Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
die Kriegsfürsten nicht, sondern möglichst rasch die Waffen sprechen lassen. Unter dieser Hau-drauf-Mentalität leidet noch unsere Kultur, so die Meinung von Heinrich August Winkler. ›Diese Art von politischer Debatte im Geiste der Religionskriege ist ein Stück der deutschen Pathologie‹ sagte er in einem Interview mit der Welt am Sonntag.
Anders als Tilly und Wallenstein, die ohne großen Widerstand vorankamen, kämpfe ich hier und heute vergeblich gegen Böen, die mich manchmal fast zum Stillstand bringen. Ich verlasse den Elbdeich, verlege meine Route auf kleine Fahrwege – fast zu klein hinter Artlenburg, wo ich mich über einen Ackerweg quäle. Danach offeriert die Elbmarsch herrlichstes Radrevier: Baumgruppen, unzählige Kanalbrücken, die Route ist schick und kurvig.
Kilometer 49, ich bin hungrig, erreiche die ›Milch Tankstellen‹. Es gibt eine Abfülleinrichtung sowie einen Automaten, bestückt mit Feststoffen. Aber Fehlanzeige: Es wird dringend geraten, die Rohmilch vorher abzukochen, und über ungekochte Eier oder rohes Fleisch würde ich mich, wie ich jetzt weiß, erst auf Etappe 14 meiner Deutschlandfahrt hermachen, als ich in Franken vor Hunger fast vom Rad kippe.
Hoffnung schöpfe ich einen Kilometer weiter, in Hunden, ein Hofcafé naht. Puuuhh, öffnet erst 14 Uhr, da wünschte ich mir die Berliner Stutenmilch, die mir gestern stundenweise schmelzenden Nachschub lieferte. Heute ist Tag zwei und schon muss ich an meine Notreserven, lehne das Rad ans Holzgerüst mit der Café-Werbung. Tief grabe ich die Packtasche um, auf der Suche nach den geheiligten Kohlenhydraten. Es ist zum Verzweifeln, wo sind die denn? – So, alles rausgezerrt aus der Tasche!
Du solltest mehr Sorgfalt walten lassen. Warum hast du dich denn überhaupt auf so wenig Packplatz versteift?
Ständig fehlt es dir an Proviant.
Jetzt weiß ich das auch. Konnte ich ahnen, dass es so schwierig sein würde, auf dem Land an Futter zu kommen? Langsam verlier ich die Geduld – autsch, mein Daumen! Von Blut rötet sich der Nagel. Dass der Packsack innen dieses scharfe Ende aus Plastik hat… . Aber muss mich das weiter aus der Ruhe bringen? – »Alles gut?« Eine Radfahrerin hat neben mir gehalten. Ob ich eine Panne hätte. Alles okay, sage ich, meinen Krempel wieder einpackend. Ich rede mir die Stimmung wieder schön und erzähle der Frau, wie gut mir die offene Naturlandschaft gefällt.
Von wegen Naturlandschaft, da sei ich aber auf dem Holzweg. Ich durchfahre, erklärt mir die Radfahrerin, seit Kilometern das Gebiet einer menschengemachten CO2-Katastrophe. »Das kommt daher, weil aus Natur- Kulturlandschaft wurde. Die moderne Industrie und Verbrennungsmotoren haben damit erst einmal nichts zu tun.« Vor Generationen wurden die Sümpfe der Elbmarsch trockengelegt, um Acker- und Weideland zu gewinnen. Mit dem abgeflossenen Wasser entschwand sozusagen die Schutzflüssigkeit, sagt die Frau, Geochemikerin am Helmholtz-Zentrum Geesthacht. Wasser schütze davor, dass Sauerstoff auf den Kohlenstoff der Pflanzen einwirkt. »Pflanzenreste plus Sauerstoff ergeben Kohlendioxid, lautet die Faustformel. Überall auf der Welt, wo Feuchtgebiete entwässert werden, bildet sich so aus dem Boden massenhaft Treibhausgas.« Man begreife erst jetzt das Ausmaß, mit dem das so entstandene CO2 den Klimawandel befeuert hat.
Mit dem Wind saust die Geochemikerin gen Osten, gegen den Wind kämpfe ich mich westlich durch das letzte Stück der ›Samtgemeinde Marschland‹. In Zeitlupe nur rückt der Elbdeich näher. Die Orte nebendran verhöhnen meinen Endspurt zur Fähre: Laßrönne! Haue! In Hoopte erwische ich die Fähre Sekunden, bevor sie ablegt, gelange binnen Minuten über die Elbe, ins vierte Bundesland.
Die 24 Orte markieren den Start zu den 24 Radetappen durch alle Länder. Geographische Extrempunkte auf der Gesamtdistanz von 2451 Kilometern: West – Niedergailbach (nahe 11), Süd – Beuren/Hechingen (südlich von 14), Ost – in Berlin (22), Nord – Barkau (nördlich von 1). GPS-Tracks zugänglich unter www.tinyurl.com/alle16d
Apfelerbe, Knappmannsdörfer, Lagerstätten
Die teuerste Pflanze Deutschlands wächst in Hamburg und heißt Schierlings-Wasserfenchel. Einige wachsen noch an Elbufern – unverkäuflich natürlich! Die gut 50000 Euro pro Wasserfenchel errechnen sich nach Kosten zur Arterhaltung: rund zehn Millionen Euro für etwa zweihundert Exemplare. Das Geld fließt in Verbauungen und Pflanzungen, die die Stadt wegen der Elbvertiefung durchführt. Unweit des Anlegers, wo ich von der Fähre rolle, soll dieser Fenchel noch natürlich wachsen, heißt es. Nicht jedoch diese, sondern andere botanische Raritäten locken mich in den Südzipfel Hamburgs. Ich komme wegen 31 Obstbäumen, die Angelika und Walter Melau anpflanzten. Das Ehepaar vermachte der Nachwelt unter anderen ›Kaiser Wilhelm‹, ›Ruhm von Kirchwerder‹ und ›Wohlschmecker von Vierlanden‹. Die Obstsetzlinge dazu kauften die beiden nach mehrjähriger Recherche und pflanzten sie 2012 entlang eines Ackerwegs.
Der Weg ist für Unkundige schwer zu finden, kein Schild weist die Route zum Apfelvermächtnis der Melaus. Vom Anleger folge ich der Elbe, fahre durch eines von drei Dutzend Naturschutzgebieten im Stadtstaat; zehn Prozent Hamburgs stehen zumindest dem Papier nach unter Schutz. Über die Deichvogt-Peters-Straße gelange ich, weg vom großen Fluss, zur winzigen Kraueler Elbe. Hinter Hausnummer 41 trage ich kurz das Rad über eine matschige Stelle und rolle auf einen Plattenweg. Linkerhand stehen die Bäume der Melaus: ›Dithmarscher Paradies‹ lese ich am Ersten auf einem selbst gemachten Holztäfelchen. Es schließt sich der ›Schöne von Nordhausen‹ an, bald gefolgt vom ›Finkenwerder Herbstprinz‹. Auch eine Cydonia-Quitte und zwei ›Hauszwetschen‹, ohne ›g‹ geschrieben, stehen Spalier. Zuletzt in der Reihe trumpfen ›Bürgermeister‹ und ›Kochbirne‹ auf – zwei angestammte Baumriesen des Hof Eggers. Dort endet die Obstreihe und beginnt mein Treffen.
Verabredet sind wir im Hofcafé, junger Spross einer alteingesessenen Bauernfamilie. Kontakt zum Hof haben die Melaus seit einem Vierteljahrhundert. Vor rund zehn Jahren, Angelika und Walter Melau waren in Rente, kamen ihnen die Obstbäume in den Sinn. »Schockiert hat uns damals, welche Vorgaben die EU für Streuobstwiesen hatte« erinnert sich Walter Melau. »Es hieß, das muss alles abgeholzt werden – und stellen Sie sich mal vor: Wir hatten in Deutschland rund 1,6 Millionen Hektar Streuobst, jetzt haben wir, wenn’s hoch kommt, 300.000.« Über Internet und eine Baumschule bei Rendsburg informierten sie sich über alte Sorten und darüber, welche Böden die Bäume bevorzugen. Parallel eruierten sie Standorte und kamen schließlich mit Hof Eggers überein. Ein Gärtner aus dem Bekanntenkreis half einzupflanzen. Noch heute übernimmt er freiwillig den Schnitt, berichtet Angelika Melau. »Alle Bäume haben getragen bereits!« Die Ehefrau wird während des Gesprächs immer enthusiastischer. Ihr Favorit ist der ›Celler Dickstiel‹. Den ›Purpurroten Cousinot‹ mag der selbstbewusst auftretende, aber doch hanseatisch zurückhaltende Ehemann am liebsten. Seine Antwort auf meine abschließende Frage nach diese Apfelmelange? »Wir haben keine Kinder, dachten, vielleicht freut sich nach uns jemand über die Bäume. Sie sind unsere Hinterlassenschaft.«
Die Apfelretter: Angelika Melau begutachtet die Triebe am ›Juwel von Kirchwerder‹, einem der 31 Obstbäume, gepflanzt von ihr und ihrem Mann im grünen Winkel Hamburgs.
Während Melaus die Heimfahrt gen Osten antreten – sie wohnen deichnah in Altengamme – radle ich westlich. Links steht die Riepenburger Mühle, Hamburgs älteste Windmühle. Kurz danach bin ich zurück am Zollenspieker. Das ist Hamburgs südlichster und ein historisch bedeutsamer Punkt. Ein ›Zollspeicher‹ ist hier bereits im 15. Jahrhundert dokumentiert. Im 17. Jahrhundert nutzte der Herzog von Braunschweig und Lüneburg eine eisharte Elbe, um mit seiner Soldateska nach Norden vorzustoßen und die Speicher zu plündern. Im 21. Jahrhundert fährt die Autofähre in Gegenrichtung alle zwanzig Minuten. Wie bereits zu Beginn des Hamburg-Intermezzos habe ich Glück, brauche nicht einmal die Schuhe aus den Pedalen zu klinken, rolle ungebremst die Stahlklappe der Fähre hinauf. Während das Rad an der Reling ruht, schaue ich auf den Kilometerzähler: Das bisherige Pensum liegt bei Sechzig, fast zwei Drittel der Etappe sind geschafft. Und schon geht es vom Schiff runter und zrock-zrock-zrock die gepflasterte Rampe hinauf, nach Achterdeich, zurück in