Katholisch...oder?. Oliver Grudke
zur Arbeit gingen und danach auf die Couch und hier sah er eine Masse an Menschen in eine dunkle Kirche strömen. Und dass, obwohl die katholische, aber auch die evangelische Kirche ständig über angeblichen Mitgliederschwund klagten. Dies traf jedenfalls nicht auf Hechingen zu.
BB, RV, RT, TÜ, RW, Dr. Kanst las die Autokennzeichen, als er sich durch die parkenden Wagen zwängte.
Fest stand, es waren nicht nur Hechinger in der Kirche, wenn überhaupt. Es musste etwas Besonderes sein. Dr. Kanst blieb stehen und faltete seinen zerknüllten Flyer aus. Dort stand:
„Immer am 23. jeden Monat: ARSI-TAG im Spittel Hechingen - Komm auch DU!“
Das mulmige Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte, wurde stärker. Ob es an der Tatsache lag, dass er Jahre keinen Gottesdienst mehr besucht hatte. Die Heiligen Abende ausgenommen.
Dr. Kanst überquerte die Straße und reihte sich in die kleine Schlange ein, welche sich durch die Seitentür der Kirche zwängte.
Ein sehr dicker Mann mit hochrotem fleischigem Kopf stand wie ein Security-Mitarbeiter an der Tür und hielt diese auf. Offensichtlich kannte er die meisten Besucher, da er fast alle mit einem Handschlag begrüßte.
„Komm schnell rein, gleich geht es los!“ Dr. Kanst bekam auch einen ekligen feuchten Händedruck und einen kleinen Klaps auf die Schulter.
Kannte dieser Mann ihn? Er konnte sich jedenfalls an diesen nicht erinnern, und doch wurde er mit „du“ angesprochen.
Der Innenraum der Kirche war dunkel. Überall auf den Bänken standen kleine blaue Teelichter und auch vorne rechts leuchtete etwas Blaues. Es gab fast keinen Platz mehr und dies unter der Woche!?
Ganz hinten, in der zweitletzten Bank ganz außen rechts bekam er noch einen Platz. Als er sich setzte, bemerkte er, dass es wohl doch eher ein halber Platz war. Die ältere Frau neben ihm kaute und schmatzte an einem Menthol Hustenbonbon herum. Ein ekliger Geruch von Menthol und cremigen Salben benebelte seine Sinne.
Was tat er hier?
„Rita!“, schoss es ihm durch den Kopf und dann trat er auch schon aus der Bank und ging zielsicher auf den Beichtstuhl zu, welcher rechts am Kirchenschiff in die Wand eingelassen war. Wann war er zum letzten Mal bei der Beichte? Bei seiner Kommunion? Wahrscheinlich, ja! Halt, da gab es ja noch etwas …
„Firmung! Genau, dort war ich das letzte Mal!“ Diesen Satz sprach Alex unkoordiniert und schon etwas laut vor sich hin, was ihm ein Allseitiges „Pssssst!“ einbrachte.
Instinktiv senkte er den Kopf, als würde dies ein Zeichen für Reue und Demut sein. Er überlegte, was man wohl bei einer Beichte tun musste. Da gab es Regeln! Ja genau und nun war er schon etwas stolz. Denn in seinem weinroten Gotteslob befand sich noch immer der Beichtspiegel! Ein kleines Heftchen, wo genau beschrieben war, wie eine Beichte abzulaufen hatte.
Jetzt stand er am Beichtstuhl, welcher aber keine Klinke hatte. Sollte er? Konnte er? Was, wenn da noch jemand drin war seine Sünden erklärte. Dr. Kanst suchte die Tür ab nach einem „Frei“- Zeichen oder so was ähnliches. Nichts! „Also dann!“, dachte er und wollte gerade an der Tür ziehen, wo in sehr schlechter Schrift ein Zettel klebte: Heute Beichte“, als er hinter sich wieder ein „Psst“ hörte.
Er hatte ja nichts gesagt also konnte dies nicht ihm gelten.
„Psst, he!“ Er drehte sich um und blickte in die verweinten Augen einer sehr dicken Frau. Diese deutete auf die zweite Reihe vor ihr und flüsterte:
„Hinten anstellen!“
Nun blickte auch der Psychologe in diese Richtung. Meinte die Frau etwa? Nein, dies konnte nicht sein! Sicherlich nicht!
„Entschuldigung, bitte?“ Dr. Kanst hatte sich etwas zu ihr heruntergebeugt und konnte nun schon wieder einen Geruch von Menthol wahrnehmen.
„Hinten anstellen! Zuerst diese Reihe, dann die vor uns und dann die erste!“, zischte nun diese und schaute weiterhin starr an den rechten Rand des Triumphbogens, welcher das Kirchenschiff und den Chorraum trennte.
Dr. Kanst traute seinen Augen nicht. Das mussten mindestens 75 bis 80 Menschen sein, die hier auf die Gelegenheit zum Beichten warteten. Plötzlich bekam er die Tür zum Beichtstuhl in den Rücken gestoßen. Ein älterer weißhaariger Mann zwängte sich mit ebenfalls verweintem Gesicht aus dem Beichtstuhl. Dann wurde er von der Dicken, Alten in die andere Richtung geschubst, als diese sich an ihm vorbei in den Ort der Sündenreinigung zwängte.
„Sehr christliches Verhalten“, dachte noch Alex, als ein lauter Gong durch die Kirche klang und gleichzeitig ein Beamer blaues Licht auf eine Leinwand strahlte.
„Ein Beamer in der Kirche?“
Als das Geräusch verklang, reckten plötzlich alle ihre Arme in den Himmel und in einem dumpfen Dröhnen riefen nun alle: „Aaaaaaaarrrrrrrrsiiiiiiii!“
Und tatsächlich, vorne, wo eigentlich die Statue der heiligen Maria immer stand, protzte jetzt eine lebensgroße Gipsstatue von Darth Vader alias Arsi.
„Komm glei goat´s loß. Do sitz de na. I han dr no an Platz!“, sagte nun der dicke Türsteher auf tiefem Schwäbisch und Alex wurde in die fünfte Reihe von vorne platziert. Direkt am Mittelgang.
Eigentlich hatte er beschlossen, die Kirche zu verlassen. Rita hin oder her. Morgen war ja auch noch ein Tag, aber jetzt wurde es schwer, mitten im beginnenden Gottesdienst demonstrativ die Kirche zu verlassen.
Dafür hatte er nun einen ungehinderten Blick auf die Leinwand, welche Bilder von der „Arsiwallfahrt 2015“ zeigte. Menschenansammlungen, Tränen, Gipsfiguren und jede Menge Priester. Alex Kanst fragte sich, wie man seinen Urlaub an einem solchen Ort verbringen konnte. Die Bilder wurden von melancholischer Musik aus einem CD-Player untermalt.
Am rechten Rand des Triumphbogens rückten nun zwei Musikerinnen, die eine eindeutig eine Asiatin, mit Gitarren ihre Stühle zurecht. Offensichtlich gab es noch Live-Musik, und dies nicht wie üblich von der Orgel.
Eine kleine Glocke über dem Eingang zur Sakristei verkündete den Beginn, und wie üblich in einer katholischen Kirche, standen die Gläubigen auf, auch Alex. Der Priester, oder besser gesagt die Priester, es waren nämlich drei, betraten durch den Eingang der Sakristei das Kirchenschiff und machten vor dem Tabernakel eine Kniebeuge, bevor sie sich alle einen Platz suchten. Es waren zwei Afrikaner und der eine, der am Sonntag bei Alex die Erotik zum Einfrieren gebracht hatte. Ministranten gab es nicht. Sicherlich, die mussten ja zur Schule und sollten jetzt dann bald auch im Bett sein. Plötzlich kam noch einer aus der Sakristei. Dieser Mann war nun schon eher hager, aber größer als die anderen. Er trug eine graue Kutte und hatte seine Schärpe quer über dem Körper.
Nach anfänglichem Geklimper begann nun die Asiatin in fast schreiendem Ton mit Gesang:
„Nur du bist meine Mutter, du, nur du …“, sang diese vor und alle lautstark mit. Der Inhalt der ersten Strophe war mit den drei oder vier Worten schon erledigt, sodass die Strophe immer wieder von Neuem angestimmt wurde. Plötzlich sangen alle in einer fremden Sprache, doch die Melodie blieb gleich.
Dann Stille!
Der weiße Priester nickte dem Mann in der grauen Kutte zu. Andächtig schritt dieser auf den Hochaltar zu, nickte kurz und trat dann an das Ambo.
„Im Namen des Vater, des Sohnes und des Heiligen Geistes!“, begann dieser in das knisternde Mikrofon hineinzurufen.
„Nun ist es schon wieder einen Monat her, dass wir uns hier versammelt haben. Lasst uns nun gemeinsam diesen Gottesdienst feiern. Im Anschluss werden wir noch das Allerheiligste aussetzen und es besteht noch die Möglichkeit, bis 21.00 Uhr im stillen Gebet bei Gott und unserer Arsi zu verweilen.“
„Bis 21.00 Uhr! Ja nie!“, dachte Alex und erwog verschiedene Möglichkeiten, die Kirche zu verlassen.
Das nächste Lied wurde angestimmt und Dr. Kanst bemerkte, dass man heute wohl kein Gotteslob mehr benötigte, denn die Lieder wurden einer Karaoke Box gleich über den Beamer angezeigt.
Der