Luft holen. Gabriele Freytag

Luft holen - Gabriele Freytag


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wir auch an einem schönen kollektiven Ritual teilhaben wollen werden wir heute Abend um 19 Uhr über Livestream mit Mutter Meera meditieren.

      Liebe Coronaschwestern und Brüder,

      Heute endlich herrliche Frühlingssonne, passend zum Datum, hoffe viele von Euch konnten das wunderbare Wetter ebenfalls draußen genießen … Morgen mache ich wohl mal eine Pause, wenn ich es selbst entscheiden konnte hab ich sonntags immer aufs Arbeiten verzichtet – und das Verfassen der Texte macht mir zwar viel Freude, Arbeit ist es aber trotzdem.

      Stay safe and as happy as you can Gabriele

      DAS WEINEN IN DER WELT

      21.3.2020

      Wer hat sich nicht wegen Klopapier gesorgt? Vor über vier Wochen war ich zum letzten Mal in einem für die Beschaffung der begehrten Ware geeigneten Laden und die Vorräte gehen allmählich zur Neige. Sigrid und ich hatten bereits überlegt, ob Gärtnerei Kronacker auch Toilettenpapier im Angebot hat, kamen uns aber lächerlich vor danach zu fragen.

      Nachdem ich am Vortag von Birgit erfahren hatte, dass eine ihrer Kolleginnen sechs verschiedene Supermärkte durchkämmt hatte ohne danach das gesuchte Gut am Ende in den Händen zu halten, wurde ich noch sparsamer. Ich fing an mir vorzustellen, wie man das direkt neben der Toilette befindliche Waschbekken in den Vorgang einbeziehen könnte. Reinigung mit Wasser statt Papier wäre die Variante, die wir von unseren syrischen NachbarInnen kennen. Die Gemeindeverwaltung hatte damals nichts unversucht gelassen, den Zugezogenen ihre Hygienetradition abzugewöhnen. Es gab Flyer mit Zeichnungen über die korrekte Toilettenbenutzung. Jetzt, so dachte ich, wären arabische Toilettensitten doch überaus praktisch. Den Witz, dass die Franzosen Käse und Wein bunkern, die Italiener Pasta und Kondome – und die Deutschen na was wohl, kennt Ihr sicher bereits. Meiner Ansicht nach fehlen die Bücher. Die Vorstellung wie meine Landsleute mit einem schönen Buch auf der Toilette sitzen gefällt mir außerordentlich. Die Deutschen sind in Europa das Volk, welches am meisten liest.

      Heute morgen fand ich eine große Packung Toilettenpapier vor meiner Wohnungstür, plus Haushaltsrollen, plus Papiertaschentücher. Danke Birgit.

      Einkaufen war ich durchaus in den letzten Wochen, ganze zwei Mal im Fischladen. Der Horneburger Fischladen, Forellen Wilke, wer schon mal bei mir zum Essen war wird seine Produkte kennen, ist, zumindest wenn ich dort einkaufe, immer gähnend leer. Die Theke ist so groß, dass die Verkäuferin dahinter verschwindet. Wenn sie überhaupt kommt, denn nach dem Eintreten muss ich mich stets gefühlte fünf Minuten mit der Gesellschaft der toten Fische begnügen. Angst vor Ansteckung braucht man dort wahrhaftig nicht zu haben. Dafür kann man wirklich frischen Fisch kaufen. Frisch heißt, um das nochmal in Erinnerung zu rufen, nicht eingefroren und wieder aufgetaut, sondern auf Eis mittels Kühlwagen geliefert – oder sowieso aus häuslicher Produktion, also aus den benachbarten Seen. Fisch Wilke ist der einzige Laden in Horneburg, den ich richtig gern besuche. So. Jetzt hab ich mir aber mindestens vier Wochen lang den Fisch umsonst verdient. Text geht in Kopie an Fisch Wilke. Walter Steinmeier hat einen Brief geschrieben. Und zwar mit der Hand an Giorgio Matarella. Eine Überleitung zu den beiden Präsidenten hätte lauten können: Steinmeier hätte Mattarella sicher gerne zu Forelle blau nach Schloss Bellevue eingeladen, aber das geht ja nun leider überhaupt nicht. Mattarella kommt schon lange nicht mehr raus, und Steinmeier seit neuestem auch nicht mehr. Außerdem kämen beide nicht rein in das Land des anderen.

      Besagter Brief wurde abgeschickt, vielleicht ein bisschen spät, ist aber sehr schön zu lesen: „Ich möchte Dir und dem ganzen italienischen Volk in dieser ungeheuer schweren Situation die Solidarität meiner Landsleute und meine tiefe persönliche Anteilnahme ausdrücken.“ Und zum Schluss „Herzliche Grüße, vi siamo vicini – Dein Frank Walter Steinmeier.“ Vi siamo vicini stand da tatsächlich und heißt: Wir sind euch nah. Und duzen tun sie sich auch.

      Wie gesagt, es wurde Zeit. Die ItalienerInnen begannen schon nervös zu werden angesichts mangelnder europäischer und speziell deutscher Solidarität. Und wir wissen: Wenn Italiener nervös werden kann es haarig werden. Spahns anfängliche Weigerung, Atemmasken zu exportieren, hat uns schlecht aussehen lassen, auf italienisch: brutta figura. Sogleich wurden in Italien Parallelen gezogen zum europäischen Umgang mit den sogenannten Flüchtlingsströmen. Man fühlte sich im Stich gelassen. Inzwischen gab es diverse Hilfslieferungen unsererseits Richtung Italien per Luftfracht, außerdem eine nicht näher spezifizierte Zusammenarbeit der GesundheitsministerInnen. Grad noch mal gutgegangen, denke ich. Gleichzeitig bin ich sicher, dass die deutsche Hilfe in unserem südlichen Lieblingsurlaubsland wenig zur Kenntnis genommen wird. Deren beste Freunde sind gerade die ChinesInnen, die haben nämlich heldenhaft sofort ein Flugzeug mit Apparaturen, Medizin und ÄrztInnen ins Land geschickt. (Ich kommentiere das jetzt nicht.)

      In der taz wurde diskutiert, dass man die Menschen, die in Italien nicht medizinisch behandelt werden können, nach Deutschland ausfliegen könnte, denn hier haben wir noch Kapazitäten.

      Wenn dann für einen deutschen schweren Fall das Bett belegt sein sollte, gälte, so der Kolumnist der taz, ein deutscher Toter wiege nicht mehr als ein italienischer Toter. Autsch! Das touchiert den wunden Punkt. Wir haben uns, so stelle ich fest, daran gewöhnt national zu denken. Und wir können uns jeden Tag freuen, so versichern uns VirologInnen und PolitikerInnen, dass Deutschland hoffentlich und mit ziemlicher Sicherheit kein zweites Italien werden wird. Christliche Nächstenliebe geht anders.

      Da freuen wir uns doch lieber über Frau Lagarde, die vorgestern ohne Federlesen dem Drucken von neuem Geld zugestimmt hat. Damit rettet sie Italien vor der Verelendung. Grazie, Signora Presidente der Europäischen Zentralbank. Die Formulierung mit dem Elend stammt nicht von mir, ich habe sie einem Artikel der der taz von gestern entnommen und der stammt aus der Feder der klugen Ulrike Herrmann: „Es ist ein historischer Moment: Die Europäische Zentralbank hat entschieden, Geld in unbegrenzter Menge zu „drucken“. … An Geld wird der Kampf gegen das Virus also nicht mehr scheitern … Kein anderes EU-Land ist von der Corona-Epidemie so getroffen, dennoch wagte die Regierung in Rom es nicht, ihren Haushalt zu erhöhen, weil sie Angst vor steigenden Zinsen hatte. … Italien wäre zu einem Elendsgebiet geworden, wenn die EZB nicht eingegriffen hätte.“ Bisher hatte ich mich ja wenig bis gar nicht zur Ökonomie geäußert, obwohl ich mir über die wirtschaftlichen Folgen von Corona natürlich Gedanken mache. Mit dem zitierten Artikel habe ich den Einstieg ganz oben gewählt: EZB. Staatshaushalte. Zinsen für Staatsanleihen. Warum kleckern, wenn da die Weichen gestellt werden.

      Heute fängt der Frühling an. Letzte Nacht, als ich von Sigrids Haus zu meinem schlenderte, leuchteten die Sterne so eindringlich, als wollten sie uns aus dem All eine Botschaft zu morsen.

      Das außergewöhnliche Erlebnis wurde möglich, weil Daudieck sich gegen die Lichtverschmutzung zur Wehr setzt. Wir hätten zwar Anspruch auf Straßenlaternen, als Teil der Gemeinde Horneburg, aber wir wollen sie nicht. Das nächtliche Strahlen war unglaublich schön, vielleicht wegen der Windstille, des besonders klaren Himmels, sicher aber wegen Ostara, die Göttin der Frühlingstagundnachtgleiche. Ab jetzt überwiegt die Helligkeit die Dunkelheit. Kore kehrt aus der Unterwelt wieder zu ihrer Mutter Demeter zurück. Fundstück: „Als Jäger die Göttin der Morgenröte, Ostara, fast zu Tode hetzten, soll sie die oberste Göttin in einen Hasen verzaubert haben.“ Nur mal so als Idee: Was wäre, wenn die oberste Göttin uns alle, die wir uns grade bedroht fühlen und gehetzt, in Hasen verwandeln würde, selbstverständlich temporär? Klar, wir hätten dann zu Ostern eine Menge zu tun …

      Auf dem Hinweg zu Sigrid fühlte ich mich, als sei ich unterwegs zu einer Verabredung. Verabredungen sind ja jetzt anders definiert. Punkt Sieben treffen wir Mutter Meera, sie tritt von der Seite ins Bild und nimmt Platz, wie immer in einem wunderschönen Sari. Einige Minuten schaut sie direkt in die Kamera, gefühlt in die Augen der Zuschauenden, dann senkt sie den Blick. Ich hatte schon vorher zu Gabi am Telefon gesagt „Ich glaub, ich muss dann weinen“. „Auch sehr wichtig“ antwortete Gabi.

      Sigrid wusste nichts von meiner Wein-Ankündigung, meinte jedoch nach der Meditation als erstes „Mir war als würde Mutter Meera weinen“. Auch meine Gedanken waren in diese Richtung gegangen, ich hatte mich sogar, als Sigrid schon rausgegangen war um die Kartoffeln aufzusetzen, ganz nahe an den Bildschirm gebeugt (meine Kurzsichtigkeit


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