LANDEBAHN. Stefan Gross

LANDEBAHN - Stefan Gross


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zu seinem Totem sei alles andere als einfach.

      Ob Richard sein Verhältnis zu seinem Wal coachen ließ, wusste ich nicht. Er hatte Probleme, über die er mit mir nicht viel sprach, und solche gehörten dazu. So ein ungeheuer riesiges Tier war schließlich nicht ohne. Richard hatte irrationale, schwer nachvollziehbare Persönlichkeitsanteile, genau wie ich selbst. Unsere Beziehung barg ständig die Gefahr, dass wir aneinandergerieten. Mein inneres Pferd war mir nicht gerade vertraut, sonst hätte ich ihm bestimmt einen Namen gegeben. Santana vielleicht. Aber ich nahm die Sache auch nicht wirklich ernst und hatte das Gefühl, dass Richard mit seiner Walgeschichte ziemlich dick auftrug. Es war typisch für ihn, sich ausgerechnet dieses imposante, erst vor vierzig Jahren heiliggesprochene Tier als sein Totem zu erwählen und damit ein bisschen anzugeben. Er behauptete sogar, ein Buckelwal hätte ihn erwählt beim Wale-Watching in Mexiko, als er dort seine Ausbildung zum Schamanen machte.

      Mein Telefon klingelte. Richard war dran und fing sofort von Indien an. »Carl, mein Bester, ich weiß, du freust dich schon. Ich spüre das sogar durchs Telefon. Ich habe deinen Flug umbuchen müssen. Du musst leider schon übernächsten Samstag fliegen.« Das erwischte mich wie die Mitteilung über den Unfalltod eines nahen Angehörigen. In diesem Fall Alice. Mein Wochenende mit ihr, sie hatte an dem betreffenden Samstag Geburtstag, löste sich auf wie ein überbelichtetes Bild und ich brachte vor lauter Empörung über diese Nachricht keine Antwort zustande. Stattdessen ließ ich Richard weiterreden. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß ja, aber Alice hat es ziemlich gut aufgenommen.« Ich hatte große Lust, einfach aufzulegen, Richard mischte sich seit einiger Zeit ein bisschen zu oft in unser Privatleben ein. »Du hast Alice angerufen? Du hättest mit mir zuerst reden müssen.« »Ja, aber ohne Alices Zustimmung hätte ich mich nicht getraut, dich anzurufen. Es tut mir leid, Carl, aber S&T war nicht davon zu überzeugen, dass du wenigstens erst noch mit deiner Frau Geburtstag feiern solltest, bevor du fliegst. Natürlich haben sie sich tausendmal entschuldigt. Aber sie können nichts machen. Mr. Rajshekhar Raji hat kurzerhand die Termine vorgezogen. Außerdem wollen sie dich jetzt drei Wochen haben, nicht nur zwei. Du bist da jetzt schon sehr beliebt, Carl.«

      Rajshekhar Raji war der starke Mann von S&T India und seine jungen IT-affine Ingenieure, darunter viele Frauen, sollten zukünftig die eigentliche Arbeit machen, wie Brauer das nannte: Zeichnungen, Berechnungen, Datenpflege. Die deutsche Sektion von S&T sollte den Prozess organisieren. Welcome to the machine hieß der Job unter der Hand. Ich sollte nach Indien und mir ein genaues Bild von der Sache machen. Man erwartete von mir, dass ich ein Umstrukturierungskonzept mit Rajshekhar auf den Weg brachte und für deutsche Effizienz sorgte.

      »Indien ist ein durchweg hässliches und verlorenes Land. Ich werde dort nichts essen und nach einer Woche werden sie mich besorgt nach Hause schicken. Wirst sehen, ich bin dort für nichts zu gebrauchen.« Richard lachte rau, aber in seinem Sarkasmus schwang auch echte Sorge um meine Kooperationsbereitschaft.

      »Du wirst sehen, Indien ist das Paradies auf Erden, eine trostspendende Kultur, und Menschen von außergewöhnlicher Anmut werden sich um dich kümmern. Und sag Brauer, dass Indien seine große Chance ist. Er soll sich in Deutschland noch trockenlegen lassen und dann ab. In Indien ist es viel leichter, nicht wieder mit dem Saufen anzufangen als hier. Er kann sich von Früchten und Nüssen ernähren, den ganzen Tag Wasser trinken und niemand wird ihn schief anschauen. Er wird abnehmen und sich wie wiedergeboren fühlen. Und er kann alle sechs Wochen nach Hause, falls seine Frau nicht mitkommen will. Was ich aber nicht so gut fände. Sie soll mit ihm dahin gehen. Deswegen rufe ich auch an. Überzeug ihn, dass sie mitgeht. Die beiden haben erwachsene Kinder. Alleine wird er es nämlich nicht aushalten. Wie geht’s ihm?« »Gerade macht er eine kurze Pause, braucht ein Erfrischungsgetränk.« »Dachte ich mir, sonst wärst du nicht ans Telefon gegangen. Ich hatte so einen Riecher. Aber ich kenne ihn ja. Er lässt dich ein bisschen zappeln und dann wird er unterschreiben.« »Wenn er nicht gleich wieder auftaucht, muss ich ihn wohl suchen gehen«. Richard lachte aufmunternd. Ich sah durch den Glasausschnitt in der Tür, dass Brauer zurückkam. »Brauer kommt, ich muss auflegen«, sagte ich und legte auf.

      Brauer stellte gut gelaunt einen Kaffeebecher mit Deckel auf den Tisch. »Cappuccino, den mögen Sie doch. Hab ich gesehen dieser Tage. Habe sie ja auf dem Schirm, junger Freund, ähm, Herr Hammer.«»Hm, ja, danke sehr.« Dass ich nicht sein Freund war, sagte ich ihm aus gesprächsklimatischen Gründen nicht. Wenigsten hatte er sich korrigiert. Brauer fläzte sich auf seinen Stuhl, verschränkte die Arme hinterm Kopf und grinste mich an. Von den beiden dunklen Seen auf dem weißen Hemd erhoben sich riesige Schwärme unsichtbarer Schweißvögel, die direkt in meine Nasenlöcher flogen und mir auf die Rezeptoren kackten. Ich schaute betreten zu Boden, angewidert und provoziert von Brauers unverschämt schwitzender Körperlichkeit. Brauer seufzte, nahm die Arme runter und schenkte sich Wasser ein, das sprudelnde Active. »Auch was?« Ich schob ihm mein Glas hin. Brauer schenkte mir gekonnt ein. Frisch geduscht, mäßig betrunken und respektabel gekleidet mochte er ein guter Gesellschafter sein. Er stellte die Flasche ab und lächelte zufrieden. »Ich habe früher gemixt, war ein richtig guter Barkeeper in Schwabing, als Student, wissen Sie.« Ich zog anerkennend die Augenbrauen hoch. Brauer wirkte heiter bis ungeduldig. »Nun, was machen wir jetzt?« Brauer ließ seinen Zeigefinger erigieren. »Ich finde, wir sollten langsam zum Ende kommen, sonst kriegen Sie noch Probleme mit denen da oben. Die achten jetzt auch neuerdings auf die Zeit, ausgerechnet die.« Ich deutete mit der flachen Hand einen symbolischen Schlag auf die Tischplatte an und richtete mich in meinem Stuhl auf, wozu ich nach vorn rutschen und mich auf die Stuhlkante setzten musste. Bürostühle sollte man mit dem Hintern aussuchen, mit verbundenen Augen. Ich schaute Brauer umstandslos in die Augen. »Jetzt hören Sie mir erst einmal zu.«Brauer lehnte sich zurück und schaute so erwartungsvoll, als hätte er an Weihnachten die übliche Schachtel Pralinen auszupacken. Dieser fette Buddha wusste zweifellos, was ich ihm andienen sollte. Brauer in Indien. Das wäre ein ganz schlechter Witz. Ein besoffener schwitzender Ganesha in Hosenträgern, der sich vor wissbegierigen Fünfundzwanzigjährigen lächerlich macht.

      »Herr Brauer: ich habe Ihnen im Auftrag der Geschäftsleitung ein sehr gutes Angebot zu unterbreiten!« Ich kramte in meiner Ledertasche und zog die Hülle mit dem Vertragsentwurf raus. Mein Junge, irgendwann wirst du erkennen, was du anrichtest. Ich stutzte, war mir nicht sicher, ob Brauer das gerade tatsächlich gesagt oder ich das nur gedacht hatte. Ich entnahm ein Exemplar für mich und schob Brauer die Schutzhülle mit dem zweiten Exemplar über den Tisch, der es so angewidert betrachtete, als handle es sich um einen fettigen Teller mit Essensresten am Morgen nach einer Grillparty. Sei doch froh, du versoffener Trottel, dass du überhaupt ein Angebot bekommst, dachte ich und sagte: »Sie werden sehr angenehm überrascht sein. Zwei Jahre, ein sehr, sehr ordentliches Gehalt, kaum Steuern und obendrauf eine stattliche Prämie. Gelegentliche Heimreisen oder wahlweise noch mehr, sehr gute Zulagen, falls Ihre Frau Sie begleiten möchte, was sicher in Ihrem und auch ihrem Interesse ist. Ich an Ihrer Stelle wäre sehr erfreut über eine solche Möglichkeit. Sie können sich fit machen bei Berlitz, sogar Hindi ist drin.« Brauer nahm sein Wasser, trank es leer und stellte das Glas behutsam auf den Tisch. Er schaute mich seelenruhig an.

      »Sie sehen sehr, sehr erschöpft aus, mein Freund. Sie schlafen schlecht, Sie wollen weniger trinken. Es gefällt Ihnen nicht, wie Ihr Chef Sie behandelt, dass Sie Ihre Frau viel zu selten sehen und keine Freunde mehr haben, mit denen sie einfach so beim Bier reden können, über Gott und die Welt und sämtliche Verbrecher der Geschichte seit Erfindung der Schrift. Richtige Kumpels haben Sie nicht, sondern nur solche, die mit Ihnen joggen, segeln, Berge beklettern und in der VIP-Lounge langweilige Bayernspiele mit Ihnen anschauen wollen und Sie anschließend zum Koksen und Kieksen in den Puff schleppen. Sie sehnen sich nach Liebe und echtem Verständnis. Sie an meiner Stelle würden das trotzdem sehr wahrscheinlich unterschreiben, um endlich aus Ihrem erzwungenen Leben rauszukommen und in Indien womöglich noch nach Feierabend nach Erleuchtung suchen. Aber ich habe keine der ihren vergleichbare innere Not, keine Sehnsucht nach einem anderen Leben, von dem ich beim Kacken träume und mich dann doch nicht traue, es mit meiner großen Liebe zu besprechen. Ich habe kein Motiv, in dieses edle alte Land zu ziehen.«

      Brauer schob mir den Vertrag über den Tisch und schaute mich aus schwimmenden Augen an. Trinker neigen zu Tränen und großen Gefühlen. Brauer war ein Prachtexemplar und gefiel sich in seiner Rolle.


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