Komfortzone. Robin Becker

Komfortzone - Robin Becker


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hatten. Der alte Mann an ihrer Seite hob kurz seinen Hut und schaute dann weiter den Gang hoch. Die beiden sahen im Kontrast zu den jungen Leuten, die mit ihren Smartphones zugange waren wie urzeitliche Reptilien aus, die auf wundersame Weise überlebt hatten. Irgendwann werde auch ich sehr alt sein, wenn es das Schicksal zulässt, und mich bestimmt sehr fremd in der Welt fühlen, die mir ja schon jetzt mit Mitte dreißig manchmal unbegreiflich und abscheulich vorkommt.

      „Willst du jetzt trotzdem noch nach Bern in deine Wohnung?“, sagte Alex.

      „Ja klar.“

      „Soll ich mitkommen?“

      „Nein, fahr du mal lieber nach Bielefeld zurück.“

      Im Mannheimer Hauptbahnhof kauften Alex und ich jeder einen Fahrschein, setzten uns in ein Café und ließen uns eine Portion Kartoffelsuppe und ein Bier bringen. Eine männliche Lautsprecherstimme verkündete lauter Verspätungen wegen einer Gleisstörung. Die Kofferzieher verharrten in der Bewegung, lauschten der Durchsage, einige zogen genervte Gesichter. Mein Zug wurde nicht genannt. Alex kam noch einmal auf den schlechten Gesundheitszustand seiner Mutter und ihren Verein Boykott zu sprechen, der in letzter Zeit stark in die Kritik geraten war.

      Ich trank mein Bier aus.

      „Man sollte kein Obst und Gemüse aus Spanien kaufen.“

      Ich verstand nicht, wie er da jetzt drauf kam, eigentlich wollte ich bei dem Thema Mutter nachhaken.

      „Die Pflücker sind oft illegale Migranten ohne Rechte, leben in Baracken am Rande der Gewächshäuser, atmen den ganzen Tag diese Pestizide ein und bekommen nur einen Hungerlohn“, sagte er.

      Ich sah über ihn hinweg auf die Wanduhr.

      „Hast du gewusst, dass der fehlende Zugang zu sauberem Wasser weltweit die Todesursache Nummer eins ist? Jährlich sterben deswegen mehr Menschen als durch Aids, Malaria, Kriege und Verkehrsunfälle zusammen.“

      „Können wir das Thema jetzt mal lassen, mein Zug geht gleich.“ Ich sah mich nach einem Kellner um.

      „Ich übernehme das“, sagte Alex.

      Wir drückten uns zum Abschied.

      „Mach’s gut, mein Lieber. Pass’ auf dich auf.“ Er war den Tränen nah.

      „Ja, du auch.“

      „Don’t give up!“, rief er mir noch hinterher.

      Ich hob die rechte Hand, ohne mich umzudrehen. Der ICE hatte erstaunlich wenige Fahrgäste. Ich fand sogar ein leeres Sechserabteil, legte Rucksack und Parka ab und ließ mich auf den Sitz am Fenster fallen. Jetzt gehört mein Leben wieder mir alleine, sagte ich mir, kurz nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte. In Gesellschaft bin ich mir meistens fremder als ohne. Als würden die anderen einem die Identität zerkratzen. Alex bot da früher eine Ausnahme. Aber auch er hat sich verändert, seit er immerzu mit seinem Architektengeschäft zugange ist. Warum hat Heike der Trennung so schnell zugewilligt? Wahrscheinlich weil sie wusste, dass ich ihr den Seitensprung niemals verzeihen würde. In meiner Fantasie habe ich doch auch manchmal mit anderen Frauen schlafen wollen. Warum machte ich da also jetzt so ein großes Ding draus? Ich atmete durch. Nun kann ich noch mal ganz neu anfangen. Das ist gut. Das Draußen, das Abteil und mein Spiegelbild verschmolzen in der Scheibe zu einer neuen Wirklichkeit.

      ***

      Der Berner Bahnhof glich einer unterirdischen Einkaufsstraße, in der eine spontane Party ausgebrochen war. Ich kaufte mir in einem Kiosk vier Bierflaschen, die vielversprechend Alpenperle hießen, wollte weg von den Partymenschen und mich irgendwo in Ruhe betrinken. Doch überall waren Besoffene, die rauchend vor irgendwelchen Clubs und Bars standen oder mir in den für Bern typischen Laubengängen entgegenkamen. Vor einer von Scheinwerfern angestrahlten Kirche, die grotesk aus der Dunkelheit hervorstach, hielt ich schließlich ein Taxi an. Ich fragte den Fahrer, nachdem uns drei grölende Soldaten kurz an der Weiterfahrt gehindert hatten, ob es hier immer so traurigfröhlich zuginge.

      Er schaute mich über den Rückspiegel an. „Wochenend haben frei, nix schaffe, müssen machen Feier. Viel Stress.“

      Ich hatte mir Bern viel kleiner und weniger belebt vorgestellt. Die Taxifahrt dauerte keine zehn Minuten und kostete mich dreißig Franken, umgerechnet fünfundzwanzig Euro, was ich irrsinnig teuer fand. Ich fragte ihn, ob er in der Nähe ein Hostel oder Hotel kannte, das halbwegs bezahlbar war. Er sah mit seinem Smartphone nach und meinte nach wenigen Sekunden, für siebzig Franken bekäme ich im Hostel ein Bett in einem Viererzimmer. Die Fahrt dorthin würde fünf Minuten dauern. Ich dachte, so ein Köter wie ich, der kann auch ruhig mal ein, zwei Nächte auf dem Boden schlafen und lehnte dankend ab.

      Im Dunkeln vor den Briefkästen suchte ich meinen Namen. Helmut Lenk. Wie verabredet lagen meine Schlüssel darin. Ich schloss die Haustür auf, begab mich in die zweite Etage, öffnete die Wohnungstür, ertastete und drückte den Lichtschalter, woraufhin eine Neonröhre hörbar ansprang und eine braun furnierte Einbauküche grell aufflackerte. Das Zimmer mit dem angrenzenden Balkon war etwas größer, als ich gehofft hatte. Ich drehte die Heizung an, die sich gluckernd bemerkbar machte, setzte mich auf meinen Parka wie auf eine Decke, trank mein Bier und wurde immer müder.

      Irgendwann erwachte ich krächzend aus einem Traum, in dem ich bewegungsunfähig auf einem harten Boden lag. Ich wusste zunächst überhaupt nicht, wo ich mich befand. Mein Rücken schmerzte, dann fiel mir alles wieder ein. Draußen war es hell geworden. Ich lehnte mich an die Heizung und blickte mich in meinem Zimmer um, das mich an die Ausstellung der leeren Rahmen erinnerte, durch die Heike und ich vor Jahren geturtelt waren. Ich hatte den Sinn dieser Schau nicht verstanden. Heike hatte gemeint, es ginge darum, dass der natürliche Zustand aller Dinge Leerheit sei und der Mensch in einer Illusion gefangen sei.

      Aus der angrenzenden Wohnung war Marla Glen zu hören. Ich beschloss nach kurzem Zaudern, meine Nachbarin, die Valerie Lonescou hieß, wie mir das Klingelschild verriet, nach Schmerztabletten zu fragen. Die Musik verstummte, Schritte näherten sich, und die Tür wurde geöffnet. Ich blickte in ein hochwangiges Gesicht, das zerzauste schwarze Haare rahmten.

      „Hallo. Ich bin der neue Nachbar … Helle mein Name.“ Das Treppenhaus hallte unangenehm.

      „Freut mich. Valerie.“

      „Was ich fragen wollte, hast du eine Schmerztablette für mich?“

      „Was hast du denn?“

      „Mir tut praktisch alles weh – Kopf, Rücken, Beine, das Herz“, sagte ich und zeigte auf die einzelnen Körperteile.

      Sie schmunzelte ein Mikrolächeln, verschwand in ihrer Wohnung und reichte mir kurz darauf eine Packung Aspirin.

      „Die ganze Packung?“

      „Sind nicht mehr viele drin“, sagte sie achselzuckend. „Ich kriege das Zeug umsonst.“

      „Ach so, danke schön.“ Ich nahm die Packung entgegen. „Bist du Ärztin?“

      „Krankenschwester.“ Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar, nicht kokettierend, sondern einfach ihr Gesicht freiräumend. „Also, dann gute Besserung.“

      „Wo gibt es denn hier den nächsten Supermarkt?“

      Sie erklärte es mir umständlich und verwechselte links mit rechts, worauf ich sie hinwies, was ihr unangenehm war.

      ***

      Ich legte mir ein Käse-Baguette, Banane, Eiskaffee und einen Berner Reiseführer in den Korb und ging bezahlen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Supermarktes lehnte ich mich an einen Stromkasten, frühstückte, las in dem Reiseführer etwas über die Gurtenbahn und fragte einen Passanten in Anzug und Krawatte nach dem Weg dorthin. Der Mann beschrieb mir den Weg drei Mal, und ich wiederholte drei Mal, dass ich hier nur die Straße nach oben bis zum Ende gehen brauche, dann links und die nächste rechts.

      Ich bestieg mit zwei vor Dreck strotzenden Cross-Fahrradfahrern die Seilbahn, die mir auf meine Nachfrage hin durch ihre Helmvisiere erzählten, dass es vom Gurten mehrere coole Abfahrten gäbe.

      Als


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