Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster
dass es dem Willi peinlich ist, nachdem er so viel über ihre ungewöhnliche Beziehung ausgeplaudert hat. Aber als es um 16: 00 Uhr langsam dunkel wird höre ich im Hof die Eimer klappern; und das infernalische Quieken der Schweine.
Das muss ich unbedingt miterleben! “Ah, Kurt, jetzt ist die Elli im Stall, wenn Du willst, dann kann ich Dir mal ihren ‛Wigwam’ zeigen. Der ist gleich gegenüber. Sie hat immer abgeschlossen, aber jetzt passt er, mein Ersatzschlüssel. Lange hab ich an dem Ding herumgefeilt. Anschließend gehen wir zu ihr in den Stall. Ist das ok?“
Oh, was hat der Willi für heiße Hände! Ohne meine Antwort abzuwarten, zerrt er mich auf den Flur und schließt leicht knackend das Zimmer auf, das seinem gegenüber liegt. Es wird durch eine brennende Öllampe schummerig erleuchtet und ich erschrecke fürs erste vor einem Gekreuzigten am Galgen. Aha, schießt es mir durch den Kopf, katholisch ist sie! Natürlich weiß ich, dass das ein Kruzifix ist, aber uns Evangelischen ist dieser Anblick wenig vertraut. Es riecht muffig-süßlich nach Petroleum, Lavendel und Rosenöl. Oder schnuppere ich zwischen allem Toska, das Parfüm meiner Mutter? Über einem hölzernen Kastenbett mit hohem Kopfteil, das wie eine Festung wirkt, hängt ein bescheidenes, kleines Regal mit nur wenigen Büchern.
Im Schummerlicht erkenne ich in golden glänzenden Buchstaben „Bibel“ auf einem Buchrücken. Dann „Anna Karenina“ von Tolstoi und eines mit einem schwer auszusprechenden Titel: „Summa theologiae“ von Thomas von Aquin. Und noch eines von Thomas Mann, „Der Zauberberg“. Aber das habe ich noch nicht gelesen. Daneben ein dicker Wälzer in kyrillischer Schrift. Im Buch das Bild des Autors. Ich erkenne ihn. Ein schwarzer Schnurrbart und ein gewaltiger weißer Backenbart. Mir fällt sein Name nicht ein.
„Ist deine Elli Russin?“
„Wie kommst du denn darauf? Die ist eine Deutsche wie du und ich.“
„Hat die mal in Russland gelebt?“
„Weiß ich nicht.“
Teufel, ich bin perplex. So was hätte ich in dieser Kammer am wenigsten vermutet. Auf Willi macht meine Entdeckung keinerlei Eindruck. Er ist ohnehin ein Dösbaddel, wie die Hamburger sagen. Ein richtiger Tollpatsch. Seine Elli ist mit Sicherheit keine Dienstmagd. Ich vermute, die Polizei ist hinter ihr her.
Eine hohe Funktionärin der Kommunistischen Partei könnte sie sein? Alle Führungskräfte der KPD sind in Konzentrationslagern gelandet.
Der dicke Willi amüsiert sich lieber mit einer schneeweißen Monatsbinde, die er über seinen Dickschädel zu zerren versucht, was freilich nicht gelingen kann. Es schaut lustig aus, wenn er bei allem seine Grimassen schneidet.
„Komm, wir müssen! Sie ist schon dabei, die Kühe zu melken.“
„Rutsch, rutsch“ hat mein ‛Bonzo’ die Kammertür wieder verschlossen und rennt nun die Treppen herunter. Im Dämmerlicht des mir unbekannten Hauses, mit seinen engen Treppen, fällt es schwer ihm zu folgen.
Beim Lauf über den Hof höre ich eine kleine Schweineherde, die genüsslich ihr Futter schlabbert.
Bonzo läuft hinüber zum Kuhstall und reißt die Tür derartig temperamentvoll auf, dass jede der 6 Kühe den Kopf zu uns Störenfrieden dreht. Zwischen den Kühen hockt die melkende Elli. Man sieht es ihr an, dass sie ‛Polterjochen’ im Kuhstall verabscheut. Ihre Augen funkeln zornig
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“Wie findest du den Stotterer Witz?“
„Welchen meinst du? Erzähle ihn doch noch mal. Ich vergesse Witze so leicht.“
„Gut. Ein Jahr nach Ende der Schulzeit treffen sich zwei alte Schulfreunde auf der Straße wieder. Der eine ist enttäuscht, dass der andere noch immer stottert.“
„Mensch, wozu gibt es Sprachtherapeuten.“ Sein Freund verspricht einen aufzusuchen. Sechs Monate später begegnen sie sich wieder und der Stotterer empfängt ihn strahlend mit dem bekannten Satz: „Fischers Fritz fischte frische Fische“. Vollständig fehlerfrei.
„Bravo“, sein Freund klatscht in die Hände. Der andere wiegelt ab und sagt: „pp passt aaber nnicht iimmer!“
Ich finde diesen Witz ganz gut. Ach, es ist schon merkwürdig. Bei vielen Witzen geht es ungerechterweise gegen die Mädchen. Bei denen vergeht mir das Lachen. Ich bin Kurt Rübnitz , 14 Jahre alt, das jüngste Kind in der Familie Rübnitz. Ich halte wohl zu viel von den Langhaarigen.
"Bei Witzen, mit Mädchen-Kränkungen, melden sich in mir meine beiden Schwestern “Malu“, Marie-Luise und “Bienchen“, Sabine. Und schon verdampft alle Häme und Schadenfreude.
Aber da fällt mir noch ein Judenwitz ein, den sich die Juden selbst gern erzählen.
Beim Großdeutschen Rundfunk in Hamburg meldet sich ein jüdischer Abiturient in der Hoffnung , dort ein Radiosprecher zu werden. Was er selbst nicht wahrhaben will, er hat einen Aussprachefehler.
Statt Deutschland sagt er immer „Deutschand“. Er wird zum Vorsprechen geladen. Siegesbewusst spricht er vor und wird abgelehnt.
„Weshalb hat man dich nicht genommen?“ wird er gefragt.
„Alles Antisemiten.“
Noch ein Witz!
Jetzt hab ich, der Kurt noch mal den schwarzen Peter. Gedanken fegen mir durchs Gehirn, wie rasende Eisenbahnzüge. Ja, sakra, welchen nehme ich denn nur? Meine Schwäche kenne ich nur allzu gut. So auf Anhieb versagt mein Gedächtnis gern den Dienst.
Hier, vielleicht dieser? Ein harmloser Witz, der ginge halbwegs. Leider auch wieder so ein doofer vom Schwein. Beileibe keiner meiner Knüller. Ach, wenn mir jetzt doch nur ein einziger davon in den Sinn käme!
“Die Mutter fragt ihre Tochter, weshalb legst du dem Onkel Hugo kein Gedeck auf?“
“Na, du hast doch selber gesagt, Onkel Hugo frisst wie ein Schwein.“
“Ha, ha, einen besseren hast du wohl nicht auf der Pfanne, was?“
Der gleichaltrige Samuel Wieser, „Sami“, wie ihn seine Freunde nennen, findet den Kurt eigentlich ganz in Ordnung. Er ist froh ihn gefunden zu haben, nach der Umsiedlung. In seiner Gegenwart fühlt er sich sauwohl. Ihr Zusammensein gibt ihm auch eine Menge und, was wichtig ist, ihre Interessen decken sich.
Aber klar: Kurt ist nicht in Hamburg aufgewachsen. Das merkt man. Da fehlt eine Menge. Nicht nur der hamburgische Dialekt. Aber das Fehlen des nordelbischen Singsangs empfindet Sami nicht als Manko.
Nein, diesem ’Provinzler’ fehlt vielmehr diese gespielte Gleichgültigkeit seiner Hamburger Altersgenossen und deren humorvolle Rotzigkeit.
Hamburg! Mensch, mein Hamburg! Hamburg kann man nicht einfach so erklären. Hamburg ist eben ganz anders, als hier in der Heide.
Wenn ich an Hamburg denke, sehe ich vor mir die vielen tuckernden, laut tutenden Schlepper, Kähne und Schiffsriesen. Ganz viele, hohe stählerne Kräne am Kai. Umflogen von Möwen, diesen Kunstfliegern, die jedermann bewundert.
Und ich sehe vor mir hübsche Mädchenbeine, die zu kichernden, blonden Wesen gehören, die fröhlich durch tiefe Häuserschluchten flanieren und nach überall Ausschau halten.
Und ich rieche das Meer. Aber auch den Qualm der vielen Schornsteine und den Dieselgestank. Ich sehe blaue Matrosen aus aller Welt, die nicht selten, auf sehr wackeligen Beinen, ihre gesamte blaue Existenz mit Mädchen, Schnaps und Bier vervollständigen.
Aber besonders wir Jugendlichen sind wohl aus einem anderen Holz geschnitzt. In Barmbek ist Klauen zurzeit ein angesagtes Spielchen. Aber nicht nur Essbares wird geklaut, nein, in Kaufhäusern geht es manchmal richtig zur Sache: Klamotten, Uhren, Schmuck, Taschenmesser, sogar Fotoapparate sind für uns ein begehrtes „Klaugut“.
Ich sehe noch Kurts ängstliche Hasenaugen vor mir. Wie die Pupillen immer größer werden, als ich ihm vom Klauen erzähle. Natürlich gibt’s eins drauf, wenn man erwischt wird, aber trotzdem: der Kurt ist ein ganz schönes Weichei. Tut mir leid, aber das muss gesagt werden. Anscheinend fehlen ihm