hat.

      Karin mit dem Bauch auf der Wiese und gleich daneben der Kopf ihres geliebten Hektors.

      Andi hat das geschickt fotografiert. Hektor grast! Nur so hat er Hektors Kopf an die Erde gekriegt, neben den von Karin. Die Karin, eine Zicke, wie sie im Buche steht. Was muss die für eine Wut im Bauch gehabt haben, als ich sie mit Andi überrascht habe, mittendrin.

      Ich konnte mich später ausschütten vor Lachen. Diese Karin war eindeutig die treibende Kraft, bei dem ganzen Liebesgetue.

      Der Andi erschien mir zuletzt schlapp, wie ein nasser Sack. Diese schwere Erntearbeit hatte dem Unterprimaner ganz schön zugesetzt.

      Nun weiß ich wenigstens, wo morgen die Fahrt hingeht. Andi, du altes Schlitzohr. Mir wollte er es nicht verraten. Er ahnt, dass ich ihm nicht nach Absleben gefolgt wäre. Aber er will mich auf jeden Fall dabeihaben.

      Immerhin, Absleben, 150 km sind es bestimmt. Hoffentlich hält seine alte NSU durch. Ich sitze nicht gern auf so einer alten Mühle. Ich komme mir immer vor wie ein Klammeraffe.

      Meine erste ‛Klammeraffenfahrt“ machte ich, da war ich erst 15. Sie wurde mir zum Verhängnis. Ein paar Nachmittage hatte mir der Peter beim Latein unter die Arme gegriffen. Wir waren uns in der NS-Kreisleitung begegnet, wo er einen Vortrag über den Roman „Volk ohne Raum“ von Jakob Grimm hielt.

      Der männlich aussehende Peter gehörte zur Weiß-Dynastie, der Fabrikanten Familie, die jedermann in Rottlingen kennt. Halb Rottlingen arbeitet ja in deren Fabriken.

      Peter war wohlhabend. Referendar im Höheren Lehramt. Aber er scheute sich noch eine Lehrerstelle anzunehmen. „Tretmühle, Tretmühle,“ lautete stets sein Argument, es zu lassen.

      Mir bei meinen selbstverschuldeten Latein Schwierigkeiten unter die Arme zu greifen, machte ihm offensichtlich viel Spaß. Mir übrigens auch.

      Eines schönen nachmittags, bei großer Hitze im August, fand ich mich dann plötzlich auf dem Rücksitz seines nagelneuen amerikanischen Motorrades wieder, ohne genau sagen zu können, wie ich auf das stählerne Ross gekommen war. Er hatte mich regelrecht überrumpelt. Es ging alles so schnell.

      Dann startete er so rasant, ich musste Halt an seinem Körper suchen, um nicht nach hinten geschleudert zu werden. Keine 5 Sekunden dauerte es, und wir fuhren bereits 100 Stundenkilometer.

      Auf der Bundesstraße 3 donnerten wir mit Spitzengeschwindigkeiten von 180 km gen Süden. Es dauerte nicht sehr lange und auch ich fand Gefallen an solch maßloser Raserei, bei 30 Grad Hitze.

      Als meine Angst wich, erfühlte ich, das Klammeräffchen, erstmalig ganz bewusst, den strammen Leib meines jugendlichen Vordermannes.

      Diese angespannte Bauchmuskulatur im auf und ab, wie eine Welle, den erregenden Duft seines verschwitzten Körpers, gemischt mit Natur- und Motorengerüchen. Eine seltsame, benebelnde Mischung.

      Nach mehr als einer Stunde Raserei fand ich mich auf einer flauschigen Perlgrasmatte oberhalb von Neuhaus im Solling wieder. Neben mir lag Peter und schaute gelassen in den blauen Himmel. Weshalb nur war ich


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