Lichtfisch. Arthur Witten
Vorne prangt das Konterfei von Jill und meiner Wenigkeit. ›Jilly Jones – Acoustic Songs‹ steht darunter. Der Bandname ›Jilly Jones‹ ist Jills Idee gewesen. Sie hieß tatsächlich Jill, Jill Kirchberger. Weil es cooler klingt, wurde daraus Jill Churchhill. Mich hat sie auch anglisiert, Martin Jone – bitte, Martin wer? Also flugs Marty Jones daraus gemacht. Aus ›Jill ‘n’ Jones‹ wurde dann ›Jilly Jones‹, weil ›Jilly‹ nach ›Chili‹ klingt und die Red Hot Chili Peppers ganz groß waren. So groß wie die waren wir nicht, aber es hat sich rumgesprochen, dass wir zwei keine schlechte Mucke machen, es kamen Gigs und noch mehr Gigs, und dann haben die ersten gefragt, ob es nicht eine CD von uns gibt. ›Nee, leider nicht‹, war dann die Antwort. Irgendwann haben wir gedacht, dass das mit der CD doch gar keine so schlechte Idee wäre, und sind ins Studio, das ein Kumpel von uns betrieben hat.
Vor drei Jahren haben wir dann auf Hannas Geburtstag gespielt. Hanna und Andi waren gerade zusammengekommen, und er wollte ihr eine richtig schöne Geburtstagsparty bieten, mit Band und allem. War ein schöner Gig, so einer, an den man sich immer wieder gerne erinnert. Dabei war es nicht mal ein runder Geburtstag – 27 oder 28.
Hanna hat dann zu späterer Stunde auch ein paar Songs mitgeträllert, Alanis Morisette, Melissa Etheridge, und mir dann erzählt, dass sie als Teenager auch in einer Band gesungen hat, und irgendwie würde ihr das schon manchmal abgehen.
Dann kam die Sache mit Jill. Jill war immer furchtbar nervös, ein Nervenbündel bis kurz vorm Erbrechen – bis der erste Song vorbei war. Dann war alles Zucker. Um die Nervosität in den Griff zu bekommen, hat sie es mit Alkohol probiert. Das ging am Anfang – so blöd das auch klingt – gar nicht so schlecht, aber recht bald hat sie die Kontrolle verloren und härtere Sachen in sich reingeschüttet.
Ich habe dann mit den Veranstaltern gesprochen, aber man kann auf einer Party ja nicht den ganzen Alkohol wegsperren. Außerdem hat Jill sowieso vorgesorgt und sich im Supermarkt eine Pulle Sprit gekauft. Die war dann nach dem Gig leer – und Jill voll. Als sie irgendwann schon vor dem ersten Song so betrunken war, dass sie sich nicht mehr gerade auf dem Barhocker halten konnte, habe ich die Handbremse gezogen.
Nach einem guten halben Jahr ohne Band ist mir Hanna wieder eingefallen. Sie war gleich begeistert und hat gemeint, dass sie das gerne mal probieren würde. Und nach der ersten Probe war klar, dass das optimal passt. Den Bandnamen konnten und wollten wir nicht weiterführen. Der aktuelle Name ›2u 2weit‹ kommt von Hanna. Sieht witzig aus, finde ich – und ist selbsterklärend. Wobei ein Gast schon mal an den Bühnenrand gewackelt kam und eine Visitenkarte von uns wollte.
Er ist schwankend stehengeblieben, die glasigen Augen auf die Visitenkarte gerichtet.
»Wass heißt denn Zzwei-u Zwei-weiiit?« Ja, was soll man darauf sagen?
Ich packe die CD wieder ein und schiebe die Schachtel zurück an ihren Platz.
Der Ordner kommt ebenfalls in die Sporttasche, Gitarre auf den Rücken, Haustürschlüssel. Nix vergessen? Nö.
Hanna wohnt ein bisschen außerhalb, daher fahre ich mit dem Auto. Es geht schon ein Bus bis knapp vor ihr Haus, aber der fährt tagsüber stündlich, nach sechs im Zwei-Stunden-Takt und nach halb elf gar nicht mehr.
20: 03: 51
Ich parke vor Hannas Haus und lade meine Sachen aus.
Hanna und Andi haben kurz nach dem Tod von Andis Vater sein Elternhaus renoviert und sind dort eingezogen. Seine Mutter lebt jetzt im ersten Stock, Hanna, Andi und die Kleine sind im Erdgeschoss. Im Keller hatte Andis Vater eine Hobbywerkstatt, aber Andi hat zwei linke Hände. Jetzt ist da drin ein Pseudo-Partyraum: unser Proberaum. Unsere kleine Anlage steht da drin, ideal für Geburtstage und mittelgroße Feiern.
›Bin da.‹
Kaum ist die Nachricht abgeschickt, öffnet Hanna schon die Tür.
»Grüß dich, Martin. Komm rein. Darf ich dir was abnehmen?«
»Hi Hanna. Danke, schaff ich schon. Was macht die Kleine, geht’s euch gut?«
»Ja, Laurie schläft.«
»Andis Mama ist krank?«
»Ja, die kriegt fast keinen Ton mehr raus, Fieber, Halsweh, Husten.«
»Geht wieder was um. Und Andi sitzt ja quasi an der Quelle.« Andi ist wie Hanna Lehrer an der Realschule hier in der Stadt. Die beiden haben sich auch dort kennengelernt. Und wenn irgendwo eine Grippewelle oder Magen-Darm im Anmarsch ist, sitzt man in der Schule und im Kindergarten an vorderster Front.
»Toi, toi, toi – Andi ist noch fit. Aber du glaubst nicht, was man da abkriegt. Die Eltern sind ja oft so unvernünftig, die schicken ihre Kind mit 40 Grad Fieber immer noch zur Schule. Könnten ja was Wichtiges verpassen und dann später den Traumjob nicht bekommen, weil sie einen Tag gefehlt haben.«
»Tja, und hernach verklagen sie euch, weil ihr den Stoff nicht nachgeholt habt.«
»Sonst noch was?« Sie lacht.
»Und du? Stimmlich fit?«
»Klar, und selbst?«
»Passt.”
Ich packe meine Gitarre aus. Hanna hat die Mikrofonstative schon vorbereitet und ihr eigenes Mikro schon angestöpselt. Ich schließe meins an, richte das Effektgerät ein und stimme die Gitarre.
»Okay, ich bin soweit. Womit fangen wir an?«
Martin Jone, 2018-10-26
14: 32: 10
Kurz nach halb drei. Ich stehe vor Haris Haus. Am Freitag treffen wir uns recht regelmäßig nach der Arbeit, aber heute muss Hari wohl länger ran. Ich gehe über die Straßenseite und betrachte die Sandsteinfassade von seinem Haus. Nach dem Unfall seiner Eltern haben er und seine Schwester das Haus geerbt. Hari hatte sowieso gerade den Job gewechselt, und seine Schwester gleichzeitig mit den Eltern den Mann verloren. Also haben sie sich die Elternwohnung unter dem Dach geteilt. Hari arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus und übernimmt ein paar Hausmeisterjobs, die immer wieder mal anfallen. Ulla arbeitet halbtags in einem Büro.
Die Haustüre geht auf, Hari kommt raus.
»Hallo Jonesy, sorry, ist ein bisschen später geworden. Die Kundenhotline ist am Freitag sowieso nur bis 12 geschaltet, aber der Kunde hatte einen Sondertermin, ging nicht anders. Hab ihm per Fernwartung geholfen, seine Trainingseinheiten in unser Programm einzupflegen.«
»Kein Problem, ich war auch ein bisschen später dran als sonst.«
Wir gehen Richtung Altstadt.
»Schon was zu Mittag gegessen?«
»Nö, hatte ja den Telefontermin. Du?«
»Auch nicht. Heute hat mich die Kantine nicht überzeugt. – Pizza?«
»Immer.«
Wir gehen weiter Richtung Pizzeria. Es riecht nach Herbst und feuchtem Laub, eine Andeutung von Nebel hängt in der Luft. In den Auslagen der Bäckerei liegen Lebkuchen, es duftet nach frischem Brot.
»Sind spät dran mit ihren Lebkuchen, im Supermarkt liegen die schon seit vier, fünf Wochen«, frotzle ich.
»Wenn es im August nicht so warm wäre, würden sie die da schon verkaufen, aber da schmilzt vermutlich der Schokoüberzug.«
»Das wäre echt eine Marktlücke! Wer will an Weihnachten schon Lebkuchen? Aber im Sommer nach der Grillparty noch einen Lebkuchen, dazu Glühwein auf Eis, das ist die Geschäftsidee!«
»Wieso Grillparty? Gegrillt wird im Winter, im Sommer kann das ja jeder.«
»Auch wieder wahr.«
»Apropos Geschäftsidee – was macht dein Projekt?«, fragt Hari.
Mein Projekt. Wir waren vor einiger Zeit in einer neu eröffneten Kneipe, in der im Hintergrund ganz schreckliche Meditationsmusik lief. Alles instrumental, viel Hall, Panflöte und ab und an Vogelgezwitscher – ich habe jeden Moment damit gerechnet,