Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart. Florian Juterschnig
dich damit nicht weiter langweilen.
Ich muss hier nun schließen, obwohl ich euch doch alle sehr vermisse. Aber Gott sei Dank, wir fahren nach Smarberg. Am Nationalfeiertag. Da kann ich euch dann natürlich mehr erzählen. Ich kann es wahrlich nicht erwarten, euch wiederzusehen. Grüß mir Mutti und Vati, und meinen lieben Richard natürlich. Herzlich eure Maggy, Heil der Freiheit.“
Glücklich und in Erwartung des Kommenden faltete Maggy den Brief zusammen. Sie vermisste ihre Familie schrecklich, doch es gab im Leben nichts Schöneres für sie, als eines der berühmten Akademiemädchen zu werden.
Maggy vergaß ein wenig die Zeit und geriet ins Träumen.
Bald würde sie wieder in Smarberg sein, mit all seinen großen Stadthäusern und den vielen Menschen, die ihren Geschäften nachgingen. Und dann, dann würde sie endlich ihre geliebte Familie in die Arme schließen. Vielleicht war auch genug Geld da für Kuchen und Kaffee in dem kleinen, aber unheimlich gemütlichen Wohnzimmer.
Selbst abends im Bett schien der Ausflug Maggy noch beschäftigen. „Anne, Anne!“
„Ja … hmm … Maggylein, was ist denn?“
„Freust du dich denn plötzlich nicht mehr auf den Ausflug?“
„Maggy, es ist mitten in der Nacht! Dass dich die Politik und der Krieg so faszinieren!“
„Wer redet denn vom Krieg? Ich meine die Paraden, die Kaffeerunden und überhaupt all die Pracht.“
„Du freust dich wohl auf deine Familie, hmm?“
„Ja, ich hoffe, es gibt einen netten Nachmittagstisch mit Bohnenkaffee und gezuckerter Torte.“
„Du hast Ansprüche, ich bin froh, wenn jemand zu Hause ist.“
„Das verstehe ich nicht, freust du dich denn nicht?“
„Doch, schon. Ich weiß nicht, seit dem Krieg ist eben vieles irgendwie anders geworden.“
Gewiss, Anne war verschlafen, dennoch konnte Maggy es meistens nicht nachvollziehen, wenn jemand nicht im selben Maße vor Begeisterung sprühte wie sie.
An jenem Abend, als Maggy in ihrem warmen Bett von den Schönheiten der Nation und dem großen Nutzen des Krieges träumte, kam ihre Schwester mit einem von der Westfront nach Strömstädt fahrenden Lazarettzug am Hauptbahnhof in Smarberg an. Kaum hatte die Dampflokomotive unter wildem Schnauben angehalten und den Bahnsteig mit weißem Rauch geflutet, stürzten schon Scharen von wartenden Soldaten und Sanitätern hinzu. Dort wurde gerade noch Gehfähigen aus dem Zug geholfen, da musste man helfen, Schwerstverwundete auf Bahren auszuladen. Ehefrauen und Mütter fielen tränenüberströmt ihren Liebsten in die Arme, viele standen mit leerem Blick da, wohl wissend, dass der Sohn oder Bruder nicht dabei war, nie wieder zur Tür hereinkam. Eine sichtlich abgekämpfte Oberschwester stand in der offenen Tür des ersten Wagens und füllte einem Heeresarzt, der sie ununterbrochen anschnauzte, in aller Eile Transportpapiere aus. Einem der Waggons voller Sterbender entstieg eine junge Frau. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar und ein für ihr Alter liebliches Kindergesicht. Davon merkte man nun allerdings wenig. Tiefe Augenringe und Kummerfalten durchzogen das Gesicht, sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten; ihre Haare hingen schlaff und ungepflegt über die verschmierte Uniform. Verwirrt wandte sie sich um und atmete einige Male tief durch. Unweit des Bahnhofstores an einer Hausmauer sank sie zusammen. Benommen betrachtete sie die dunkle, schlafende Stadt vor ihr. Hier sah alles nach tiefstem Frieden aus, die Front war weit weg, vielleicht auch ein Grund, warum der Krieg hier niemanden störte. Ohne das Gesehene zu vergessen, marschierte sie durch die verwinkelten Gassen, vorbei an den eingemauerten Denkmälern, den geschlossenen Kneipen und Cafés, den abgebauten Straßenbahntrassen. Mittlerweile hatte man die Kupferkabel durch Eisendrähte ersetzt. Ebenso war mit dem Spaten mühsam die Straße aufgerissen worden, um an die wertvollen Leitungen aus Kupfer zu kommen. Schaute man genauer hin, so bemerkte man eben doch all die Einschränkungen dieser Tage, obwohl hier gottlob noch keine Bomben fielen.
So wankte sie nach Hause, lief mehrere Male in andere Fußgänger hinein und entging nur mit einigem Zureden einem Volkspolizisten. In der stillen Seitenstraße, die sie ihr Zuhause nannte, Kapistranring 6, stand sie lange vor dem alten blauen Haus und starrte auf die verdunkelten Fenster, bevor sie sich entschloss, hinein zu schleichen, ins Bett zu fallen und ihre schmerzenden Füße endlich auszuruhen. Sie quälte sich die Stiege hinauf bis in den ersten Stock, schloss langsam die weiße Holztür auf und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Zu ihrer Überraschung brannte Licht. Das Radio lief.
„20 Uhr und 3 Minuten. Reichssender Smarberg und die angeschlossenen Sender. Es folgt der Heeresbericht für Freitag den 4. Mai 1962, aus dem Großen Generalstab in Smarberg. Das Oberkommando des Heeres gibt bekannt: Der Kampf um Tarjowitze ist zu Ende. Ihrem Fahneneid getreu ist die 4. Armee, unter der vorbildlichen,,,Führung,,, ihres,,,
Generalfeldmarschalls Brandt, der feindlichen Übermacht erlegen. Ihr Schicksal wird von einer Flakdivision der bergischen Luftwaffe, zwei Feldkompanien der Volkspolizei und einem Regiment aus Baden geteilt. Ihr Opfer möge als unvergleichliches Beispiel soldatischen Heldenmutes gelten und wird jetzt in dieser schweren Stunde, wie auch über den Sieg hinaus, unvergessen bleiben.“
„Möge das Schicksal General Brandts und seiner Soldaten der Jugend eine Lehre sein“, murmelte Richard Stuart, als er das Radio abstellte.
Die Aufmerksamkeit galt sofort wieder seiner völlig aufgelösten Mutter, die zwischen einigem Unrat am Esstisch in der kleinen Küche saß und bitterlich weinte, wenn sie nicht gerade von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt wurde. Mehr als einige tröstende Worte konnte er nicht spenden. Die Mutter erhob ihr gutmütiges, faltiges Gesicht aus der geblümten Kleiderschürze und trocknete ihre Tränen, während sie ein wenig abwesend gegen die Wand starrte.
In diesem Moment knarrte die Wohnungstür, und die junge Frau stolperte herein. Sie zupfte nervös an ihrer Krankenschwesternuniform und fuhr sich immer wieder abwesend durch das lange braune Haar. Abwartend beobachtete sie die Szenerie am Küchentisch. Sie warf ihre Tasche in eine Ecke und legte ihrer zitternden Mutter die Hand auf die Schultern. Ihr Blick galt Richard.
Dieser stand wortlos auf, und die drei umarmten sich, wissend, dass die kleine Familie nun würde noch enger zusammenrücken müssen. Für einen Moment war die triste kleine Wohnung von einem tiefen Frieden erfüllt. Dann nickte die Mutter anerkennend, trocknete ihre Tränen und zog sich immer noch hustend und räuspernd in ihr Schlafzimmer zurück.
„Was hat sie denn nur?“
„Ich weiß es nicht, das geht jetzt schon seit Tagen so, wird nicht besser. Die Meldungen von der Front hast du ja wohl gehört.“
Elisa setzte sich an den Tisch und begann, eine Zigarette zu drehen. Sie lächelte Richard nur an.
„30 Schwerverwundete, keiner über 18 Jahre, und das nur heute als Neuzugänge. Sei glücklich, solange du nur Wachdienst schieben musst, du und dein Scheißkrieg.“
„Und wenn ich auch nur Wachdienst schiebe, ich würde und ich werde sofort an die Front gehen, wenn man es mir befiehlt. Was kann denn die Armee dafür, wenn die Politiker über alle Grenzen gehen?“
„Die Soldaten können tapfer kämpfen, das ganze Volk kämpft. Aber leider haben wir … eine Regierung, die das Volk zu neuer Größe führen wollte und es nicht einmal in seinem Bestehen sichern kann.“
Richard tippte sich an die Stirn. „Ein Umsturz, oder was? Und wer soll das wiederum verantworten? Du vielleicht?“
„Nein. Aber du mit deinen Kameraden …“
Richards Augen wurden groß. Elisa stand auf, blickte skeptisch in Richtung des Schlafzimmers und ging dann ganz nah an ihren Bruder heran. „Vater ist tot. Vater ist tot. Der kommt nicht wieder. Also wann, wenn nicht jetzt!“ Die beiden sahen zum großen Familienfoto, von dem sie ihr Vater in seiner Offiziersuniform streng anblickte.
Trotz der beunruhigenden Nachrichten von der Front war man auf dem Haus des Studentenkorps Urania an diesem Abend in bester