In all den Jahren. Barbara Leciejewski
sich nichts ändern.
Mitte März rief Jürgen an, um sich erneut mit mir zu verabreden. Er hatte sich schon öfter zwischendurch gemeldet, doch er hatte nie Zeit für ein Treffen gefunden. Jetzt waren die Prüfungen vorbei und das wollte er feiern.
Wir trafen uns in einem Lokal in Schwabing. Zur Begrüßung umarmte er mich und lud mich zum Essen ein. Auch diesmal wurde es ein netter Abend, auch wenn wieder hauptsächlich er es war, der erzählte. Von den vergangenen Prüfungen, von den Kommilitonen, die einem Nervenzusammenbruch nah waren und von einer, die tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, von den mündlichen Prüfungen, die im Juli anstanden, und seiner Hoffnung, dass er dann im Herbst beim Amtsgericht seine Referendarstelle antreten und endlich aus der engen WG in der Studentenstadt ausziehen konnte.
„Ich drück dir ganz fest die Daumen“, sagte ich.
„Danke“, sagte er, nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen.
Natürlich konnte ich die Hand nicht einfach so zurückziehen, obwohl ich ihm das falsche Signal gab, wenn ich es nicht tat. Der Ober war meine Rettung, als er das Essen brachte. Ich fühlte mich zunehmend unwohl, weil ich nun wusste, was Jürgen von mir wollte und gleichzeitig erkannte, dass es ganz und gar nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
Er schien nichts von meinem Unbehagen zu spüren. Nach dem Essen bestellten wir noch einen Kaffee, danach ließ er sich die Rechnung geben und schlug vor, noch einen kleinen Spaziergang die Leopoldstraße hinunter zu machen. Ich steckte die Hände vorsorglich in die Taschen meiner Jacke. Die Luft war klar und kalt und der Himmel sah aus wie ein schwarzes Zelt, geschmückt mit winzigen Lichtern. Das Siegestor lag glänzend vor uns, umringt vom Verkehr der Abendschwärmer in ihren schicken Autos. Viele schwarze BMWs, dachte ich und ertappte mich dabei, dass ich Jürgens Monologen gar nicht mehr folgte. Ich beeilte mich, mit einer Kopfbewegung in seine Richtung zu reagieren und so zu tun, als wäre ich ganz Ohr.
Er lächelte mich an, ich lächelte zurück. Natürlich, denn das war höflich, oder nicht? Er nahm es jedoch als Einladung, den Arm um meine Schulter zu legen.
„Du siehst aus, als wär dir kalt“, erklärte er und rieb ein wenig meinen Oberarm.
„Eigentlich nicht“, sagte ich ehrlicherweise.
„Soll ich meinen Arm wieder wegnehmen?“, fragte er. Man hörte deutlich, dass er ein ‚Nein’ erwartete.
Ich hasste solche Situationen. Ich wollte mich weder zu etwas zwingen lassen noch wollte ich jemanden verletzen.
Ich machte eine undefinierbare Grimasse und sagte etwas, das klang wie „Ngh“.
Der Arm blieb, wo er war.
So schritten wir die Ludwigstraße in all ihrer Pracht hinunter. Ja, schreiten trifft das, was wir taten, ziemlich gut, denn ich versuchte, mich nicht an ihn zu lehnen und meine Hüfte möglichst nicht seine berühren zu lassen, was ein Kunststück ist, wenn der Oberkörper sozusagen von einem Fremd-Arm eingekesselt ist. Es war alles sehr unbequem.
Als wir endlich den Odeonsplatz erreichten, nutzte ich die Gelegenheit auszubüchsen.
„So, dann werde ich mir mal die nächste U-Bahn schnappen“, sagte ich und drehte mich dabei geschickt aus seinem Arm heraus.
„Schade“, sagte er.
„Ich muss morgen früh raus“, erklärte ich.
„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er direkt. „Morgen Abend?“
Ach du liebe Güte, dachte ich, der hatte es wirklich eilig. Ich hatte keine Lust, mir die ganzen nächsten Tage über Ausreden einfallen zu lassen.
„Morgen hab ich leider schon was vor“, hörte ich mich sagen.
Ein einfaches ‚Nein’ hätte es auch getan. Genau wie zuvor: Nein, ich möchte eigentlich nicht, dass du deinen Arm um meine Schulter legst. Und alles wäre klar gewesen. Ich musste das noch üben.
„Was hast du denn vor?“, fragte er doch tatsächlich. Hallo?! Ging ihn das etwas an?
„Ich ruf dich an, okay?“, sagte ich, ohne zu antworten. Älteste Strategie von allen: Fragen, die man nicht beantworten will, überhört man einfach.
„Okay“, sagte er und schien es zu kapieren.
„Also dann“, sagte ich und bevor er irgendetwas tun konnte, was ich nicht wollte, beugte ich mich vor und luftküsste ihn auf beide Wangen. Diese unverbindliche, pseudoherzliche Schicki-Micki-Begrüßungsart, die ich eigentlich verabscheute, war manchmal gar nicht so schlecht.
„Bis dann!“
Ich sah mich noch einmal zu ihm um, winkte und glitt dann auf der Rolltreppe nach unten. Vor lauter Verwirrung hatte er Gottseidank vergessen, dass er ja auch die U-Bahn nehmen musste, nur in die Gegenrichtung.
Ich meldete mich ein paar Tage lang nicht. Er hinterließ zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und ich sorgte dafür, dass ich erst zurückrief, als ich glaubhaft versichern konnte, dass ich für ein Treffen momentan leider keine Zeit hatte. Ich hatte viel beim Synchron zu tun – lauter Kleinkram –, ich wollte Edda besuchen und zu allem Überfluss kam demnächst endlich meine Freundin Johanna aus Australien zurück. Da war kein Platz für Jürgen. Er bedauerte es sehr, aber schließlich musste er auch schon wieder für die mündliche Prüfung lernen. Und so verlief diese Geschichte langsam im Sande. Ich fand es eigentlich schade, denn Jürgen war nett, ich verstand mich gut mit ihm, aber mit seinem Tempo konnte ich nicht mithalten und fühlte mich regelrecht davon abgestoßen. Außerdem wollten wir ganz offensichtlich ohnehin nicht dasselbe.
Also war ich wieder allein.
Das heißt, fast allein, denn Johanna würde bald wieder da sein oder vielmehr Jo, was viel besser zu ihr passte, denn man hatte bei ihr immer das Gefühl, sie könnte jederzeit einen Colt ziehen oder die Peitsche schwingen oder jemanden verprügeln. Jo war der impulsivste Mensch, den ich kannte, und wenn ihr etwas nicht passte, dann sagte sie es laut und deutlich. Im Gegensatz zu mir, konnte sie sehr gut „Nein“ sagen. Sie wirkte oft unfreundlich und barsch, aber man konnte mit ihr jede Menge Spaß haben und es war einfach ansteckend, wenn sie laut lachend den Kopf in den Nacken warf und dabei wild mit den Händen ruderte. Es war ihr völlig gleichgültig, was andere von ihr dachten, sie tat, was sie wollte und wann sie es wollte. Australien hatte auch dazugehört. Sie wollte eigentlich nur den Urlaub dort verbringen, doch dann kam eine Karte, auf der sie verkündete, dass sie erst einmal dort bleiben würde. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie sie über die Runden kam, sie fand immer irgendwelche Jobs, die Kenntnisse dreier abgebrochener Studiengänge (BWL, Soziologie und Psychologie) und zweier halb abgeschlossener Ausbildungen (Hotelfach und Schreiner) halfen ihr dabei. Jo war einzigartig und oft war man geneigt zu sagen: Gottseidank.
Jetzt kam sie also zurück. Ich erwartete, dass sie mich darum bitten würde, vorübergehend bei mir wohnen zu dürfen, doch sie schrieb, dass sie bereits eine Wohnung hätte. Ich war überrascht und fragte mich, wie sie das von Australien aus gemanagt hatte, aber ich war auch froh, dass ich auf diese Weise einer Überdosis Jo entging.
Eines Tages Ende April stand sie dann einfach vor meiner Tür. Zur Begrüßung umarmte sie mich stürmisch. Dann stellte sie sich vor mich hin, drehte sich und zeigte dabei ihre teuren Klamotten. Ein Markenteil über dem anderen.
„Tja, Australien hat sich gelohnt, wie man sieht“, lachte sie und schüttelte ihre wilde, dunkle Mähne, um die ich sie schon immer beneidet hatte.
„Los, mach dich schick!“, befahl sie und schob mich ins Bad. „Ich lad dich ein und erzähl dir dann alles.“
Ich war einigermaßen befremdet. Und enttäuscht. Ich wollte sie vom Flughafen abholen. Und war das Allererste, worüber man nach über einem Jahr reden musste, wirklich, welche tollen Kleider man sich leisten konnte? Was war das für ein Auftritt gewesen?
Und zu mir hatte sie gar nichts gesagt. Na ja, was sollte sie auch sagen? Ich trug immer noch die gleichen Levis wie im letzten Jahr und dass meine Haare jetzt schulterlang waren und es mir ganz gut stand, war