Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster

Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf, Dr. Küster


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kleine Kurt auf dem Rücken dieses lammfrommen Pferdes und ritt stolz mit, wenn Frau Wieser zum Blumenmarkt fuhr und dort unter anderem Alpenveilchen, Primeln und Geranien verkaufte. Neben Schnittblumen, Obst und Gemüse.

      Frau Ester Wieser nähert sich neugierig, mit langen, unsicheren Schritten der Lagerhalle. Eine ansehnliche Frau mit vollem schwarzem Haar. Eine Frau um die Fünfzig.

      Kurt Rübnitz hatte sie bislang noch nicht gesehen. Er ist sofort angetan, von dieser gepflegten Frau, mit so einem ehrlichen, freundlichen Blick.

      “So, dann bist du also der Kurt Rübnitz! Samuel hat viel von dir erzählt. Ist doch schön, dass du so nahe wohnst. Wenn dein Vater Frauenarzt ist, dann weiß ich jedenfalls in Zukunft, wo ich hinzugehen habe.“

      “Er würde sich freuen, bestimmt.“

      Kurt Rübnitz weiß schon eine Menge über diese Frau.

      Sami hat gleich, nachdem er sein Zimmer im Gärtnerhaus bezogen hatte, intensiv im Jugendzimmer seines Vaters nach einem Geheimfach gesucht, von dem sein Vater vor Jahren mal gesprochen hatte.

      Sami hatte Glück und wohl auch die richtige Nase. Eine Diele unter seinem Bett ließ sich hochheben, was man ihr aber von außen nicht ansehen konnte.

      Er fand in diesem Geheimfach eine Menge schwärmerischer Liebesbriefe aber auch einen sehr wichtigen Brief von dieser Frau. Von Samis Mutter, die jetzt vor ihm stand. Dieser Brief ließ einen verstehen, weshalb Bernhard Wieser, der Vater von Sami, sein Elternhaus für immer verließ.

      Sami hatte ihm gestern diesen schicksalsschweren Brief vorgelesen.

      „Wir müssen uns trennen“, war die Kernaussage.

      Wörtlich: „Dein Vater hat mich, hinter meinem Rücken, wiederholt als „die Judenschlampe“ bezeichnet. Wie kann ich dauerhaft in einer Familie leben, in der ich grundlos, derartig beleidigt werde.“

      Als er das hörte, änderte Kurt Rübnitz schlagartig seine Meinung über den „Alten Wieser“. Ein überzeugter Nationalsozialist war der schon immer. Das wusste hier jeder.

      Bei Wiesers wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine lange, ehrerbietende Hakenkreuzfahne an der Stirnseite des Gärtnerhauses gehisst.

      Rübnitzens begnügten sich, wie die meisten, mit einer Fahne, so groß wie ein Handtuch.

      Der alte Wieser, Hermann hieß er mit Vornamen, war ja auch ihr „Zellenleiter der NSDAP“, der den Bezirk Hannoversche Landstraße, Feldstraße und Berliner Straße umfasste. Hermann Wieser organisierte, dass jeder Haushalt seiner Zelle, regelmäßig Propaganda- Nachrichten erhielt. Kurt hatte in seinem Auftrag auch schon diese Zettel verteilt und sogar seinen Spaß dabeigehabt. Nach allem was er jetzt erfahren hatte, würde er dem Zellenleiter keinen Gefallen mehr tun.

      Wie kann man bei solch einer sympathischen Frau von einer ’Schlampe’ reden? Kurt kann das nicht begreifen. Aber es gibt eben in Deutschland Menschen, die Juden irrsinnig hassen. Wie viele es sind, ist schwer zu sagen. Sicherlich mehr als man denkt.

      Ein herrlicher Sonnenaufgang im August begrüßt die jungen Schläfer. Aber Kurt und Sami verpennen alles. Heute starten sie überglücklich in ihre Sommerferien.

      “Mensch Sami, du hast es gut. du musst dich jedenfalls nicht übers Zeugnis ärgern.“

      “Ich hab auch eins. Mein Zeugnis liegt im Kaiser- Wilhelm-Gymnasium in Hamburg-Barmbek, ich muss es nur anfordern. Vielleicht tue ich’s sogar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es schlecht ist. Nur ’Latein’, da drohte mir zuletzt, ein schwaches ’ausreichend’. Ansonsten zu allen Zeiten viele ‚gute’ Noten.“

      “Toll, bei mir sieht das trüber aus. Genau wie dies Wasser, das wir jetzt so schön aufgewirbelt haben.“

      Das ist ein „Hallo“, bis der Kurt endlich seinen Jonas in den Händen hält. Und der Fisch zappelt, dass es eine reine Freude ist.

      “Immer die Hand davor“, hatte Sami gebrüllt, „Fische schwimmen nicht rückwärts.“

      Der Schlamm im Bassin liegt knöcheltief. In 30 Jahren ist hier bestimmt nie entschlammt worden. Mit den Eimern haben wir versucht, vom trüben Wasser so viel wie möglich auszuschöpfen. Nun amüsieren wir uns mit dem modderigen, schwarzen Schlamm, den wir mit kleinen Schaufeln in die Eimer schlickern.

      „Da!“ Irgendetwas blinkte im Wasser auf. Kurt versucht es im Eimer zu angeln.

      “Sami, schau draußen bitte mal genau nach, ich hab eben was in den Eimer geschaufelt. Es hat geblinkt.“

      Abwechselnd tragen sie die gefüllten Eimer auf einen Komposthaufen in der Nähe des Gewächshauses. Ein eingespieltes Team.

      Samis Rückkehr hat länger gedauert als gewohnt. Sami kommt und sieht blass aus. „Das ist doch ein Finger. oder?“

      Sichtlich angewidert hält er dem staunenden Kurt ein 3 gliedriges, zartes Knochengebilde vors Gesicht und legt es auf den Rand des Bassins.

      „Und dies hier ist dein ‛Blinker’.“

      In seiner flachen Rechten präsentiert er einen typischen Siegelring, wie ihn eitle Männer zu tragen pflegen.

      “Mensch, die gehören doch wohl zusammen? Oder was glaubst du, Sami?“

      „Klar, kleiner Finger mit Ring. Kannst du entziffern, was darauf steht?“

      “Jedenfalls ein großes R und ein T. Aber sieh mal hier, das T sieht aus wie ein Hammer und das R ist eine …? Wie nennt man diese Dinger, mit denen die kleinen Leute ihr Gras mähen, ich komme im Moment nicht drauf?“

      “Sichel.“

      “Na klar, Hammer und Sichel. Das ist das Zeichen der Kommunisten, die Sowjetunion hat’s in ihrer roten Fahne.“

      “Du hast Recht, jetzt sehe ich’s auch.“

      Die beiden spüren das ganze Grauen dieser Szene. Mit klopfenden Herzen steigen sie aus dem Wasser. Wer weiß schon, was sich noch alles im Schlamm finden könnte.

      Der skelettierte Finger macht ihnen Angst.

      “Du, der Finger wurde bestimmt abgehackt.“

      Tatsächlich findet sich eine beschädigte, glatte Knochenfläche am Grundglied des Fingers

      “Frag doch mal deinen Jonas, woher dieser Finger stammt. Er war doch dabei, er muss es schließlich mitgekriegt haben.“

      “Du Sami, da fällt mir was ein.

      Das war im vorigen Jahr, kurz nach meinem Geburtstag. Also Anfang September, an einem Sonntagmorgen. Ich gucke aus meinem Zimmer und denke, was ist denn da los? Ich sehe, wie in der Hannoverschen Landstraße ein Opel Laster, mit 5 oder 6 grölenden SA-Leuten, einen PKW verfolgt.

      Ich denke noch, die kriegen den nie. Der PKW ist doch viel schneller Da fährt ein zweiter, unbemannter Lastwagen den beiden Autos entgegen. Der muss wohl aus der Feldstraße gekommen sein.

      Vor der Gärtnerei Wieser, genau hier, stellt der Laster sich quer.

      Aus dem gejagten PKW sehe ich einen gut gekleideten Herrn im mittleren Alter aussteigen und in die Gärtnerei flüchten. In dieses Gewächshaus. Die SA-Männer hinter ihm her.

      Was dann hier im Gewächshaus abläuft, kann ich oben vom Fenster nicht richtig erkennen. Die Glasscheiben spiegeln.

      Aber sehr ruppig müssen die SA-Leute mit ihm umgegangen sein. Ich konnte aus dem ganzen Gebrüll seine ängstlichen Schreie heraushören. Als ich dann endlich den Herrn Wieser sah, wie er ins Gewächshaus lief, war ich etwas beruhigt.

      Gott sei Dank, Schüsse habe ich nicht gehört. Aber den Verfolgten später auch nicht mehr gesehen. Allerdings habe ich etwas von ihm, dessen Bedeutung ich selbst erst noch erkunden muss. Ich zeig’s dir nachher mal.

      Mutter hatte mehrfach zum Mittagessen gerufen, also ging ich klopfenden Herzens ins Esszimmer, denn in der Gärtnerei war endlich Ruhe eingekehrt.

      Natürlich


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