FREUNDE, DIE KEINE SIND. Suman Lederer

FREUNDE, DIE KEINE SIND - Suman Lederer


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noch lauter weiter.

      Suwarna wusste, dass Sujit bis spät am Abend in der kleinen Kammer vor seiner Dachterrasse saß und lernte. Aus dem Fenster der kleinen Kammer vor ihrer Dachterrasse konnte sie ihn sehen. Sie ging hinauf, stand ein paar Minuten da und schaute ihn an. Das wurde dann zu ihrem Abendritual.

      Manchmal traf sie ihn zufällig irgendwo auf der Straße, dann fragte er sie nach der Schule, oder nach ihrem Bruder, meistens erstarrte sie und kriegte kaum ein Wort heraus. Meistens war es auch nicht notwendig, zu antworten, denn er fragte sie etwas, gab dann selbst die Antwort, fand es lustig, was er gerade gesagt hatte, und lachte. Sie lächelte dann auch verlegen. Aber etwas zu sagen fiel ihr nicht ein. Allmählich entwickelte sie sich aber so weit, dass sie ihm zumindest irgendeine Frage stellen konnte, und war dann ganz stolz darauf, dass sie ein Gespräch angefangen und mit ihm geredet hatte. Na, immerhin!

      An einem bestimmten Wochenende hatten ihre Cousins bei ihnen übernachtet. Suwarna und ihr Bruder hatten beide sehr gern. Am Samstagabend wurde lange Karten gespielt, es war lustig. Alle vier schliefen anschließend im ersten Stock in ihrem Zimmer auf dem Doppelbett ein.

      Am nächsten Morgen wachte Suwarna als Erste auf. Sie wusste, dass ihr Vater im Nebenzimmer zuerst gearbeitet und anschließend geschlafen hatte, da sie ihn noch gesehen hatte. Sie ging hin, schob die Tür, sie ging nicht auf. Sie ging zur Terrasse, machte ein Fenster zum Zimmer auf und schaute hinein. Sie erschrak, ihr Vater lag auf dem Boden, irgendwie so still. Sie rief ihn ein paar Mal, aber er bewegte sich nicht. Sie ging in ihr Zimmer, weckte ihren Bruder auf und sagte ihm, er solle mitkommen. Zusammen gingen sie zum Fenster, schauten hinein, ihr Bruder schob die Hand durch das Fenster zur Tür nebenan, machte die Tür auf, beide gingen hinein zum Vater hinüber. Er lag so still da, so leblos. Sie gingen dann hinunter zu ihrer Mutter und sagten ihr, sie solle mitkommen und leise sein. Sie dachte, sie spielten ein Spiel und ging mit. Leise gingen sie alle drei nach oben, ins Zimmer. Und da fing ihre Mutter an, laut zu schreien.

      Sie hatten gerade Ferien und mussten nicht zur Schule gehen. In den Folgetagen kamen immer wieder mal die Nachbarn oder Kollegen von ihrem Vater vorbei, um ihr Beileid auszusprechen. Er war so ein netter, lieber, hilfsbereiter Mensch gewesen, so jung, warum musste das gerade ihm passieren, warum musste es gerade ihnen allen passieren, was sollte aus der Familie werden, wie sollte alles weitergehen, brauchten sie etwas, sie sollten sich melden, und so weiter. Außerdem wurde auch viel gemunkelt, war es ein Selbstmord, war es ein Herzversagen, war es etwas anderes? Die anderen Kinder aus der Nachbarschaft wussten selbst nicht so recht, was sie sagen oder machen sollten, zum Glück waren sie alle aber nett zu ihr.

      Am Abend ging sie meistens mit ihrer Freundin Rewathi spazieren. Rewathi war ein sehr lebhaftes Mädchen, ein Jahr vor Suwarna in der Schule und viel weiter als Suwarna in den Dingen des Lebens, sehr interessiert an Jungs und kannte bereits viele Mädchen-Jungs-Geschichten. Suwarna kam immer so vor, dass Rewathi viel mehr wusste, als ihr Alter es hätte vermuten lassen. Sie hatte eine sehr lebhafte Sprache, sie hat sich nicht gescheut, ‚shit‘ zu sagen, das war eher harmlos, oder Sonstiges, was damals noch zu den Tabuwörtern gehörte. Diese Abwechselung tat Suwarna gut. Sie musste nicht viel denken, einfach nur zuhören, es war irgendwie lustig, erfrischend, nicht belastend und entspannend.

      Rewathi war auf ihre Art sehr nett und sanft, jedoch bezog sich das Sanfte nicht auf ihre Sprache. Rewathi war sehr gut befreundet mit einem weiteren Mädchen und zwei Jungen, die sie aus der anderen Schule kannte. Sie nahm Suwarna in ihren Freundeskreis auf, ganz selbstlos und ohne Neidgefühl, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen, sie teilte Suwarna einfach mit ihren Freunden, beziehungsweise ließ sie an ihrem eigenen Freundeskreis teilhaben. So war Rewathi. Aber sie waren es auch, die sie alle fallen ließen, als die Frauengruppe des Netzwerkes ihnen von den Vorwürfen gegen Suwarna erzählte. Weiter haben sie alle Suwarna gegenüber nichts verraten, wie sie von der Frauengruppe angewiesen wurden. Toll, solche „Freunde“ zu haben, würde Suwarna später denken! Aber das war viele, viele Jahre später! Damals dachte sie nur, toll, solche Freunde zu haben!

      Nach ihren Spaziergängen mit Rewathi ging sie meistens zur Dachterrasse, saß allein da, blickte nach oben in den Himmel und dachte über alles nach, und wahrscheinlich versuchte sie, alles zu verarbeiten. Eines Abends kam Sujit nach oben zu Lernen, sah sie und kam hinaus auf seine Dachterrasse und rief zu ihr hinüber. Sie ging auf die Seite der Dachterrasse, die seiner am nächsten war, und beide unterhielten sich einige Minuten. Das wurde langsam auch zu ihrem Abendritual. Einmal sagte er zu ihr, falls ihr Bruder nicht dabei wäre, könnten sie beide morgens zusammen zur Schule gehen. Wenn ihr Bruder dabei wäre, müsste er sich mehr mit ihm unterhalten, das wären dann so Jungs-Gespräche.

      So kam es, dass sie früh morgens alles so lang hinauszögerte, bis ihr Bruder aufgab und sich bereits auf den Weg zur Schule machte. Erst danach ging sie aus dem Haus, sie wusste, wo Sujit auf sie wartete, und beide liefen zusammen zur Schule. Ihre Schule befand sich auf dem Weg zu seinem Gymnasium. Seine Unterrichtszeiten waren meistens länger als ihre, außer an zwei Tagen. An den beiden Tagen ging er fast bis zu ihrer Schule und wartete auf sie in der Nähe. So konnten sie die zwei Tage zusammen zurück nach Hause gehen. Langsam fing Suwarna an, über den Tod ihres Vaters zu sprechen, Sujit hatte immer etwas Passendes dazu zu sagen. Ihre guten Leistungen in der Schule hielt sie, und langsam ging es ihr innerlich auch wieder besser.

      In ihrer Schule wurde ebenfalls Militärtraining, ähnlich dem Kadettentraining, für die Schüler angeboten, zweimal in der Woche, am Nachmittag nach dem Unterricht, natürlich ihrem Alter entsprechend. Es war kein einfaches Training – in der Nachmittagshitze zwei Kilometer laufen, ein paar Dehnübungen, strikt marschieren, anschließend noch ein wenig Theorie, braune Uniform – Hose und Hemd, in ähnlichem Stil wie bei der Polizei oder beim Militär, die mit Stärke hart und fest gemacht wurden, harte, schwarze Schuhe, deren Sohle mit Hufeisen versehen war, damit es sich wie beim Militär anhörte und anfühlte, es klang super, wenn sie alle zusammen marschierten.

      Seitdem Suwarna vor einigen Jahren zufällig das Training gesehen hatte, wollte sie dabei sein. Mit dreizehn durfte sie dann endlich mal mitmachen. Sie meldete sich an. Es gab ein Auswahlverfahren, die Trainerin sah sie alle musternd an, ob sie die richtige Größe hatten, ob sie geradestanden, ließ sie zwei Kilometer laufen, dann marschieren. Sie hatten das alle noch nicht gelernt, aber die Trainerin wollte irgendetwas prüfen, wahrscheinlich, ob sie das Potenzial dazu hätten. Auf jeden Fall wurde sie zu ihrer großen Freude zusammen mit circa fünfundvierzig anderen Mädchen ausgewählt. Toll!

      Und los ging’s, zwei Mal in der Woche. Suwarna musste ihre Tischtennis-Trainingszeiten hin- und herschieben, es war alles am Anfang ein bisschen mühsam, aber danach war es für sie in Ordnung. Man brauchte nur ein wenig Disziplin, die sie von Haus aus ohnehin mitbrachte, und ein bisschen Zeitmanagement, wofür sie ein angeborenes Talent zu haben schien.

      Die ganze Zeit in der Hitze körperlich aktiv sein machte sie sehr müde. Teilweise hatte sie danach keine Lust und keine Kraft mehr für das andere vorgesehene Training, nämlich Tischtennis. Aber das machte nichts, irgendwie würde ich es schon noch schaffen, dachte sie. Nach dem, was im Badminton passiert war, dachte sie, das wäre ein Zeichen, sie würde mit dem Badminton einfach aufhören und das Kadetten-Training weitermachen, somit würde sich zumindest eine Teillösung für die Zeitfrage geben. Ihre Mutter kaufte ihr ein Fahrrad, damit sie nicht zu Fuß hin- und hergehen musste. Das war hervorragend.

      Manchmal kam ihr Schulfreund Sarwansh gegen Ende des Trainings hin, beide fuhren mit ihren Fahrrädern die Hälfte der Strecke bis zu Suwarna nach Hause nebeneinander und unterhielten sich. Sie war froh, Sarwansh zu kennen, ein sehr lieber, sanftmütiger gleichaltriger Junge, mit dem sie sich sehr gut verstand. Sarwansh und Suwarna würden für die nächsten dreißig Jahre einen lockeren Kontakt miteinander halten, einige Male, wenn Suwarna einen Transitaufenthalt in Katar haben würde, würden sie sich treffen und sich gegenseitig bezüglich Familien und Arbeit auf den aktuellen Stand bringen. Er würde sich später natürlich auch in ihrer Liste des privaten sozialen Netzwerks befinden, und vom Netzwerk kontaktiert werden. Ohne das Wissen des eigentlichen Spiels gegen Suwarna, beziehungsweise mit der ausgewählten Information, die allen vermittelt wurde, würde er überzeugt werden, mit dem Netzwerk mitzumachen. Aber das wussten beide zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, Suwarna war einfach froh, einen so guten Schulfreund


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