LANDEBAHN. Stefan Gross

LANDEBAHN - Stefan Gross


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und du weißt das auch. Das ist nichts für mich. Fahr du da hin. Ich kann so was nicht, echt nicht«, sagte ich flehend.

      Richard bot mir Wasser an. »Mit oder ohne?« »Mit.« Richard schenkte mir ein und ich griff gleich nach dem geriffelten Glas. Auch ein Angstreflex. Ich suchte haptischen Halt. »Man sollte viel öfter was in der Hand haben, nicht nur Handys. Wir sind Greifer und brauchen noch was anderes. Am besten was Funktionsloses«, sagte ich schwach.

      Richard schaltete in den Coaching-Modus, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinterm Kopf, lächelte und sagte, mindestens eine Oktave tiefer gestimmt: »Alles gut, du hast ein bisschen Angst und das ist völlig okay. Aber hör dir einfach selbst zu. Angst, Greifen, Funktionslosigkeit. Super Assoziationsketten. Du machst mich neidisch. Wie einfach es dir fällt, aus dem Nichts heraus über was X-Beliebiges zu improvisieren. Genau das wollen die. Einen authentischen Menschen beim Denken erleben, dem einfach was Geistreiches einfällt. Die wollen keine aalglatte Performance. Ja, ich kenne deine Vorliebe für kleine Gruppen, aber wir wachsen, Carl, und die etwas größere Bühne wartet auch auf dich. Jeder ist ein Speaker, Carl, in dem Sinne, wie auch jeder ein Künstler sein kann. Wirst sehen, du wirst daran wachsen, wirst vielleicht eines Tages noch ein richtiger Bühnenpunk.« »Ich kann aber nicht auf Knopfdruck liefern und in so einer Situation schon gar nicht«, antwortete ich.»Ganz genau. Nicht auf Knopfdruck, nicht auf Befehl. Eher wie beim Segeln und Surfen. Du surfst einfach die Gedanken ab, die dir aus deiner inneren Quelle zufließen…« »Zufließen, innere Quelle, wovon sprichst du?« »… oder zuwehen, was weiß ich, aus deiner Mitte, das, was aus deinem Inneren kommt – feurig, wässrig, luftig, leise, laut, zäh, dünn, dick – keine Ahnung, wie das bei dir funktioniert. Ich kümmere mich bei mir nicht so um die Feinheiten.«

      »Schon in Ordnung, komm zur Sache.«

      Richard nahm eine gerade Haltung ein:»Der Punkt ist, Carl, niemand hat heutzutage mehr Lust, sich vorgestanztes Zeug live anzuhören. Man will dabei sein, wenn was wirklich Neues entsteht, teilhaben am kreativen Akt. Das hat schon was Spirituelles an sich, finde ich. Du kannst ruhig was riskieren. Es sind nur zwanzig Minuten, Carl. Schenk ihnen und schenk vor allem dir selbst zwanzig Minuten freien geistigen Fall. Ein kleiner Sprung ins Leere und dann: Wusch! Dein Geist breitet seine Schwingen aus und du fliegst. Wusch! Und dann kommt‘s dir. Inspiration, Wahrheit, Vision. Die reine Offenbarung, Carl, die Schwingen, auf denen wir in die Zukunft segeln. Das ist doch Spiritualität, oder etwa nicht?«

      Ich war noch mit der inneren Quelle beschäftigt: »Innere Quelle? Quellcode: Vom Anfang der Programme. Aber Spiritualität? Eher schwierig. Ich weiß nicht, was das sein soll. Spirit? Geist…« Richard notierte was in sein Notizbuch und ich schaute den Kohlensäurebläschen zu, wie sie aus meinem Glas sprangen und sich in Luft auflösten.

      »Um Punkt soundso viel Uhr auf einer Bühne stehen und abliefern –genau das meine ich mit: auf Knopfdruck. Das ist echt nichts für mich. Ich arbeite lieber mit einem Plan«, sagte ich.

      »Vielleicht so wie gestern mit Brauer?«, fragte Richard scharf. Mein Gespräch mit Brauer war ein Misserfolg. Das wusste ich selbst. »Du erwartest doch hoffentlich keine Wunder. Wir sind Berater, Richard, keine Magier«, entgegnete ich. Seine Stimme wurde sofort wieder sanft, als er fortfuhr. »Schon gut, vergessen wir Brauer. Der wird sich schon noch fügen. Ich brauche dich für Berlin. Sieh das als Chance. Und come on. Du bist doch aus Berlin. Keine Sehnsucht, da mal wieder vorbei zu schauen?«

      Ich dachte die ganze Zeit schon an Berlin, hatte aber keine Lust, die Stadt, in der ich aufgewachsen und wohl auch zur Welt gekommen war, wiederzusehen. Schon gar nicht bei so einer Gelegenheit. Und schon gar nicht am letzten Wochenende, bevor ich nach Indien musste. Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen war Sommer. Richard schaute kurz. »Ja, herrliches Wetter, richtig Sommer. Wir sollten rausgehen in die Biergärten, aber ich schaffe es heute wohl auch wieder nicht im Hellen.«

      »Es wird erst um elf Uhr dunkel«, sagte ich. Richard ging nicht darauf ein und vertiefte sich in sein Notizbuch.

      »Und wenn ihr eure Reise um ein paar Tage verschiebt und du die Sache doch selbst übernimmst?« Anlässlich seines ersten Hochzeitstages mit seiner Frau Maren, hatte er eine Reise nach Florenz am kommenden Wochenende vor. »So wichtig ist das Datum doch nun wirklich nicht.«

      Richard seufzte. »Florenz kann ich definitiv nicht verschieben. Wir mussten schließlich letztes Jahr schon unsere Flitterwochen auf kümmerliche drei Tage beschränken. Maren ist da ziemlich empfindlich.« Alice und ich mochten Maren nicht besonders, weil sie in ziemlich vielen Angelegenheiten ziemlich empfindlich war.

      »Und ich habe Alice versprochen, wenigstens an diesem Wochenende da zu sein, wenn ich schon an ihrem Geburtstag nach Indien fliegen muss. Sie freut sich schon riesig. Wir wollen wandern im Karwendel. Wenn ich nicht nach Indien müsste, dann vielleicht. Wenn ich mich vorbereiten könnte, wenn ich mehr Zeit hätte, dann vielleicht, aber so, wie die Dinge liegen …« Richard schaute übertrieben mitleidig und ich musste über seinen vielsagenden Gesichtsausdruck lachen. »Wenn, wenn, wenn. Und Indien, ja, ja, ja. Du fliegst in anderthalb Wochen, stimmt’s?« Ich nickte lobend. Richard stand auf. »Ich brauch jetzt ‚nen Cappu und dann rufe ich in Berlin an und sage denen, dass wir nicht können, weil wir nach Florenz, in die Berge und nach Indien müssen und wir Alices Geburtstag feiern müssen.« Das konnte Richard nur ironisch meinen. Richard nahm mir schon ab und zu einige meiner Verpflichtungen ab, wenn es sich einrichten ließ. Eine Hand wusch die andere. Ich seufzte, stieß mich vom Fensterbrett ab und spürte die Druckstellen an meinem Hintern. Richard klopfte mir anerkennend auf die Schulter.

      »Du machst das schon. Brich das Thema runter und mach dir ein paar gute Slides. Ich schicke dir die nächsten Tage noch ein bisschen Input.«

      Ich fühlte mich einigermaßen beruhigt. Wir trotteten zum Kaffeeautomaten. Das Ding zischte und brodelte wie die Fabriken in England vor zweihundert Jahren. Ich verbrannte mir die Zunge an dem viel zu heißen Gebräu. Wenn die Sache mit Indien erledigt war, würde ich diesen Steampunk dem Deutschen Museum andrehen und einen Automaten entwickeln, der mundgerechten Kaffee gegen ein freundliches, mindestens fünf Sekunden dauerndes Lächeln kochen konnte.

      Berlin

      Ich suchte nach der Präsentation auf meinem Rechner, fand sie aber nicht. Existierte sie überhaupt oder hatte ich nur davon geträumt, vorhin, als mich im Zug, der mich in aller Herrgottsfrühe von München nach Berlin verfrachtet hatte, der Schlaf mit Macht übermannt hatte? Ich hatte eigentlich nur ein kleines Nickerchen machen und dann meine Präsentation noch mal durchgehen wollen, im Sinne einer gründlichen Überarbeitung, die erst zu einer vorzeigbaren Präsentation geführt hätte, aber mein Schlafdefizit zwischen Montag und Freitag glich ich immer Samstagmorgens aus. Mein System hatte also nur getan, was ich ihm beigebracht hatte.

      Die Präsentation existierte tatsächlich nicht mehr, auch nicht im Papierkorb und dort müsste sie noch liegen, wenn sie abgespeichert wäre. Ich hatte gestern Abend kurz nach zehn nach drei Flaschen Helles angefangen, sie zu montieren und sie dann aber wohl nicht gespeichert. Das war mir schon öfter passiert. Dokument! wird nicht automatisch gespeichert. Es will erst einen Namen haben und einen Ort, wo es zu Hause ist, sonst kann es nicht überleben. Ich hätte gerne weiter über diese Sache mit dem Namen und dem Ort nachgedacht. Und ich wäre vorhin auch viel lieber am Südkreuz ausgestiegen, weil plötzlich, ganz anders als ich erwartet hatte, eine Neugierde auf mein zurückgelassenes Berliner Leben in mir erwacht war. Aber hier auf der Bühne lief meine Vorbereitungszeit ab und erforderte meine volle Konzentration. Ich ließ von meinem Rechner ab, drehte mich zum Publikum und hatte das Gefühl, ich sollte jetzt unbedingt was sagen. »Tut mir leid, aber ich habe die Präsentation vergessen«. Ich wurde nicht beachtet. Zum Glück ging das Mikro noch nicht. War die Vorbereitungszeit doch noch nicht um? Natürlich nicht. Denn jemand hatte mir gesagt, es gäbe ein Signal, wenn es losginge. Das dünne Stäbchen an meiner Wange irritierte mich. Vielleicht gehörte es mehr vor meinen Mund, aber dafür war es zu kurz und an meiner Wange war es lästig. Ich fummelte ständig daran herum. Mit so einem Ding hatte ich noch nie zu tun gehabt.

      ZUKUNFT. Das Motto der Veranstaltung prangte in großen weißen kursiven Lettern auf dem azurblauen Grund des riesigen Screens. Die Zukunft, die man hier offenbar erwartete,


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