Keinen Schritt zurück! - The sad story of brave Maggy Stuart. Florian Juterschnig
sich irgendwie wichtig, sie glaubte, etwas Besonderes zu sein. Das dachten die meisten Mädchen auf ihrer Schule den ganzen Tag über, sie aber hatte immer gehofft, einfach ein ganz normales Mädchen zu bleiben, das eben auf eine gute Schule ging, um ihre Eltern stolz zu machen.
Aber wenn man hier einfach so durch die Regierungsgebäude marschieren konnte und zur Abwechslung statt dem abgewetzten Uniformhemd schöne Kleider trug, dann spielte auch sie mit dem Gedanken, vielleicht irgendwie ein bisschen dazuzugehören.
Es kam ja nicht jeder auf die Akademie, obwohl man fast immer in irgendeiner Art von Jugendorganisation aufgefangen war.
Später an diesem Tag überdachte sie das wieder. Sie waren an einem Straßenkind vorbeigelaufen, und sie hatte versucht, dem armen verdreckten Jungen einen Keks aus ihrer Tasche zu geben. Schwester Edda hatte sie unsanft zurückgerissen und den Kleinen fortgejagt. Sie hingegen verstand nicht, warum es überhaupt Straßenkinder in diesen Zeiten geben konnte.
Maggy und ihre Mädchen verbrachten den Nachmittag am Strand der alten Stadt. Nach dem anstrengenden Programm hatte ihnen Schwester Edda, um die Disziplin zu wahren, einige Stunden zur Verfügung gestellt, um sich in dem verwinkelten und lebhaften Hafenviertel mit Mitbringseln und Süßigkeiten einzudecken.
Irgendwann liefen die Mädchen dann barfuß, die Uniform brav in Reih und Glied abgelegt, über den schmalen Kiesstrand direkt unter der Hafenmauer, warfen Steinchen, planschten ein wenig oder sahen den Schiffen zu, wenn sie hinter dem Horizont verschwanden. Die Möwen kreischten, und Maggy genoss die Seeluft.
„Na, Maggy, meinst du, ist dein verspäteter Brief schon hier in der Stadt angekommen?“ Anne spritzte ein bisschen in ihre Richtung.
„Ach, ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber die warten ohnehin mit Kaffee und Keksen auf mich … hoffe ich jedenfalls.“
„Wenn du nicht geschrieben hast, dann wird man bei dir zu Hause wahrscheinlich glauben, du schwingst weiter auf der Akademie die Regimentsfahne. Du bist schon ein Kasperle.“ „Kann schon sein“, sagte Maggy und warf weiter Steine, als plötzlich eine lebhafte Wasserschlacht zwischen den Mädchen ausbrach und Schwester Edda sie nur unter Mühe wieder einfing.
Elisa fragte sich unterdessen, ob es eine schlaue Idee gewesen war, die streitsüchtige Mutter wieder lange alleine zu lassen und im alten Hafenviertel zu bummeln. Aber nach den Vorfällen der letzten Tage schien es ihr nur vernünftig, bei Lotte Rat zu holen.
„Hältst du es wirklich für eine gute Idee, jetzt, wo die Feierlichkeiten anstehen, einen Umsturz anzuzetteln?“
Sie wichen einem gruseligen, dickbauchigen Händler mit Forellen aus und schwenkten auf den Kai ein.
„Ach, Lotte, wer redet denn schon wieder von Umsturz? Ich möchte einfach jetzt, wenn sowieso alle zusammenkommen, um den Staat zu feiern, Anstöße für die Zukunft geben. Roald hat recht, vielleicht lässt man sich ja wirklich auf ein friedliches Umdenken ein.“
„Erzählst du das so den Leuten, die bei der Volkspolizei im Folterkeller einsitzen?“
„Nein, aber vielleicht denen, die über die Volkspolizei bestimmen.“
„Eine Revolution ohne Gewehre? Das glaub ich dir nicht, dafür bist du mir viel zu kämpferisch.“ Sie stieß Elisa lachend in die Seite.
Die Mädchen lehnten sich über die Brüstung der Hafenmauer und steckten sich fröhlich Zigaretten an.
„Natürlich bin ich für einen richtigen Aufstand. Richard hat sogar angedeutet, dass die Armee eventuell die Regierung aus dem Weg räumt, bevor wir den Krieg verlieren. Aber wir sind viel zu kleine Leute, um da mitzuspielen. Das muss jemand machen, der eine reale Chance hat.“
„Die Alliierten?“
„Find ich gar nicht lustig!“
„Tut mir leid.“ Lotte vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer roten Weste, und sie blickten eine Zeit lang wortlos aufs Meer.
„Nein, so war das auch nicht gemeint, aber der Schlag muss von innen kommen.“
Lotte bekam große Augen.
„Du hast schon recht, dass wir viel zu klein und machtlos sind, um was zu ändern; aber vielleicht kann unser Beispiel ja die Leute animieren. Oder die, die Macht haben, werden auf uns aufmerksam und laden uns ein, mitzumachen.“
„Die werden genau auf dich warten.“
„Schau mal diese Akademiemädchen da unten, die da am Wasser spielen, zum Beispiel. Die sind nicht besser als die Parteijugend meines Alters. Die lernen zwar irgendwelche hohlen Phrasen und wie man lächelt. Aber das sind eben alles Ja-Sager. Nicht der denkende Teil des Landes. Von dort wird keine Revolution gegen einen falschen Kurs losbrechen.“
„Bist du nicht selber auf der Akademie gewesen?“, fragte Lotte.
„Ja, und meine Schwester ist jetzt auch dort. Aber das ist alles relativ sinnlos. Dort lernt man nur, wie man den von der Regierung verordneten Kurs mit Uniformen und Fahnen untermauert.“
„Wer regiert dann das Land? Wer sind die Einflussträger? Die Armee?“ „Nein, das sind auch nur zwischen Treueeid und Befehlsketten eingeklemmte Würmer, die, wenn es befohlen wird, auch gegen ihre eigene Logik handeln. Die wahre Macht liegt wirklich bei der Regierung, bei diesem kleinen Kreis aus Altgedienten rund um den Großen Vorsitzenden, die die Revolution damals angezettelt haben.“ Elisa starrte wieder gedankenverloren auf das Meer, sah einem Fischkutter beim Auslaufen zu.
„Dein Vater war doch auch Parteioffizier bei der Revolution! Er ist doch extra angereist, um hier mitzumachen, oder?“, fragte Lotte.
Elisas Blick wurde traurig, sodass Lotte gleich ein wenig zurückwich.
„Ja, er hat mitgeholfen; aber wurde auch nicht wirklich belohnt, sondern mit billigen Posten abgespeist. Er hatte Orden, aber kein Geld für ein ordentliches Essen am Tisch. Wahrscheinlich war er deswegen am Ende so frustriert.“
„Denkst du oft an ihn?“
Elisa wandte sich wieder dem Meer zu und steckte eine neue Zigarette an. „Ich weiß nicht. Ich meine, ich bin froh, dass er weg ist und nicht mehr wiederkommen kann. Aber wie klingt es denn, wenn man sich über den Tod des eigenen Vaters freut? Andererseits ist das vielleicht endlich die Gelegenheit.“
„Die Gelegenheit, mit deinen Geschwistern abzuhauen?“
„Abhauen? Nein – wenn, dann nur mit Maggy. Ich fürchte, Richard hängt zu sehr an allem. Nein, nicht abhauen, eher …Revolutionen auslösen gegen den Krieg!“
Lotte schüttelte amüsiert den Kopf. „Meine liebe Elisa, du bist ein 17-jähriges Stadtmädel, das sich als Hilfskrankenschwester und Parteihelferin irgendwie durchschlägt, in einem Land mitten in einer herrenlosen Gegend am Südatlantik, das es trotzdem innerhalb von drei Jahren geschafft hat, mit fast der gesamten restlichen Welt im Krieg zu sein. Wo ist deine Armee?“
„… und den Fortschritt der letzten 20 Jahre ignoriert hat. Ja, ich habe sie nicht. Aber was ist zum Beispiel mit der Urania. Die träumen immer von sowas, und da sind doch auch alte Generäle dabei, oder etwa nicht?“
„Nochmal, nicht so laut, sonst verpfeift uns irgendjemand.“
„Was ist, wenn uns der Fortgang des Krieges nicht nur die Chance nimmt, ihn selbst zu beenden, sondern überhaupt jede Zukunft. Und ein glückliches Leben?“
„Es ist ein wenig kalt und eng geworden in unserer kleinen Stadt. Du kannst versichert sein, ich unterstützte dich, wo ich kann. Wir finden einen realistischen Weg aus der Krise. Aber bitte halte dich noch zurück, zumindest, bis das verdammte Fest vorbei ist. Sonst passiert ein Unglück.“
Lotte wandte sich zum Gehen. Ratlos blickte Elisa noch eine Weile den Dampfern nach und überlegte, ob sie nicht selbst einfach mit dem nächsten Narrenschiff nach Europa türmen sollte.
Am Abend kehrten die Helden von Tarjowitze nach Hause zurück. Zumindest eine symbolische Hundertschaft. Vom beschlagnahmten