Lichtfisch. Arthur Witten
hat vermutlich auch noch keinen Krieg verhindert, aber einige verzweifelte Anrufer tatsächlich glücklich gemacht – so gesehen ist seine Arbeit vielleicht wichtiger, zumindest für den Kunden.
Womit man eigentlich wieder bei der Sinnfrage landet. Hat Sportvereinsverwaltungssoftware irgendeinen Sinn? Hat die Grundlagenforschung irgendeinen Sinn? Hat das Universum irgendeinen Sinn? Oder sind wir tatsächlich nur Figuren in einem komplexen System, das nach gewissen Regeln abläuft? Wäre das dann eine Simulation im klassischen Sinn – oder eher ein Computerspiel? Wer spielt uns dann?
Die Tür öffnet sich wieder, die ältere Frau kommt zurück. Ein halblautes Atemgeräusch deutet Missfallen darüber an, dass Harald sich erdreistet, immer noch im Dampfbad zu sein. Muss der denn nichts arbeiten? Harald beschließt, auch diese Frau glücklich zu machen, in dem er aus ihrem Leben und ›ihrer‹ Dampfkabine geht.
18: 34: 07
Harald hat nachdem Dampfbad erst mal in der Stadt was gegessen und sich dann in der Bücherei ein paar alte Bücher angesehen. Er hat gehofft, bei den Philosophen vielleicht ein paar Denkanstöße zu bekommen, aber die Geisteswissenschaftler haben einen Schreibstil, der den Naturwissenschaftlern diametral entgegensteht. Unter den Physikern gibt es auch Plaudertaschen, die lieber zwei Sätze zu viel als einen zu wenig aufs Papier bringen, aber wenn es um Philosophie geht, ist es realistischer, in Absätzen oder gar Kapiteln zu rechnen.
Auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt ist Harald dann fast mit einer schwer bepackten Frau kollidiert, die er komplett übersehen hat, weil er zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt war. Die Frau hat dann im Weitergehen irgendwas mit ›ferngesteuert‹ zu ihrem Begleiter gemurmelt – ferngesteuert? Allzu verständlich. Aber was, wenn man tatsächlich ferngesteuert wäre? Würde man das denn selbst merken?
Harald bleibt abrupt stehen. Ein älterer Mann, der hinter ihm gelaufen ist, läuft fast ihn ihn hinein.
»So passen Sie doch auf!«, ereifert er sich.
»Entschuldigung«, murmelt Harald. Er tritt zur Seite, um den Strom der Menschen nicht zu behindern. Einige der vorbeischlendernden, -eilenden und -hetzenden Menschen wirken tatsächlich ferngesteuert: leerer Blick, ein irgendwie mechanischer Gang. Sollte es tatsächlich Menschen geben, die realer, echter sind, während andere tatsächlich nur durch die Welt stapfen wie die simulierten Orkarmeen in ›Herr der Ringe‹?
»Hallo Zweistein!« – »Hi, Hari!« tönt es plötzlich von hinten.
Harald dreht sich um. Jonesy und Hanna kommen in seine Richtung gelaufen, beladen mit den Sachen, die sie für den Auftritt brauchen. In ein paar Metern Abstand folgt ihnen Andi, Hannas Mann.
»Hallo Hanna, hallo Jonesy – und hallo Andi!Heute also nicht zu zweit, sondern zu dritt?«
»Wenn ich mitsingen würde, wäre der Platz in Nullkommanix leer«, lacht Andi. »Ich bin nur Lastenträger.«
Er deutet auf die mitgebrachte Tasche mit den Mikrofonstativen.
»Kann ich euch beim Tragen helfen?«, fragt Harald.
»Nö, danke, passt schon, die Bühne steht ja gleich da vorne.« Hanna deutet in die betreffende Richtung.
»Also ›Schneeflöckchen, Weißröckchen‹ können wir heute vergessen«, sagt Jonesy und blickt ein bisschen resigniert zum Himmel. Er beginnt zu singen: »Regentröpfchen, Regentröpfchen, warum kommst du geplatscht? Du kommst aus den Wolken, wir haben den Matsch.«
»Sehr schön! Wie wäre es mit einer Alternativfassung zu ›Leise rieselt der Schnee‹?«
Hanna überlegt kurz, dann singt sie: »Leise rieselt der Re-gen. Jeder weiß, Regen bringt Se-gen. Aber muss das wirklich sein? Schöner wär’s, es würde schnei’n.«
»Na, die beiden sind ja schon optimal in Weihnachtsstimmung«, meint Andi. »Und bei dir, Hari? Alles gut?«
»Ja, alles gut, hab heute ein paar Überstunden abgefeiert, da kann es einem doch fast nicht schlecht gehen, oder? Und bei dir, Andi? Alles in Ordnung?«
»In der Schule sind wir im Bald-sind-Ferien-Modus: Stoff durchbringen, Schulaufgaben schreiben – die Kids sind zwar innerlich schon auf Ferien eingestellt, aber davor kommt noch mal ein hartes Stück Arbeit.«
Der Platz ist gut gefüllt. Einige Zuschauer auch.
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»Wir kommen nun zum letzten Lied für heute. Wir hoffen, es hat euch gefallen. Die Stände sind ja noch bis 22 Uhr geöffnet, also feiert noch schön!«, verabschiedet sich Hanna auf der Bühne. Jonesy dreht sich zu ihr und scheint sie an etwas zu erinnern.
»Ach ja, fast vergessen: besucht uns auf 2u-2weit.de im Internet, dort findet ihr die nächsten Termine. Wichtig: zweimal eine Zwei statt Zett, sonst landet ihr leider nicht bei uns.«
Man hört vereinzelt ›Zugabe!‹-Rufe. Gibt immer noch Leute, die das witzig finden, denkt sich Harald.
Jonesy streicht die ersten Akkorde von ›Song to say goodbye‹ von Placebo. Die Leute hören meistens sowieso nur auf den Refrain, der als Schlusslied dann tatsächlich ganz gut passt. Der Rest vom Text – naja, geschenkt.
Nachdem Song wird brav applaudiert, aber im Grunde genommen interessiert sich jeder mehr für den Glühwein oder den Gesprächspartner, daher entfällt die Zugabe. Hanna geht von der Bühne.
»Der Song funktioniert immer. Danach will keiner mehr eine Zugabe.« Sie grinst hämisch. »Mir soll’s recht sein. Gott, ist das kalt.«
Sie kuschelt sich an Andi, der mit Harald einen Platz an einem der Stehtische ergattert hat. Er schiebt ihr seine fast volle Glühweintasse hin.
»Hier, ist noch heiß – oder willst du eine eigene?«
»Nein, danke, passt.«
Hanna trinkt einen Schluck. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch und wärmt ihre Finger daran.
»So würde ich das auch aushalten in der Kälte!« Sie zwinkert Andi zu.
»Ja, wenn nur diese furchtbare Musik nicht immer wäre.« Andi bleibt todernst.
»Vergiss nicht, dass ich die Autoschlüssel habe. Noch so eine Bemerkung, und du kannst zu Fuß heimgehen.«
Beide lachen. Andi umarmt Hanna und drückt sie an sich.
Jonesy hat seine Gitarre schon eingepackt und kommt dazu.
»Na, schon wieder am Streiten? Furchtbar ist das mit euch.« Auch er grinst.
»Ich hol’ mir auch schnell einen Glühwein, will noch jemand? Hari, wie sieht’s mit dir aus?«
Glühwein ist gefährlich wegen seiner Migräne. Momentan protestiert der Kopf noch nicht. Wobei: wenn sich die ersten Anzeichen zeigen, ist es zu spät. Dann rollt die Migräne unweigerlich über Harald hinweg und setzt ihn außer Gefecht.
»Na gut, bring mir noch einen.«
»Wir beide drehen mal eine kurze Runde durch den Weihnachtsmarkt, okay? Ich kann meine Sachen hier bei euch lassen?« fragt Hanna.
Harald nickt. »Klar, wir bleiben so lange hier.«
Jonesy kommt mit zwei dampfenden Tassen zurück und blickt den beiden nach.
»Die kommen wieder?«
»Ja.«
»Gut. Hier, dein Glühwein.«
»Danke.«
Harald ist in Gedanken wieder bei den ferngesteuerten Menschen. Er denkt an U. Ponners, den Mieter aus dem dritten Stock. Eigentlich ein ganz normaler, völlig unauffälliger Mensch, der jeden Morgen zur Arbeit geht und abends wieder heimkommt. Er grüßt im Treppenhaus, zahlt pünktlich – aber irgendwie ist da sonst nichts. Selbst das Aussehen ist … naja, eigentlich nicht der Rede wert. Graumeliertes Haar, eine Brille – oder keine Brille? Aber einen Schnurrbart. Oder?
Interessanterweise weiß niemand,