Luft holen. Gabriele Freytag
in den letzten Tagen und Wochen, in denen das Leben so schien wie immer? Die kleinen Auszeiten ohne das Gefühl der Bedrohung sind vermutlich gerade selten und kostbar. Bei mir ereignen sich Momente der Selbstvergessenheit wenn ich mich auf die Natur einlasse. Aber auch beim Essen und Trinken, an einem schön gedeckten Tisch mit etwas Feinem vor mir und in guter Gesellschaft fühle ich mich herrlich unbeschwert, gerne, Ihr kennt mich, mit einem guten Wein. Da fällt mir auf: Ich muss mit Sigrid vereinbaren, dass wir am Esstisch nicht über Corona sprechen.
Außerdem sehe ich gerade gerne Krimis. Es kommt mir vor, als würden sie mich entspannen, obwohl, einer tieferen psychologischen Sondierung hält dieser Effekt nicht stand, denn letztlich lenken sie nur ab. Zumindest bin ich eineinhalb Stunden von etwas ganz anderem gepackt und durchgeschüttelt. Mit Corona habe ich mir sofort den großen Fernsehfreifahrtschein ausgestellt. Normalerweise beschränke ich mich auf ein Mal die Woche, sonntags Tatort oder Polizeiruf reichte bisher.
Zu unserem Glück beschenkt uns die Natur großzügig – nicht nur morgens vor dem Schlafzimmerfenster. Wenn ich auf Vögel lausche, einen Baum umarme oder die sich gerade wieder intensivierenden Düfte erschnuppere geht’s mir prima. Aber auch da: Lieber nicht ständig mit Sigrid auf dem Spaziergang über die Coronalage reden oder alleine darüber nachdenken. Vielleicht am besten dosieren? Hinweg ja, Rückweg nein?
Sobald ich mit Kindern spiele konnte ich immer wunderbar abschalten. Doch mich mit den drei hier lebenden Kleinen zu treffen verbietet sich leider gerade. Physische Distanz bei unseren üblichen quirligen Unternehmungen wäre unmöglich. Sobald sich die Gelegenheit ergibt werde ich erklären, warum wir jetzt nicht näher zusammenkommen dürfen. Vielleicht begreifen sie ja, dass ich ihnen auch aus der Distanz nahe bin, das wäre schön – aber unwahrscheinlich.
Klavierspielen wollte ich wieder anfangen, gute Gelegenheit, steht schon ewig auf dem Zettel. Offensichtlich habe ich jedoch so lange pausiert, dass ich die Noten teilweise nicht mehr lesen konnte. Bei Satie sind sie aber auch besonders schwierig, tröste ich mich. Bisher hatte ich mich auch nach längerer Unterbrechung einfach auf den Hocker gesetzt und los gespielt, erst holprig, dann allmählich besser. Webrecherche hat geholfen. Die Noten sind mir wieder klar. Gespielt habe ich noch nicht. Fragt ruhig nach. Aber nicht so bald.
Lesen könnten wir jetzt alle ganz ausgiebig. Theoretisch. Gestern habe ich „Die Winterbienen“ recht zügig, man könnte sagen hektisch, quergelesen. Ein tolles Buch, ich schob meine Aufmerksamkeitsdefizite darauf, dass es für mich nicht ganz das richtige war, vielleicht zu sehr Männerbuch – habe es ja auch für einen Nachbarn zum Geburtstag gekauft. In der Regel lese ich das zu verschenkende Buch vorher ganz behutsam durch, man merkt es kaum. Sollte Ihr jemals von mir ein Buch bekommen – jetzt kennt Ihr mein Geheimnis. Meine Schwierigkeit, in Ruhe und Seite für Seite zu genießen hängt, so schwant mir, damit zusammen, dass ich momentan die innere Gelassenheit einfach nicht aufbringe. Trotzdem suche ich weiter nach dem richtigen Buch. Die genau passenden Lektüre zu finden ist ein heikles aber lohnendes Vorhaben, welches Wochen in Anspruch nehmen kann. Jetzt sollte es schneller gehen.
Vom Münchner Frauenbuchladen bekam ich eine Mail „Wir sind weiter für euch da“. Nun endlich werde ich nicht mehr beim Großversand, den man auch vorher keinesfalls unterstützen sollte, bestellen, sondern da wo es segensreich und nötig ist. Versprochen.
Gedanken, Gefühle und Impulse zu disziplinieren scheint mir jetzt mehr denn je zuträglich. Gestern Abend habe ich bewusst nicht „Hart aber fair“ gesehen – nur heute die Zusammenfassung gelesen. Es war mir zu viel, ich brauchte einen Abend, an dem ich früh zu Bett ging, Yoga praktizierte und meditierte, und vor allem benötigte ich erholsamen Schlaf. Zu letzterem, das weiß ich, trägt eine aufwühlende Sendung, auch wenn sie um halb elf zu Ende sein sollte, nicht bei. Und ja, es hat geklappt. Damit keine Missverständnisse aufkommen, ich glaube, ich habe die Sendung mit Frank Plaßberg noch nie in meinem Leben ganz gehört, nur jetzt mache ich das anders. Es liegt daran, dass ich verbunden bleiben möchte mit einer Art kollektivem Corona-Bewältigungsprozess, und dazu dienen mir auch Fernsehsendungen. Selbst den gefühlt zwanzigsten Mehrteiler über die Nachkriegszeit, mit wahlweise Anna Mühe, Iris Berben oder Maria Furtwängler in taillierten Blümchenkleidern, derben Schuhen und Flechtfrisuren – ich werde ihn mir anschauen, denn ich will dabei sein.
Zudem glaube ich, dass uns jetzt eine Menge über die Kriegsund Nachkriegszeit hochkommen wird, nicht nur bei denen, die es erlebt haben, sondern aus unserem gemeinsamen Unbewussten. Corona bedeutet zwar nicht Krieg und Kriegsmetaphern im „Kampf gegen das Virus“ finde ich fehl am Platze, doch wir leben in einem Ausnahmezustand, der Besorgnis hervorruft und drastische Verhaltensänderungen erfordert. Außerdem beeinträchtigt das Virus die ökonomische Sicherheit und Planbarkeit der Zukunft.
Auch wenn der Spruch, den ich auf Italienisch gelesen habe, stimmt „Von unseren Großvätern wurde gefordert, dass sie in den Krieg ziehen, wir hingegen sollen nur auf dem Sofa sitzen bleiben und Serien schauen“ beschreibt er nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite spielt es keine Rolle, wenn Corona verglichen mit dem zweiten Weltkrieg deutlich harmloser ausfällt. Psychologisch gesehen macht die Unterscheidung zwischen mehr oder weniger zerstörerisch, mehr oder weniger grausam und blutig, keinen Sinn. Ein Zustand, der kollektiv enorme Angst und Verunsicherung erzeugt, fordert die emotionale Stabilität nun mal heraus. Wir wissen nicht, was auf uns zukommen wird, und wir wissen vor allem nicht, ob wir den Folgen dessen, was möglicherweise auf uns zukommen wird, gewachsen sein werden. Werden wir in der Lage sein durchzuhalten? Wer wird womöglich auf der Strecke bleiben? Und was können wir tun?
Liebe Elke, Judith, Claudia, Birgit, Gabi, Susanne, Ulrike, Kerstin, Ute, Uschi, Mari, Eva, Anette, Christine, Dagmar,
Petra und die drei Sigrids,
Freue mich sehr über die tolle Resonanz! Da kommt eine feine und gar nicht mal so kleine Gruppe von Adressatinnen zusammen! Die am weitesten entfernten leben in Galicien (Hallo Eva und Anette von Knulps-Reisen!), Südfrankreich, die Schweiz und natürlich die italienischen Marken sind vertreten, außerdem Berlin, Hamburg, Daudieck, Bonn, Stade, Hannover und die Pfalz. Der Osten fehlt noch mangels korrekter E-Mail-Adresse, wird sich aber hoffentlich demnächst dazu gesellen.
Über Rückmeldungen wie „Tut so gut die Texte zu lesen“ und „Bitte weiter schreiben, warte schon auf mehr“ hab ich mich doll gefreut. Schön wäre es, wenn eine Art Gemeinschaft durch die Rundbriefe ermöglicht würde.
In diesem Sinne take care und Danke Gabriele
KRISENGESPRÄCHE
18.3.2020
Heute waren 18 Grad und Sonne angekündigt, ich freute mich auf einen herrlichen Frühlingstag. Gabi wollte aus Hamburg zu Besuch kommen und wir planten eine Wanderung, zum ersten Mal mit Anwendung der Abstandsregeln. Gabi war froh raus aus der Stadt zu fahren und nicht immer so viele Leute vor der Nase zu haben wie an Elbe und Alster. Allgemein, haben wir festgestellt, gehen die Menschen jetzt mehr spazieren. Über Gut Daudieck wälzen sich an schönen Tagen Massen von SpaziergängerInnen wie wir sie vorher nie gesehen haben.
Als Gabi aus dem Auto stieg zeigte sich der Himmel bedeckt und grau, der Wind wehte kühl. Wir beschlossen trotzdem gleich loszugehen. Die übliche Umarmung wurde aus der Ferne mittels geöffneter Arme angedeutet, der gemütliche Stop in meiner Wohnung fiel flach. Wir achteten immer schön auf einen Meter fünfzig zwischen uns, was eine gewisse Anspannung hervorrief, aber auch nicht sonderlich schwierig war. Statt Tee auf dem Sofa hatten wir den Rucksack mit der Thermoskanne dabei. Auf der gewohnten Bank am nächsten Fischteich war reichlich Platz an beiden Enden. Eine vorbei joggende Nachbarin kommentierte unsere Sitzordnung leicht ironisch mit: Na ihr macht das aber vorbildlich. Gegen Abend waren wir vier Stunden an der Luft gewesen und hatten mit den unterschiedlichsten Leuten geredet, immer auf Distanz, alle hatten sich bereits eingestellt, mitten in der Pampa.
Sogar die Kinder, die ich am späten Nachmittag auf dem Trampolin vorfand, rannten nicht wie sonst auf mich zu. „Coronavirus“ krähte der Vierjährige als ich gerade Luft holte für eine längere Erklärung. Danach hab ich die drei bestimmt zwanzig Minuten aus der Ferne beobachtet. Gelegentlich warfen sie einen kurzen Blick über die Schulter: Ihre Salti und kleinen Ringkämpfe, so redete ich mir ein, waren auch für mich. Ich versuchte, tapfer zu sein,