In all den Jahren. Barbara Leciejewski
mir eine schmale Hand hin. „Du musst Elsa sein, richtig?“ Klar, man duzte sich.
„Ja“, sagte ich und nahm ihre Hand, eine Fischhand, das hatte ich schon vorher geahnt. Labbrig und kühl lag sie in meiner, ohne auch nur ansatzweise den leichten Druck zu erwidern, der normalerweise beim Händeschütteln dazugehörte. Eklig.
„Ich bin Ramona, ich mach hier Dramaturgie und bin die Assistentin der Theaterleitung.“
Sie redete, als würden wir uns gerade in den Münchner Kammerspielen befinden und nicht in einem Schuppen.
„Komm mit.“ Sie machte eine Kopfbewegung zu der Gruppe und schwebte voraus.
Ein kleiner, zauseliger Typ mit ungewaschenen Haaren und einem geklebten Brillengestell kam uns ein paar Schritte entgegen. Er behielt die Hände in den Taschen seiner versifften Cordhose, worüber ich erleichtert war.
„Das ist Markus Hansemann, unser Regisseur und Theaterleiter. Elsa Frank“, stellte Ramona uns vor, begleitet von eleganten Bewegungen ihrer Fischhände.
„Du hast schon gehört, was wir vorhaben?“, sagte der Regisseur ohne Begrüßung, aber mit der metallischen, tragenden Stimme eines echten Schauspielers.
„Ähm, nicht wirklich“, sagte ich.
Daraufhin breitete er seine künstlerische Vision vor mir aus, als hätte er nur darauf gewartet. Gestenreich und in vielen blumigen Worten erklärte er mir seine Interpretation des Hamlet, betonte die, wie er sagte, dialektische Herangehensweise seiner Inszenierung und die transzendentale Pigmentierung, die ihm besonders wichtig erschien.
„Transzendental im Sinne Kants natürlich“, betonte er.
„Natürlich“, sagte ich ernst. Ganz gleich in welchem Sinne, ich wusste nicht, was das heißen sollte: transzendentale Pigmentierung.
Die anderen standen ein paar Meter von uns entfernt und hörten dem Meister bewundernd zu.
„Und ich soll also den Hamlet spielen?“, vergewisserte ich mich noch einmal.
„Alle Männerrollen werden mit Frauen besetzt und die Frauenrollen mit Männern, das ist ein wesentliches Element der Dialektik, wie ich sie einführe.“
Wie bitte? Hatte er schon einmal etwas vom dialektischen Theater bei Brecht gehört? Hatte er es verstanden? Und was wollte Hansemann da noch einführen?
„Also gut“, sagte ich und überging den Punkt einfach. „Ich habe den Hamlet natürlich nicht drauf, aber …“
„Das macht gar nichts, denn wir werden den Text ablesen“, unterbrach mich Hansemann.
„Oh! Gut!“, sagte ich und zog meine Reclam-Ausgabe hervor.
„Die kannst du stecken lassen. Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, den ganzen Text neu zu übersetzen“, sagte Hansemann sofort. Die Assistentin reichte ihm wie auf Kommando einen DinA4-Ordner, den er, ohne sie anzusehen, an mich weitergab.
Hamlet. Nach William Shakespeare in einer Übersetzung von Markus Hansemann stand da. Nach? Nach William Shakespeare? Zudem kam mir der Ordner ziemlich dünn vor. Ich schlug die erste Seite auf und überflog sie rasch.
Ich hatte, um meine Hamlet-Kenntnisse ein wenig aufzufrischen, das ganze Stück in der Nacht zuvor quergelesen, deshalb fiel mir sofort auf, dass sowohl die ganze erste Szene als auch der Anfang der zweiten Szene fehlte und ich war mir ziemlich sicher, dass auch der Dialog im Original etwas ausführlicher war, neue Übersetzung hin oder her. Meine gerunzelte Stirn bemerkend, meinte Hansemann: „Ich habe den Text etwas gekürzt. In der Kürze liegt die Würze.“ Er lachte und entblößte dabei zwei dunkelgelbe Zahnreihen.
„Soll ich jetzt vorsprechen?“, fragte ich, nicht sicher, ob ich das überhaupt noch wollte. „Soll ich vielleicht den berühmten Sein-oder-Nicht-sein-Monolog sprechen?“
„Der ist auch gestrichen“, sagte Hansemann und als ich die Augen aufriss, meinte er nur: „Also ich bitte dich, der ist doch so was von abgedroschen.“
„Der Markus ist einfach genial“, flüsterte eine Frau mit ausladenden Hüften, die ich mir im Geiste schon als Polonius vorstellte, einem neben ihr stehenden Kollegen zu. „Der scheut sich nicht, die alten Hüte auszuräumen.“
Der geniale Markus tat so, als hörte er die Bemerkung seiner Bewunderin nicht, doch der angesprochene junge Mann – sicher Ophelia – nickte zustimmend und ehrfürchtig.
Plötzlich ging mir der Gaul durch. Ich hatte einen Ensembletag, der zwar ätzend war, ja, aber immerhin gutes Geld bedeutete, für diese Nasen sausen lassen. Für diesen aufgepumpten, ungewaschenen, überheblichen Zausel, der meinte, er könnte das Theater neu erfinden, und vorhatte, Shakespeare dabei zu vergewaltigen. Für diese Möchtegerns und Pseudo-Künstler, die sich nur in einer verlassenen Werkstatt trauten, ihr Unvermögen und ihren Wahnsinn zur Schau zu stellen. Ich kam mir vor wie in einem Masturbationsklub.
Ich knallte dem genialen Markus Hansemann den Ordner vor die Brust und sagte: „Lass uns doch bitte noch über die Gage reden, Markus, okay? Du weißt ja – um es mit Lessing zu sagen –: ‚Die Kunst geht nach Brot’. Oder ist das auch ein alter Hut?“
Markus Hansemann war verblüfft. Im Hintergrund brütete Empörung.
„Also, es ist dir doch klar, dass das hier noch ein sehr junges Theater ist, und bis wir uns etabliert haben …“, setzte er an.
„Es ist mir klar, dass das hier ein Schuppen ist und dass ich hier meine Zeit verschwende“, blaffte ich ihn an. „Ich werde für das, was ich tue, bezahlt. Ich habe mein Handwerk gelernt und ich möchte mich bei William Shakespeare, falls er irgendwo da oben zuhört und inzwischen Deutsch spricht, dafür entschuldigen, dass ich mir diese gequirlte Scheiße so lange angehört habe.“
Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stürmte davon. Hinter mir hörte ich ein halblautes, zaghaftes „Miststück!“ von Polonius.
Jetzt tat sie mir leid. Alle taten mir leid. Doch ich ging weiter, ohne zu reagieren, und ließ meinen schlimmsten Albtraum hinter mir. Da drinnen waren lauter Leute, die es nicht einmal in ein richtiges Hinterhoftheater schaffen würden, nicht einmal in den Sprecherraum eines Synchronstudios bei einem Ensembletag, nicht einmal in den Einspieler von Aktenzeichen XY. Warum hatte ich nicht einfach gehen können, ohne sie zu beschimpfen? Einfach nur: „Tut mir leid, das ist, glaub’ ich, nichts für mich.“ Einfach nur lügen.
Ich lief die Straße hinunter, ohne darüber nachzudenken, wo ich war oder wo ich hin wollte. Es drohte, wieder einer dieser miesen Tage zu werden, an denen ich mich selber nicht ertragen konnte. Miststück!
Ich erreichte die Leinthalerstraße und beschloss, durch den Englischen Garten zu gehen. Ich hatte keine Lust, mich in die U-Bahn zu setzen. Außerdem war es ein ungewöhnlich warmer und sonniger Tag, ich hatte nichts anderes mehr vor, keiner wartete auf mich, also war es egal. Vielleicht würde ich mir den ganzen Ärger ja einfach ablaufen.
Als ich beim Aumeister, dem gemütlichen Biergarten im Norden des Englischen Gartens, ankam, staunte ich nicht schlecht. Da waren tatsächlich einige Tische aufgebaut und Leute in warmen Jacken saßen in der Sonne und tranken Bier. Es sah so einladend aus, dass ich mich am liebsten auch hingesetzt hätte. Aber ich setzte mich nie alleine in eine Kneipe, auch nicht in einen Biergarten. Ich wollte gerade weitergehen, da hörte ich, wie jemand meinen Namen rief.
„Elsa?“
Ich blieb stehen und schaute mich um. Da stand ein junger Mann auf und winkte ein wenig unsicher. Groß, blond, wellige Haare, weder außergewöhnlich attraktiv noch außergewöhnlich unattraktiv. Ein mittelmäßig attraktiver Mann, der mir zuwinkte und meinen Namen kannte. In meinem Gehirn arbeitete es. Woher kannte ich den? Vom Synchron? Von früher? Von Aktenzeichen? Meine Verwirrung stand mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben, denn der Typ lächelte und kam auf mich zu.
„Ich dachte mir schon, dass ich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen habe“, sagte er halb ernst, halb scherzend. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: