Wanderfieber. Christian Zimmermann

Wanderfieber - Christian Zimmermann


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und lasse mich nieder.

       Angst vor einem Obdachlosen

       Tag 12: Donnerstag, 16. Mai 2019, 20 km (330 km)

      Es wird einfach nicht wärmer. Zum Frühstück sitze ich wie jeden Morgen in Vollmontur auf dem Campingstuhl. Vollmontur heisst: Unten lange Hosen mit Socken, oben T-Shirt, darüber einen dünnen, langärmligen Pullover, eine Softshelljacke und als letzte Schicht die kuschlige Daunenjacke. Zuoberst thront die warme Wollmütze auf dem Kopf. So schlürfe ich relativ entspannt den Kaffee. Als Tagesziel ist das nur 20 km entfernte Ulm gesetzt. Zum Marschieren verstaue ich die Daunenjacke, mit ihr würde ich zu heftig schwitzen. Kurz vor meinem Ziel treffe ich einen Schweizer Fahrradfahrer. «Hallo Christian, dich habe ich doch letzte Woche im Schweizer Fernsehen gesehen.» Ich gucke ziemlich verdutzt aus der Wäsche, weil mich dieser unbekannte Mann mit meinem Namen anspricht! Peter ist erst vor einigen Tagen in der Region Zürich gestartet und plant eine mehrwöchige Tour. «Ich sagte zu meiner Frau, was ist das für ein Spinner und nun stehst du in Fleisch und Blut vor mir!»

      Schon um 11 Uhr treffe ich in der mittelalterlichen Stadt Ulm ein, die sich am linken Donauufer ausbreitet. Auf der gegenüberliegenden Seite soll es einen bescheidenen Stellplatz für Zelte geben, entnehme ich dem Donauradführer. Die Skyline von Ulm mit Münster und Fischerviertel spiegelt sich wunderbar im Wasser. Von weitem kann ich an der Stelle, wo der Campingplatz stehen sollte, nichts dergleichen erkennen. Deshalb wende ich mich an eine ältere Dame, die gerade mit ihrem Velo gemächlich vorbeifährt. «Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich den Campingplatz finde?» Mein Gegenüber fällt vor Schreck beinahe von ihrem Gefährt, schüttelt heftig ihren Kopf, fuchtelt mit einem Arm wild durch die Luft und tritt wie verrückt in die Pedale! Panikartig flüchtet sie vor mir. Verwundert und mit offenem Mund schaue ich ihr hinterher. Sie wollte sich offensichtlich nicht von einem Obdachlosen anquatschen lassen, das könnte ja gefährlich werden! Das nächste Opfer derselben Frage, ein jüngeres Paar, lässt sich von meiner Aufmachung nicht beeindrucken und gibt mir bereitwillig Auskunft. Ich müsse nur die Fussgängerbrücke überqueren und der Platz befände sich dort drüben beim städtischen Ruderclub.

      Nach dem Camp-Aufbau schlendere ich Richtung Innenstadt, die nur einen halben Kilometer entfernt liegt. Die Wertsachen schleppe ich im Fotorucksack mit, den Rest vertraue ich Mrs. Mollys Bauch an. Meine Lady habe ich mit dem Stahlseil fest an einen Baum gekettet. Mit dieser Methode ist es auch nicht mehr möglich, den Deckel zu öffnen. Spazieren ohne meinen Einkaufswagen fühlt sich ziemlich komisch an. Ich komme mir ein bisschen nackt vor und ich habe das Gefühl das Wandern ohne Gehhilfe verlernt zu haben.

      Im Fischerviertel, wo früher auch das Gerbereigewerbe angesiedelt war, bewundere ich viele windschiefe Fachwerkhäuser. Laut dem «Guinness-Buch der Rekorde» steht auch das krummste Hotel der Welt hier. Die Herberge trägt den fantasievollen Namen «Hotel Schiefes Haus». Das blumengeschmückte und liebevoll renovierte Gebäude scheint wirklich fast einzustürzen, doch das hält die Hotelgäste nicht davon ab, hier zu übernachten. Sie sind bereit, saftige Preise für dieses schräge Erlebnis zu bezahlen. Ein hübscher Bach fliesst mitten durch die Idylle, was für das Gewerbe damals natürlich sehr praktisch war. Überall laden urige Gasthäuser zu Speis und Trank ein. 100 Meter weiter steht das Wahrzeichen von Ulm – das Münster. Dieses Gotteshaus darf übrigens den Titel «höchster Kirchturm der Welt» tragen. Leider sind Teile des Turms eingerüstet und im Innern wird fleissig restauriert. Auch die restliche Altstadt ist sehenswert. Viele Touristen und Einheimische flanieren durch die Gassen und erfreuen sich an den wenigen Sonnenstrahlen. Am Abend kapere ich die «Gaststuben im Zunfthaus der Schiffleute». Die riesigen, dunklen Balken könnten sicherlich manche Geschichte über dieses Etablissement erzählen. Ich mache es mir auf der Galerie gemütlich, auf diese Weise geniesse ich einen tollen Überblick über die Gaststube unter mir. Mit einem grossen Hellen starte ich den Abend. Schon nach kurzer Zeit wird mir der bestellte Sauerbraten mit schmackhaften Spätzle und Schwäbischem Sand serviert. Dieser «Sand» entpuppt sich als in viel Butter geröstete Semmelbrösel, der himmlisch schmeckt.

       Grenzüberschreitung

       Tag 13: Freitag, 17. Mai 2019, 34 km (364 km)

      Um 6: 15 Uhr bin ich bereits auf der Piste. Die ersten Sonnenstrahlen kämpfen sich durch den grauen Nebel und tauchen das Münster mit der Altstadt auf der gegenüberliegenden Seite in ein mystisches Licht. Eine Ente sitzt entspannt auf der Mauer und scheint dieses Schauspiel, wie ich, zu geniessen. Wenige Kilometer hinter Ulm passiere ich eine weitere Landesgrenze. Ein Schild steht einsam an der Strasse und dieses teilt mir mit, dass ich mich nun im Freistaat Bayern befinde. Ulm gehört zu Baden-Württemberg und ab jetzt halte ich mich im Land des Biers, der Weisswürste und Brezel auf. Bis 9 Uhr hält sich der Nebel hartnäckig, doch langsam drückt die Sonne immer stärker durch. Der kalte Wind ist nicht mehr so intensiv, wie während der letzten Tage. Der meistens ungeteerte Weg führt durch ausgedehnte Wälder. Wie mit dem Lineal gezogene Kieswege verlaufen über Kilometer durch einen saftig grünen Tunnel. Normalerweise befinde ich mich bis 9: 30 Uhr ziemlich allein auf der Donau-Veloroute. Die meisten Radler sind nämlich mit leichtem Gepäck unterwegs. Das bedeutet, dass diese Freizeitsportler allesamt in Hotels und Gasthöfen übernachten. Auch für den Transport ihres Gepäcks zur nächsten Übernachtungsstätte wird gesorgt. Ausschlafen bis 8 Uhr, in aller Ruhe duschen und dann ab ans Frühstücksbuffet. Von solchen Annehmlichkeiten kann ich nur träumen! Bis die Luxusfahrradfahrer gepackt haben und ihre Bikes einsatzbereit sind, geniesse ich die Ruhe. Nicht aber heute Morgen. Die Ulmer scheinen begeisterte Radler zu sein, denn Heerscharen pendeln zu früher Stunde mit dem Drahtesel zur Arbeit.

      Leipheim und Günzburg lasse ich rechts liegen und marschiere auf dem Deich Richtung Osten. Hier steht ein Stauwerk und aus diesem Grund ist der Fluss an dieser Stelle beachtlich breit. Ich beobachte Schwäne, Gänse und Enten, die sich durch meine Anwesenheit nicht stören lassen. Am Wegrand erspähe ich wunderschöne Orchideen. Dem rosaroten Knabenkraut scheint es auf diesen mageren Böden sehr zu gefallen.

      Wie jeden Tag darf ich verschiedene Male über mein Abenteuer Auskunft geben und auch für die obligaten Selfies posieren. Nicht weit vom Ort Offingen fühlt es sich wie Feierabend an und ich spüre einen hübschen Platz im Wald auf. Ich stosse Molly 100 Meter in einen überwucherten Weg und platziere das Zelt inmitten herrlich duftenden Bärlauchs. Der Magen knurrt und deshalb warte ich nicht lange mit dem Kochen. Ich brutzle mir eine doppelte Teigwarensuppe, die ich mit einer Büchse Thunfisch aufpeppe. Und natürlich pflücke ich eine Handvoll frischer Blätter Bärlauch, um mein Mahl mit schmackhaften Vitaminen zu verfeinern.

       Schöne Aussicht

       Tag 14: Samstag, 18. Mai 2019, 38 km (402 km)

      In der Nacht regnete es ausgiebig und die Wettervorhersage prognostizierte weitere Niederschläge. Früh morgens krieche ich aus dem Schlafsack und werde überrascht. Es scheint aufgeklart zu haben, nur ein paar Nebelschwaden ziehen durch den halbdunklen Wald. Als ich die Bäume hinter mir lasse, komme ich durch weite landwirtschaftliche Flächen. Der Raps leuchtet knallgelb und der Nebel bildet im Hintergrund einen bezaubernden Kontrast. Ich erkenne die Gelegenheit, meine Drohne aufsteigen zu lassen. Ich programmiere das Fluggerät so, dass es mich in einer definierten Distanz selbstständig verfolgt. So entstehen sehr dynamische Videosequenzen. Anschliessend lasse ich den Kopter hoch aufsteigen und schiesse von der lieblichen Gegend ein paar Fotos. Das Livebild wird mir direkt auf das Smartphone geliefert, das an die Fernbedienung gekoppelt ist. Solche Tätigkeiten bedeuten auch immer eine gewisse Abwechslung. Während des Filmens und Fotografierens kann ich mich gut erholen.

      Der Weg führt mich durch einige malerische Ortschaften. Das Städtchen Lauingen gefällt mir am besten. Auf dem Bürgersteig in der Ortsmitte lege ich vor einem Blumengeschäft einen Fotostopp ein. Und da blockiere ich den Eingang für eine fröhliche Dame, die ihre bestellte Ware abholen möchte. Wir kommen ins Gespräch und nachdem ich ihr meine Geschichte in Kurzversion erzählt habe, ist sie an der Reihe. «Sie müssen unbedingt den Schimmelturm besteigen, da können sie eine famose Aussicht über Lauingen und die Umgebung geniessen! Es ist einer der wenigen Türme an der Donau, die man besteigen kann.» Sie erklärt mir auch umständlich, wo ich


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