Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster
“Jungzug 1 Achtung!!…. In Reih’ und Glied angetreten!!!”
Die angesprochenen Pimpfe sausen wie von der Tarantel gestochen dorthin und bilden im Nu einen der Größe nach geordnetem Block, der nun exakt ausgerichtet steht.
Es sind…, ich zähle 30, 33, 36 Pimpfe.
Das Ritual des Antretens ist mir geläufig. Sechs Jahre stecke ich nun schon in der braunen Uniform. Davon die letzten zwei Jahre im HJ-Streifendienst. Weshalb sie ausgerechnet mich zu diesem Haufen kommandiert haben, ist mir unerklärlich.
Ich trage Uniform nicht gerne, gewöhne mich auch nicht daran. Atze würde sie am liebsten auch nachts anbehalten.
Nun sind alle vier Züge angetreten. Der Oberjungzugführer vom Zug 1 tritt vor die Front: “Fähnlein 3 stillgestanden, die Augen links!”
Von links kommt mein gewesener Freund anstolziert. Atze dieser Angeber. Die Brust geschwollen wie bei einem Torero.
Sein Oberjungzugführer meldet: “Fähnlein 3, Frundsberg vollständig angetreten.”
“Danke, Oberjungzugführer!”
“Heil Hitler”, ruft er laut in die Kolonnen.
“Heil Hitler, Fähnleinführer!” brüllt es wild entschlossen zurück aus 140 jungen Kehlen.
Drüben, Ecke Lönsstraße, vor der Albani-Kirche hat sich Fähnlein 1 formiert, dahinter Fähnlein 2. Alle zusammen bilden den HJ-Stamm ’Rottlingen’, dessen Führer auch auf unser Gymnasium geht.
Peter Schreiber heißt er. Der ist in der Oberprima und ein feiner Kerl.
Aha, Marschmusik ertönt vom Wagner-Park. Und da kommt er anmarschiert, der HJ-Fanfarenzug.
Wirkt auf mich wie ein Landsknechthaufen.
Toll, ganz helle Fanfarenklänge und dazwischen dumpfes Getrommel.
Kommt mir vor, als wollten die Fanfarenklänge gen Himmel flüchten, aber die Landsknecht-Trommeln holen sie zurück in den Kampf.
Der Fanfarenzug nimmt Aufstellung auf der breiten Freitreppe vorm Rathaus.
Diese vielen schwarz-braunen Uniformen, die eiserne Disziplin, die klaren Befehle und dazu traditionsreiche Musik aus früheren Schlachten!
Es ist mal wieder soweit. Mich schlägt so was total in seinen Bann, und es ist genau das eingetreten, was ich unbedingt für mich heute habe verhindern wollen: Opfer einer Massenhypnose zu werden!
Ich bin dann nicht mehr ich.
Die sich ausbreitende Hochstimmung krallt sich quasi in mein Innerstes und macht mich willenlos. Mein Herz schlägt höher, schneller.
Den vielen Menschen um mich herum geht es anscheinend nicht anders. So bilden wir ganz automatisch eine zusammengehörende Gruppe. Die Volksgemeinschaft, von der die Nationalsozialisten ständig herumspinnen.
Der Stammführer befiehlt den neuen Pimpfen fünf Schritte vorzutreten.
Die markigen Befehle werden von einem leisen Getrommel aus vielen fassgroßen schwarzen Trommeln untermalt, an denen weiße Flammen züngeln und auf der sich, die uns allzu bekannte, riesige Siegrune befindet. Dieses markante Blitzzeichen.
Der Stammführer: “Ihr neuen Pimpfe in der Hitlerjugend erhebt eure rechte Hand zum Hitlergruß und sprecht mir nach unsere Treueformel:
“Ich verspreche…”
Peter macht eine sehr bedeutungsvolle Pause, und in diese Pause fällt das Echo aus vielen jungen Kehlen ein:
“Ich verspreche…”
“In der Hitlerjugend…”
“In der Hitlerjugend…”
“allzeit meine Pflicht zu tun…”
“allzeit meine Pflicht zu tun…”
“in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne!”
“in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne!”
Der HJ- Stammführer befiehlt nun zurückzutreten und die Zehnjährigen treten sichtlich erleichtert zurück in ihre Jungzüge, wo sie sich geborgen fühlen. Sie sind glücklich, man sieht es.
Laute Blasmusik und wuchtige Trommelschläge erfüllen nun das Quadrat des großen Platzes.
Der Stammführer hält seine markige Ansprache. Da geht es um Schmach und Ehre, Mut und Verantwortung, und immer wieder um Deutschland und seine Feinde.
Solche Reden kennt man. Schon 100 Mal gehört.
Allerdings wird er nun aktuell. Ich spitze die Ohren.
Es geht um das neue Gesetz der Hitlerjugend: Die gesamte deutsche Jugend ist, abgesehen von Elternhaus und Schule, nur noch in der Hitlerjugend zu erziehen.
Das heißt, so verkündet stolz der Stammführer, dass in Zukunft weder die Kirchen, noch alle anderen Jugendverbände das Recht hätten, die Jugend zu erziehen.
Es muss diesem Gesetz nach sichergestellt werden, dass jegliche geistige und sittliche Erziehung unserer jungen Menschen im Geiste des Nationalsozialismus stattfindet; also in der HJ.
Die entschiedene Rede verwirrt mich, ich muss nachdenken.
Aber nun ist es so weit. Er ruft seine Pimpfe zum dreifachen “Sieg Heil!” auf den geliebten Führer, Adolf Hitler auf. Die Pimpfe brüllen nicht allein. Plötzlich schmettern begeistert alle Menschen, die hier versammelt sind, ihr “Heil”, “Heil”, “Heil” heraus, so als hätten sie auf nichts anderes gewartet.
Ach, ich weiß nicht, ich finde einerseits die HJ auch nicht übel.
Manchmal bin ich auf den alten Graefe zornig. Er will mir die HJ ausreden und die ganze NSDAP dazu. “Das sind Nichtsnutze, Neurotiker, machtbesessene Monster!”
Ja, so hat er sie wirklich genannt.
Wenn Papa Graefe in Stimmung kommt, dann müsstet ihr ihn mal erleben! Der nimmt kein Blatt vor den Mund. Der redet sich eines Tages noch um Kopf und Kragen.
Wenn Vater Graefe nicht ein so wahnsinnig toller Mensch wäre, ich würde nicht auf ihn hören. Aber so? Er beschäftigt mich. Das Fatale ist, ich mag seine ruhige Art, denn so ist er.
Sein Backenbart schon silbrig, der Bart auf der Oberlippe und die Augenbrauen aber nahezu noch schwarz. Er hat wissende Augen, aus denen gerne ein Schalk heraus lacht.
Ich habe mal zu ihm gesagt: “Sie hätten Schauspieler werden sollen.”
Er hat nur gegrinst.
Seinen Zorn auf die Nazis kann ich andererseits auch verstehen.
In vielen Stunden, die wir in seinem Gewächshaus verbrachten, da hat er mir von seiner Jugend erzählt.
Dieser Orchideenzüchter, er ist ein Naturmensch durch und durch.
Seine Eltern hatten in Schifferhaven eine große Landwirtschaft. Das liegt in der Nähe von Frankfurt an der Oder.
In seiner Jugend, so hat er mir erzählt, bekümmerte ihn vieles, aber ganz besonders der Zustand seiner damaligen Altersgenossen, die ihm zu lasch, viel zu träge vorkamen. Die Folge: Sie bekamen bei dieser Einstellung zum Leben jede Menge Zunder von Seiten der Schule, von der Kirche und auch hauptsächlich von ihren Familien.
Rechte hatten sie keine. Das Ergebnis war, dass sie alles vertranken und verqualmten, sobald sie nur etwas Geld in den Händen hatten. Gelangweilt hingen sie herum in den Kneipen, auf den Straßen und Plätzen.
Mir erzählte Papa Graefe dann sehr anschaulich, wie er Ende vorigen Jahrhunderts einige von den “Herumhängern“ angequatscht habe. Ja, das hat er genauso gesagt: “angequatscht”.
“Wollt ihr mich nicht mal besuchen in Schifferhaven?” Sie hätten ihn blöde angeschaut, einer hätte gesagt: “Was denn, bist du mein Vetter?