LANDEBAHN. Stefan Gross
Art. Sie meinte, dass die Welt immer schon ein unsicherer Ort gewesen sei. Als Biologin wusste sie natürlich noch viel besser Bescheid über den Zustand der Erde und ihr derzeitiges Sterben, hielt mir aber entgegen, dass man nie wissen könne, wie es dann wirklich komme. Sie malte mir ein Weltbild in den Himmel, in dem es nur so wimmelte von ausgestorbener Flora und Fauna und völlig neuen Kreaturen, die aus untergangenen Welten wieder neu hervorgingen, von sinkenden Meeren und mächtigen Gletschern, tropischen Warmzeiten und Kleinstlebewesen, die angeblich kosmische Musik von sich gaben, wenn man ihre Schwingungen in hörbare Frequenzen modulierte. Alice war keineswegs unerschütterlich. Das Artensterben ließ sie oft stundenlang heulen, der Stau rund um München machte sie oft fix und fertig, aber sie hatte eine bessere Gravitation als ich. Ihre intimste, innigste Motivation, mit der sie ihren Lebensentwurf wagte, drehte sich um die Freude am Wagnis selbst, es war gewissermaßen eine Freude an der Pirouette. »Schlittschuhlaufen ist schwierig, deswegen macht es ja so viel Spaß, aber Pirouetten drehen ist noch viel schwieriger und deshalb noch viel geiler. Wenn du es nie probierst, nun ja, wie willst du dann wissen, wie geil es ist.« Wir waren uns tatsächlich zuerst beim Schlittschuhlaufen begegnet, an einem Novembertag vorletztes Jahr, als ich, wie sie später behauptete, als Geisterfahrer unterwegs gewesen sei und direkt in ihren Armen landete, am Eingang zur Bahn, wo sie rein und ich raus wollte. Sie war in Begleitung eines attraktiven Mannes gewesen, bei dem es sich, wie sich später herausstellte, um ihren Bruder Ferdi handelte, und wohl deshalb führte das zu keiner weiteren Annäherung, trotz eines ersten deutlichen Aufflackerns bei mir, aber nicht bei ihr, wie sie immer noch behauptete, was ich ihr nie abkaufen werde.
Kurz vor Weihnachten waren wir uns dann in München auf dem Weihnachtsmarkt wieder über den Weg gelaufen. Dieses Mal war ich in Begleitung meiner damaligen Freundin Susanne. Das hatte nichts zu sagen, unsere Beziehung war nur noch lau und sie war eine der vielen Freundinnen, für die ich nichts weiter als ein natürliches Bedürfnis empfand. Alice war die erste Frau, in die ich mich als erwachsener Mann wirklich verliebte. Ein Gefühl, das ich glaubte, verloren zu haben, damals in Berlin, als ich sechzehn war und die Geschichte mit Annie und Sabine passiert war.
Zu unserem dritten Zusammentreffen, das Alice als ihre Stunde Null ansah, kam es dann in der Brauerei ihres Bruders Ferdi. Die besondere Qualität seines Bieres und der Charme seiner Schankwirtschaft hatten sich rumgesprochen. Auch Richard hatte davon gehört und mich gebeten, mir das anzuschauen, als Location für die Weihnachtsfeier, die er dort nachholen wollte. Weil sich die vielen neuen Kollegen vor Weihnachten auf keinen Termin einigen konnten, fand man seinen Vorschlag genial, das Fest Mitte Januar nachzuholen und anstelle eines sentimentalen Jahresrückblicks ein bisschen angeheitert Visionsarbeit für das bevorstehende Jahr zu machen. Da ihr Bruder beim Skifahren war, half Alice an dem Tag aus. Viel war in dieser Woche vor dem Dreikönigstag eh nicht los. Wer normalerweise zum Biertrinken und Spezialitäten essen hierherkam, war jetzt auf den Skiern oder am Strand. Der Hammerhof lag in der Nähe von Mainburg. Als ich knirschend mit meinem Audi A3 in die gekieste Auffahrt rollte, stand Alice mit einem Eimer Wasser in der Hand im Hof. Sie trug grobe weite Jeans, von der Sorte, wie sie Leute zum Arbeiten auf dem Land tragen, einen üppigen Pullover aus übermütig bunter Wolle und grüne Gummistiefel. Natürlich erkannten wir uns sofort wieder. Was für eine Überraschung. Na sowas. Toller Zufall. Es funkte mächtig zwischen uns. Das Schicksal schien mit Macht zu sprechen. Unsere Hände berührten sich gleich mit magnetischer Präzision. Wir nahmen uns sogar kurz in den Arm wie alte Schulfreunde, die sich voneinander hatten abschreiben lassen. Alice zeigte mir die Gaststube, die Brauerei und dann den ganzen Hof und stellte mich ihren Eltern vor, die mit dem Füttern des Viehs beschäftigt waren. Wache, kraftvolle Leute um die Sechzig, die nicht viele Worte über sich machten. Ab da waren wir praktisch zusammen und hatten noch am gleichen Abend Sex, den erhabenen Sex zweier Menschen, die Ehrfurcht voreinander haben. Auch sie hatte ein paar Tage frei und kam mit mir nach München. Wir hatten den Sex, der uns davon überzeugte, dass wir mit etwas Glück und Übung unser ganzes Leben miteinander verbringen konnten, ohne in der Einöde einer normalen Ehe zu sterben. Wir sprachen praktisch sofort übers Heiraten. Am Frauentag, dem 8. März (Alice mochte diesen Tag lieber als Valentinstag), schenkte ich ihr einen zierlichen goldenen Ring mit einem kleinen Smaragd, ein Geschenk an ihre Augen. Sie liebte ihn vom ersten Moment an, legte ihn gar nicht mehr aus der Hand, probierte ihn auf verschiedenen Fingern und steckte ihn schließlich auf ihren linken Zeigefinger. Keinesfalls wollte sie ihn ändern lassen, weil er am Ringfinger zu locker saß. Es war ja nicht so einfach mit solchen Geschenken. Natürlich konnte man immer ändern lassen oder umtauschen, aber so etwas war doch eine ziemliche Enttäuschung für alle. Ich hatte sie mit diesem Schmuckstück zum Leuchten gebracht und war trotzdem im Verlauf des Abends sehr aufgeregt. Mein nervöses Gerede passte überhaupt nicht zu der bedeutungsvollen Stimmung, die sich allein schon aus diesem Geschenk ergab und zur festlichen Atmosphäre des Dinners in unserem Lieblingsrestaurant in Giesing.
Die Situation verlangte also nach einem echten, förmlichen Antrag: »Ich liebe dich. Ich will mein Leben mit dir verbringen. Willst du meine Frau sein?« Und sie hatte »Ja« gesagt, eine ganze Reihe von Jas und zweifellos genug für eine Ehe. Der Abend verlief sehr zärtlich und berührend. Jeder Bissen des Hirschragouts und jeder Schluck des Burgunders waren ein Sakrament. Ab da schliefen wir bis zu unserer Eheschließung nicht mehr miteinander. Alice hatte mich von einer rund dreimonatigen Enthaltsamkeit, einem ‚Sex-Fasten‘ bis zu unserer Hochzeitsnacht, überzeugt. Die Abmachung war halb Spaß, aber auch halb Ernst, eine Art Wette, auf die ich mich beim Trinken der zweiten Flasche Burgunder bereitwillig einließ. Und tatsächlich rauschten die drei Monate wie ein beglückendes Projekt voller Durchschlagskraft vorbei. Meine Lust auf Sex verschwand, als müsse sie sich vom Stress jahrelanger Onanie erst mal erholen. Es war eine Zeit der Minne. Ich schrieb einige Gedichte, die ich meiner zukünftigen Frau vortrug, wenn wir zusammenlagen. Es war eine verzauberte Zeit, in der ich diese Gedichte spät nachts und in den frühen Morgenstunden per Hand schrieb; mit dunkelblauer Tinte in ein Büchlein mit altweißem Papier und lindgrünem Einband.
Wir betrachteten uns im Spiegel. Ich legte ihr meinen Arm um die Hüfte. Wir waren ziemlich genau gleich groß. Nur wenn sie sich an mich anschmiegte, wirkte sie kleiner und zarter, als sie sonst war. »Na dann, lass uns rübergehen und ein Kind machen«, sagte sie gut gelaunt mit ihrer leicht kratzigen Stimme, wie sie auch manche Sängerinnen haben. Alice sang selbst ziemlich gut. Wenn ihr danach war, trällerte sie Passagen von Nora Jones, Amy Winehouse und Adele. Sie wollte sich aus meiner Umarmung drehen, aber ich hielt sie fest. Ich wollte den Anblick dieses Paares im Spiegel noch eine Weile genießen.
»Soll es so aussehen wie du?«, fragte ich. »Meine Sommersprossen braucht es auf alle Fälle«, antwortete sie zärtlich und knabberte an meinem Ohr. »Du bist so schön«, sagte ich und zeichnete mit dem Zeigefinger ihre Kontur im Spiegel nach, malte Kreise um ihre kleinen runden Brüste und drückte einen Punkt in ihr orangefarbenes Dreieck. »Aber es soll unbedingt deinen Mund und dein Kinn haben, und natürlich deinen dunklen Teint, aber meine grünen Augen. Keine leichte Aufgabe, Meinst du, das kriegen wir hin?«
»Ich weiß nicht. Manchmal schlagen die Gene der Großeltern oder noch früherer Generationen voll durch. Da kann ich für nichts garantieren«, sagte ich. »Die Mendelschen Gesetze sind mir sehr wohl bekannt«, antwortete meine Frau, die Biologin, ein bisschen gereizt. Wir sprachen nicht oft darüber und ich hatte auch nicht davon anfangen wollen. Aber das Problem meiner Herkunft drängte sich unvermeidlich in unser Liebesspiel. Ich kannte meine Herkunft nämlich nicht und litt sehr darunter. Ich hatte keine Geschichte, keinen Stammbaum, der Auskunft darüber hätte geben können, ob ich einer ruhmreichen Familie entstammte, die schon seit Jahrhunderten ihre Traditionen und ihren Besitz von einer Generation zur nächsten weitergab; oder nur der Spross einer minderjährigen kleinen Hure war, die nicht wusste, wer mein Vater war, es aber nicht übers Herz gebrachte hatte, mich abzutreiben oder nur zu stumpfsinnig war, sich darum zu kümmern. Das schien mir bisweilen am wahrscheinlichsten: das Kind eines verzweifelten Mädchens zu sein, das den Vater nicht kannte. Sie hatte mich, anfangs verzweifelt und dann resigniert ausgetragen. Und meine wahre Herkunft für immer gelöscht, als sie mich am 6. Januar 1980 am Eingang eines Westberliner Krankenhauses in einem Kinderwagen zurückgelassen hatte. Dieser Tag jedenfalls galt als Datum meiner Geburt. Aber über meiner Herkunft lag ein Leichentuch. Ich schämte mich vor Alice über dieses Leid, das ich in unsere Beziehung hineingeschleppt hatte wie eine chronische