Rose of India. Eveline Keller
sich hin, verzog den perfekt geschminkten Mund zu einigen Lockerungsübungen und atmete tief durch. Ein letztes Mal kontrollierte sie ihr Make-up, zupfte eine Strähne zurecht und puderte sich die Nase.
„Harry, hast du mich im Bild?“
Er bejahte und sie zählte an: „Zwei, eins, null: Guten Abend, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer …“ Sie machte eine Einleitung, erzählte vom unbekannten Toten auf der Baustelle des Wellnesscenters und stellte den Pressesprecher der Polizei vor. Amber hielt sich im Hintergrund.
„Weiß die Polizei schon mehr über den geheimnisvollen Toten auf der Baustelle?“
„Der Mann trug keine Papiere bei sich. Er war stark alkoholisiert. Da die Baustelle abgelegen ist, geht die Polizei davon aus, dass er nicht alleine dahingekommen ist. Wir bitten deshalb um sachdienliche Hinweise. Wer kennt diesen Mann? Wer hat ihn gesehen, vielleicht sogar in der Nähe der Baustelle? Bitte wenden Sie sich an die Kriminalpolizei Zürich oder an die nächste Polizeidienststelle.“
Die Kamera schwenkte zurück zur Moderatorin.
Nach fünf Minuten war der Dreh fertig und sie blickte am Objektiv vorbei auf Harry:
„Hast du alles im Kasten?“
Der nickte. Die Aufnahme würde nach den Lokalnachrichten, zur besten Sendezeit, gezeigt werden.
Die TV-Leute und der Polizeisprecher verabschiedeten sich. Amber ging in ihr Büro und suchte in ihrem Schreibtisch nach Schokolade, einer Lindorkugel oder einem Minörli, das hatte sie immer für alle Fälle vorrätig. Fündig geworden, ließ sie die Praline genüsslich auf ihrer Zunge zergehen und begann die Notizen mit den inzwischen übermittelten Fotos des Tatortes zu sortieren und sie einem möglichen Tatablauf zuzuordnen.
Der Fremde war fünfundzwanzig Meter auf allen vieren gekrochen, das zeigten die Spuren am Boden. Reifenspuren eines Fahrzeugs, dessen Vorderrad links dünner war, ein Reserverad wahrscheinlich, hatten sie zu Beginn der Kriechspur gefunden. Daneben relativ gut erhaltene Abdrücke von spitzen Schuhen, wie etwa Cowboystiefeln, und von kleineren, vielleicht Damenschuhe. Beides war unübliches Schuhwerk auf einer Baustelle. Konnte auch von Besuchern stammen, oder …
Betreten schaute sie auf die ineinander verschlungenen Blümchen und Herzchen, die sie auf ihre Notizen von Davids Aussage gemalt hatte. Gedankenverloren strich sie darüber. Was treibt David überhaupt? Wie viele uneheliche Kinder hatte er inzwischen? Er war doch damals abgehauen und in der Welt herumgereist. Warum war er zurückgekommen? Nahm er immer noch Drogen? Fragen ohne Ende stiegen in ihr wie aus dem Nichts auf.
Deformation professionelle! Wie ferngesteuert flogen ihre Finger über die Tastatur, riefen seine Personaldaten ab, das Strafregister und die Einwohnermeldebestätigung. Plötzlich sprang sie auf, als hätte man sie mit den Fingern in der Schokoladencreme erwischt. Was tat sie da! War es wirklich notwendig, Maler zu überprüfen? Oder war sie in ihr altes Stalker-Verhalten zurückgefallen? Was für ein Gefühlschaos!
Nein, sie musste ihn überprüfen. Vielleicht hatte er seine Hände in illegalen Geschäften. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie sich ausgerechnet auf der Kreuzfahrt wieder begegnet waren.
6.
Vor über neun Monaten war Ambers größter Wunsch, eine Kreuzfahrt durch den Indischen Ozean zu machen, tatsächlich in Erfüllung gegangen. Und zu Beginn fühlte sich alles an wie ein Traum. Sie war gerade frisch verliebt. Noch nie war es mit einem Mann so lustig und abwechslungsreich im Bett gewesen. Raul, der ein echter Glückstreffer zu sein schien, hatte für sie beide gebucht. Sie wollte sich während der nächsten zwei Wochen, ausschließlich ihrem neuen Schatz widmen, und er sich nur ihr.
Das Reiseprogramm versprach zudem einiges an Unterhaltung. Sie würden in Ägypten an Bord gehen, vom Roten Meer in den Golf von Aden fahren, am Horn von Afrika vorbei, nach Karachi und dann der Küste folgen, bis nach Bombay. Landgänge wurden geboten, sie konnten berühmte Hafenstädte besuchen, orientalische Basare leerkaufen und Museen besichtigen. Nach dreizehn Tagen würde die Reise in Bombay enden, und nach einer Übernachtung im Hotel, würden sie nach Hause fliegen.
Hätte sie geahnt, welch folgenschwere Ereignisse sie erwarteten, wäre sie wohl nie an Bord gegangen.
Am Morgen vor dem Flug brachte Amber eine aufgeregte Melanie mit ihrer kichernden Freundin Sara zum Bahnhof. Die beiden reisten in ein zweiwöchiges Kletterlager in den Bieler Jura.
Dann fuhr sie direkt zum Flughafen, flog nach Kairo und von da aus nach Hurghada. Sonnenschein war hier garantiert, das war nach dem verregneten Sommer in der Schweiz genau das Richtige. Ein Taxi brachte sie an den Pier. Wo sie mit Freudentränen in den Augen vor dem strahlend weißen Schiff stand und ihr Glück kaum fassen konnte.
Die MS Salander war kein Riesenschiff, dafür aber mit vielen Extras ausgestattet. Denn man legte ebenso Wert auf genügend Platz für die Passagiere wie auf einen tadellosen Service. Ihre Platzzahl war gewollt beschränkt, für luxusverwöhnte Gäste, die gerne Ferien unter ihresgleichen machten.
Amber würde sich nach allen Regeln der Kunst verwöhnen lassen. Faulenzen stand ganz oben auf ihrer Wunschliste; sich das herzhafte Lachen wieder zurückholen, das ihr im Alltag abhandengekommen war, gleich danach, und dazu würde sie sich eine knackige Bräune besorgen. In ihrem Liebesnest, der Honeymoon-Suite, würde sie all das nachholen können, was sie bisher vermisste. Falls sie Abwechslung suchte, bot die Wellness-Oase alles, was das Herz begehrte. Massagen, wo sie sich in Honigcreme aalen, den schlaffen Körper in Heilschlamm beleben oder sich nach dem Dampfbad mit Mandelöl beträufeln lassen konnte. Stand ihr trotzdem der Sinn nach etwas Nervenkitzel, könnte sie sich im Spielcasino die Zeit vertreiben.
Einziger Wermutstropfen war, dass Raul mit einem anderen Flug anreiste, damit seine Noch-Ehefrau, von der er sich bald trennen würde, nichts merkte. Er hatte die Teilnahme an einer „Internationalen Konferenz der Hersteller von künstlichen Hüftgelenken“ als Grund für die Reise vorgeschoben.
Amber verliebte sich auf Anhieb in die romantische Suite mit kleinem Entree, stilvoll eingerichtetem Wohn- und Schlafraum mit Himmelbett, großen Fenstern und einem kleinen Balkon. Ein Schrankzimmer und Badezimmer rundete das Ganze ab.
Nachdem sie ihre Sachen eingeräumt hatte, duschte sie, cremte sich mit einer nach Orangen riechenden Lotion ein und flocht sich violette und weiße Bänder ins natürliche schwarze schulterlange Haar. Sie schlüpfte in ein hellbeiges Mieder, mit lila Spitzen am Dekolleté und Strumpfhaltern, dazu zog sie rosaseidene Strümpfe an. Prüfend drehte sie sich vor dem bodenlangen Spiegel. Ihre Brust wurde nach oben gepresst, die schlanke Taille lenkte den Blick auf die runden Hüften und die hübschen Beine, Sandalen mit hohen Absätzen dazu machten es komplett. Sie sah aus wie eine Rokoko-Puppe, verspielt und sehr sexy.
Zufrieden legte sie sich aufs Bett, blätterte in einem Magazin, wählte ein Abendessen von der Menükarte aus und wartete. Minuten reihten sich zu Stunden und Ambers erwartungsvolle Hitze kühlte sich immer mehr ab. Sie versuchte Raul auf dem Handy anzurufen, erreichte jedoch nur seine Mailbox. Sie begann zu frösteln in der leichten Wäsche. Schließlich griff sie sich resigniert ein buntes Cocktailkleid aus dem Schrank, zog es an und gesellte sich zu den anderen Gästen, die sich zum Begrüßungs-Apéro in der Messe versammelt hatten.
Inzwischen hatte die MS Salander unter begeistertem Beifall abgelegt. Der Kapitän hielt eine kurze Rede, hieß alle herzlich willkommen und machte die Gäste miteinander bekannt. Diese kamen aus allen Teilen Europas, von Russland und Norwegen bis Portugal und der Türkei. Die entstehenden Gespräche wurden, je nach Sprachkenntnissen, mit Gesten reich untermalt und liefen meist auf eine Aufzählung verschiedener Feriendestinationen hinaus.
Amber war nur mit halbem Herzen bei der Sache und eben im Begriff, sich nochmals aus der Bowle zu bedienen, als sie ein bekanntes Gesicht erblickte. War das wirklich David Maler; und wer war die schwangere Frau an seinem Arm? „Möchtest du dich setzen? Wäre es nicht bequemer, wenn du die Füße hochlegen könntest? Magst du noch einen Gemüsedip? Nein, kein Salzgebäck, das schadet dir in deinem Zustand.“
Der ehemalige Partylöwe trug seine Frau praktisch auf Händen. Alle waren entzückt von den beiden - bis