Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster
ist mit 20 Tausend RM verdammt preiswert.
Ich würde sie sehr gern behalten. Einen aufregenderen Spielplatz kann man sich kaum vorstellen. Die großen reflektierenden Glasflächen, irgendwie erinnern sie mich an unsere Binnenalster, sogar ans Meer, wenn es mal vergessen hat, zu toben.
Mutter schaut dreimal täglich nach dem Briefträger. Sie kann es nicht lassen. Wie mich das aufregt. Nach Möglichkeit geht sie ihm sogar entgegen. Mutter kann sich eben in Rottlingen nicht eingewöhnen.
Jedes Mal dann die gleiche Enttäuschung. Keine Post, kein Kaufinteressent, niemand will die Gärtnerei haben. Seit einem viertel Jahr verkommt das Gelände langsam, aber stetig. Das Unkraut wächst hier und dort und überall, dass es nur so eine Art hat.
Durch die Schilder:
Achtung Selbstschüsse.
Betreten strengstens verboten!!
an der Hannoverschen Landstraße und an der Feldstraße, traut sich tatsächlich niemand auf das Gelände. Nur Kurt, der Stenz und da finde ich ihn toll, der glaubt nicht an Selbstschüsse. Vom Fenster seines Kinderzimmers kann er die ganze Gärtnerei überblicken.
“Sami, wenn die nach dem Tode deines Opas Selbstschüsse eingebaut hätten, das hätte ich mitbekommen.“ Kurt kennt sich aus in der Gärtnerei. Wie in seinem Kinderzimmer.
Schon als kleines Kind hat er sich hier getummelt. Beim schnurrigen Gärtner Wiese, der seine erdigen Hände so gern am eigenen Hosenboden abwischte und uns damit klarmachte, wie liebenswert ihm jeglicher Mutterboden war.
Für das kleine Kurtchen gehörte es zu seinen ersten beglückenden Fähigkeiten, gelernt zu haben, stets saubere Hände vorweisen zu können. Schwupp, schwupp, er wischte den Dreck gleichfalls an der Spielhose ab. Mutter hatte unglücklicherweise andere Vorstellungen von kindlicher Reinlichkeit und es gab Ärger. Bei allem Hin und Her, Kurt entwickelte sich in dieser Gärtnerei zum Blumen- und Pflanzennarr.
Wer in einer Großstadt aufgewachsen ist, hat in der Regel wenig Ahnung von alledem, was da wächst und rumkriecht. In dieser Beziehung kann ich viel von Kurt lernen. Ich bin so froh, dass es funktioniert hat. Seit einer Woche bin ich in Kurts Klasse. In der 4a des Paul von Hindenburg-Gymnasiums. Anfänglich war ich in seiner Nebenklasse gelandet.
Wenn man in seiner Schulklasse nicht einen einzigen kennt, ist das ganz schön doof. Kurt hat noch drei Geschwister. Diese „Malu“, wie sie in der Familie genannt wird, ist ein ganz steiler Zahn. Zwei Jahre älter, klar, die schaut mich nicht mal mit ihrem schönen Hintern an.
Für die würde ich alles tun. Auf diese Art Mädel stehe ich. Sie ist genau das, was den Sohn meines Vaters um seinen bisschen Verstand bringen könnte.
Blond, blaue Augen und dabei selbstbewusst bis zum ’Geht-nicht-weiter’. Marie-Luise ist bereits eine hochrangige Jungmädelführerin. Irgendwas mit „Ring“. Ich glaube „Jungring, eine Jungmädel-Ringführerin. So jetzt hab ich es! Ich würde auch liebend gern in der Hitlerjugend sein. Mutter will davon nichts wissen.
„Du bist ein Jude“, hat sie zu mir gesagt. „Juden haben in der HJ nichts zu suchen.“ „Wieso?“, hab ich geantwortet. „Wenn man aber von der HJ begeistert ist?“
„Immer erst mal schön nachdenken, ehe man seinen Mund aufmacht“, hat sie mich wütend angefahren. Und sie hat vollkommen Recht.
Im Grunde genommen weiß ich es ja. Von wegen Hass auf Juden, usw. Kurt ist auch in der HJ. Aber im Gegensatz zu seiner übrigen Familie, kann er, wie er mir gestanden hat, der ganzen NS- Bewegung nicht viel Spaß abgewinnen. Kurt ist Individualist. Aufmärsche hasst er; ist eben kein Massenmensch.
Im mittleren, trostlos leeren Gewächshause wollen wir morgen, gleich zu Anfang der langen Ferien beginnen, das dortige 6x2 Meter lange Bassin wieder ganz zu füllen. Ein einziger dicker Goldfisch hat dort überlebt, aber nur, weil Kurt ihn von Zeit zu Zeit fütterte. „Jonas“, hat er ihn getauft. Hat wohl an diesen Menschen in der Bibel gedacht, der von einem Walfisch verschlungen wurde.
“Wenn wir das Bassin prima säubern und schrubben, wir können darin zackig baden, wenn es heiß ist. Für den Goldfisch finden wir vorübergehend auch ne andere Bleibe.“
Kurt hat Recht, aber wer fängt den Jonas? Einfach mit den Händen schnappen, das glitschige Ding, ich könnte es nicht. Der ist so lang wie ein ausgewachsener Hering.
Was glaubst du, wie so ein ’Löke’ zappeln kann.
Kurt ist ein netter Kumpel, wie es aussieht, aber noch kenne ich ihn zu wenig. Mit seinen vielen Sommersprossen auf der Nase erinnert er mich an Eddi, meinen alten Klassenkameraden, der als Sextaner Regenwürmer vor unseren Augen verdrückte und sich somit unsere Hochachtung verschaffte.
“Du Sami, ich hab eine Idee. Ich habe so oft deinen Opa beobachtet, wie er mit diesem Ding, mit dem Lagerhaus dort hinten telefoniert hat. Er hat an dieser Kurbel gedreht und dann konnte man es dort drüben klingeln hören.“
“Na klar, dieser alte Kasten ist ein altes Feldtelefon. Mit dem Drehen der Kurbel erzeugst du den nötigen Strom zum Telefonieren. Aber was willst du mit ihm anstellen?“
“Wenn wir das andere Feldtelefon zu uns verlagern, in mein Zimmer in der Feldstraße, und die Strippe nach dort verlegen, dann könnten wir Tag und Nacht miteinander telefonieren.“
“Kurt, du hast Ideen. Toll, das machen wir auf jeden Fall.
Nur, hast du gesehen, das Lagerhaus ist fest verrammelt. Mutter hat bislang keinen Schlüssel gefunden. Sie will es aufbrechen lassen.“
“Soll ich mal was Kluges sagen?“
“Na. bitte!“
“ Nie verzagen, Kurtchen fragen!“
“Was denn, du Dichter, weißt du etwa wo ein Schlüssel liegt?“
Die beiden hatten gemütlich in der Sonne, auf der Bank vor dem Gewächshaus „A“ gesessen. Jetzt rennen sie quer durch die Gärtnerei, hinüber zum Lagerhaus mit den Viehställen, das sich am Ende des handtuchförmigen Betriebes befindet.
Das große Scheunentor des Lagerhauses ist durch einen schweren Eisenriegel gegen unerlaubtes Eindringen geschützt. Ein goldfarbenes schweres Vorhängeschloss grinst die beiden triumphierend an.
Kurt hat sich auf eine derbe Holzkiste gestellt und steckt nun seinen rechten Arm tief durch eine Art Loch, das von den Fachwerkbalken rechts oberhalb des Tores gebildet wird und zaubert nach langem Herumfingern einen schmalen Schlüssel ans Tageslicht.
“Das ist er! Verdammte Vogelscheiße!“
Triumphierend hält er Sami den Schlüssel unter die Nase und versucht den frischen Vogeldreck vom Ärmel herunter zu kriegen.
Sami kann die Schadenfreude nur schwer unterdrücken.
“Kurt, du bist ein richtiger Tausendsassa.“
Sami schließt das große Vorhängeschloss auf und legt es zur Seite.
Er hebt den schweren Eisenriegel aus seinen Verankerungen und öffnet das Scheunentor.
Beide Blicke fallen in ein großes Lagerhaus, in dem sich neben vielem Gemöcks, Bodenfräsen und anderem Ackergerät, auch ein gummibereifter Pferdewagen und ein uralter Pferdeschlitten findet.
“Das muss ich unbedingt meiner Mutter zeigen.“
Sami läuft auf flinken Beinen hinüber zum Gärtnerhaus, das er mit seiner Mutter seit wenigen Tagen bewohnt.
Kurt hat die Vorbesitzer der Gärtnerei, die Wiesers, noch lebendig vor Augen. Von seinem Zimmer aus, beobachtete er schon als kleines Kind zu gern diesen geschäftigen Betrieb da unten, sofern er nicht selbst dazwischen herumlief.
Frau Wieser war eigentlich die Seele des Betriebes. Wenn sie auf schlanken Beinen zwischen den Frühbeeten und Gewächshäusern herumwirbelte, dann stimmte die Richtung.
Alle mochten sie und jedermann arbeitet gern mit ihr zusammen. Ihr Mann wirkte eher wie ihr Angestellter