Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
Göttin, Besenthal. Meine letzten ›West-Orte‹ tragen marketingtaugliche Namen. Ich selbst tauge zu nicht mehr viel, merke im Steilstück hinauf nach Göttin, wie sehr mir knapp hundert Kilometer in den Beinen stecken. Dann ist die Straße hinüber nach Besenthal auch noch ungehobelt und schmutzig. Und: Ich bekomme meine erste Breitseite. Regenböen von schräg vorn vergällen mir auf nicht endender Geraden die letzten Kilometer vor Mecklenburg. Hinter der mit Wasser und Dreck besprenkelten Brille übersehe ich fast den Pfahl in Deutschlandfarben. Er hat das DDR-Signum und ist ein hübsches Museumsstück, das an hässliche Geschichte erinnert. Im Schutz alter Eichen lasse ich den Schauer vorüber, einen Unterstand gibt es an der Anlage des Freiluftmuseums nicht.
Ich lehne mein Rad an die Umzäunung und nehme die makabre Parade der Exponate ab, beginnend auf der einst dem ›Imperialismus‹ zugewandten Seite: Streckmetallzaun 3,20 Meter mit Selbstschussanlage. Bunkerartiger Unterstand für zwei Grenzsoldaten. Stahlseilverspannung als Hundelaufanlage. Grenzsignalzaun 2,40 Meter, montiert auf tief sitzenden Betongitterwaben und unter Strom gesetzt. Laut Infotafel gab es entlang der innerdeutschen Grenze rund viertausend Kilometer Aluminiumkabel – rund das Dreifache der Grenzlänge. Fürs Museum haben die Macher jene Sicherungsanlagen, die sich einst auf einer Breite von zig hundert Meter verteilten, auf kleinem Areal verdichtet.
Allzu oft wird das Grenzmuseum dem intakten Gras ums Areal zufolge nicht besucht. Beliebter scheinen Grenzerlebnisse anderer Art zu sein. Einen Steinwurf entfernt vom Museum haben Anwohner am Stamm einer Eiche einen laminierten Ausdruck angenagelt, der in blauen Serifen fleht ›Liebe Brunftbeobachter, bitte überlasst das Grölen den Hirschen! Hier wohnen nämlich brave Menschen, die schlafen möchten.‹ Hundert Meter weiter entlang der Straße findet sich eine Straßenkasse. Dort darf man 3 Euro einwerfen für ›Mittsommernacht 2018 – den Honig aus dem heißesten Sommer seit Menschengedenken‹.
Ich möchte nichts mehr am Ende des ersten Fahrtags. Bis zur Unterkunft fehlen wenige Minuten, dann werde ich die Beine hochlegen. Oder doch nicht?
Gartenschläger, Ossibäcker, Elbfischer
In Radschuhen und greller Plastikkluft pirsche ich durch den matschigen Wald westlich von Leisterförde. Bis 1989 war Pirsch hier Alltag für die Soldaten an der DDR-Grenze. Im April 1976 war jedoch ein Sonderkommando bei Leisterförde unterwegs: Stasi-Scharfschützen, die außer ihren Gewehren den Schlüssel für eine Tür im Grenzzaun dabeihatten. Sie legten sich auf ›BRD‹-Seite tagelang auf die Lauer. Am letzten Apriltag erfüllten sie ihre Mission. Die Scharfschützen erschossen Michael Gartenschläger, einen Mann, der die DDR mehr hasste als er sein eigenes Leben liebte. Wo und wie er sich an der Grenze zwischen Holstein und Mecklenburg zu schaffen machte, soll mir das Gartenschläger-Eck verraten. Deswegen bin ich am Ende des ersten Fahrtags noch einmal in den Wald gestapft.
Vor dem Wald steht der Pilz. Er besteht aus zwei Metern Eisenstiel plus rostigem Blechhut und ist einziges Relikt der Grenzkompanie bei Leisterförde. Pilz nannten ihn die Wachsoldaten, die unter seinem Hut Schutz fanden vor Regen und Schnee. Pilz heißt er noch heute, sagen meine Gastleute, die mir einen Besuch empfehlen. Am Stiel gebe es eine Infotafel zur Grenze. Auch wenn es einige Kilometer entfernt ist: Auf dem Rad abends die Beine auslockern, ohne Gepäck, kommt mir zupass.
Die Kaserne, erfahre ich am Pilz, steht seit 2007 nicht mehr. Der Grenzalltag war stressig, behauptet die Infotafel. »Über Michael Gartenschläger haben sie kein Wort geschrieben« spricht mich von hinten ein Mann an, Spaziergänger anscheinend. Ich frage nach diesem Gartenschläger. Der Mann sagt nur »ein Opfer des Regimes« und dass ich doch den alten Kolonnenweg bis zum Gartenschläger-Eck gehen möge, um mehr zu erfahren. Er geht weiter und lässt mich ratlos zurück.
Was fange ich an mit diesem halbgaren Hinweis? Wo verlief denn genau die Grenze? Wie weit ist wohl dieses Eck? Warum soll ich dieser Geschichte nachgehen, wo ich doch nach dem Fahrtag müde und erschöpft bin. War nicht mein Plan, mit meinen Kräften hauszuhalten, um sie nicht frühzeitig zu verschleißen?
Ein toller Reporter bist du, sehr solide. Hast dir da ein schönes Korsett von Terminen verpasst für deine Länderfahrt. Wie ein Briefmarkensammler hast du dich monatelang gefreut, wenn du Lücken in deinem Rechercheplan mit hübschen Marken füllen durftest: ein Örtchen hier, ein Menschlein dort. Wie kleingeistig ist das denn? Jetzt stehst du hier wie ein Tourist, der sich bloß nicht überanstrengen will. Wenn es dich schon am ersten Tag überfordert, einer Spur nachzugehen ohne sicher zu sein, ob das in dein Markenalbum passt, dann lass die Reise lieber bleiben.
Eine Weile stehe ich noch unschlüssig am Pilz, stiere auf die Fichten des alten Kasernenareals und finde es in Ordnung, mal eben online zu schauen: Grenzverlauf Mecklenburg-Holstein, ja, es gibt einen deutlichen Grenzknick. Ich kalkuliere eine halbe Fußstunde und fahre zum alten Wald westlich hinter Leisterförde. ›Wölfe suchen auch in diesem Gebiet nach Beute‹ sagt das Schild am Baum, wo ich mein Rad parke. Der Pfad, dem ich danach folge, gehört keinen Zweibeinern: Ein Trupp Wildschweine rast auf mich zu. Die Bache erschrickt offenbar ebenso wie ich, lenkt ihr Gefolge drei Meter vor mir abrupt ins Dickicht. Mein Herz klopft stärker als am Holsteinhügel nach Schramms Hof, wo das Schwein in Grün posiert.
Mitten im vermoosten Wald stoße ich auf Mauerreste, überwuchert von Gebüsch und jungen Bäumen. Hier stand der Hof Wendisch Lieps, erfahre ich am Gedenkstein. Zwei Jahre nach Mauerbau wurde der Hof ›beseitigt‹ – wie zahllose Siedlungen nahe der Grenze, deren Bewohner dem DDR-Regime als ideologisch unzuverlässiges Ungeziefer galt. ›Aktion Ungeziefer‹ war der Deckname fürs ideologische Reinemachen an der Grenze.
Ums einstige Hofareal buscht sich Unterholz auf. Während ich mich weitertappend darüber ärgere, dass mir Ranken die Radhose zerfasern, habe ich den Rand des alten Waldes erreicht. Junge Kiefern stehen vor mir, dicht gepflanzt in Reih und Glied. Hier war der Todesstreifen. Mulmigen Gefühls tappe ich im Slalom gen Westen. Mulmig ist mir, weil entlang der einstigen innerdeutschen Grenze noch zehntausende Landminen herumliegen sollen. Durch ein Kieferndickicht mit Friedhofsstimmung komme ich zum Grenz-Eck. Die Grenze knickt hier von West auf Süd, was eine Ecke in Richtung Holstein exponiert. Hier machte sich Michael Gartenschläger zweimal am Zaun zu schaffen. Beim dritten Mal wurde er erschossen. Woran der westdeutsche Bundesgrenzschutz nicht unschuldig war.
Gartenschläger stammt aus Brandenburg, war bei Protesten gegen den Mauerbau im Alter von 17 Jahren festgenommen und in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Mit 27 Jahren kaufte ihn die Bundesrepublik frei, er ließ sich in Hamburg nieder, mit dem Auto keine Stunde entfernt von dem Waldstück, in dem ich stehe. Im Jahr 1976, Gartenschläger war inzwischen 32 Jahre alt und sein Hass auf das Ostregime ungebrochen, erdachte er eine Racheaktion. Er wollte der Welt vor Augen führen, dass an der Grenze tatsächlich Selbstschussanlagen montiert waren – beständig geleugnet von der DDR. Im März demontierte er das erste Gerät und verkaufte es an den Spiegel; im April das zweite. Seine Umtriebe stießen auf Unmut beim westdeutschen Grenzschutz. Der informierte über Funk alle Bundesgrenzer der Gegend über Gartenschlägers Aktionen mit der Anweisung, ihn von der Westseite her abzupassen – zumal in Holstein ein gerichtlicher Bescheid wegen Waffenbesitzes gegen ihn vorlag. Ostdeutsche Grenzer hörten den Funk der Westdeutschen mit und alarmierten die Staatssicherheit. Die schickte ihr Spezialkommando.
Wer am 30. April 1976 zuerst schoss, konnte nie aufgeklärt werden. Fakt ist: In der Nacht zum 1. Mai starb Gartenschläger an Treffern in Herz und andere Organe. Die Stasi nahm ihn mit und ließ ihn zehn Tage später als ›unbekannte Wasserleiche‹ auf dem Schweriner Waldfriedhof einäschern. Von der Grabstelle erfuhren Familie und Freunde erst nach der Wende.
Wo das Grenz-Eck westlich in den Wald zeigt, treffe ich auf die Gedenkstätte: Original-Grenzpfosten, ein Stück Grenzzaun, ein mannshohes massives Holzkreuz, in hellem Blech ummantelt. Auf einem Felsbrocken ist zu lesen, das Sonderkommando bedachte Gartenschläger mit einhundertzwanzig Schüssen. Am Zaunstück hat die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. eine Selbstschussanlage montiert. Angesichts ihrer Primitivität wirkt sie besonders perfide: In einen zigarrengroßen Zündzylinder münden Spanndrähte, die entlang des Zauns laufen. Auf dem anderen Zylinderende steckt ein Metalltrichter – man könnte es für eine Kinder-Flüstertüte halten. Werden die 120 Gramm TNT im Zylinder elektromechanisch gezündet, zerfetzen